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Europa auf dem Weg in die
Sozialhilfe. Von Einschnitten und Auswegen. Die von der deutschen Regierung und den beiden Kammern des Abgeordnetenhauses beschlossenen Reformen der Arbeitsmarktpolitik markieren nach Jahren der wirtschaftlichen Depression für arbeitende Menschen einen vorläufigen Endpunkt. Kern ist eine Reduzierung der Versicherungsleistungen auf Sozialhilfeniveau und eine Entregulierung von Schutzmechanismen. Nächster geplanter Schritt ist die neuerliche Senkung der Pensionen. Nach Großbritannien zeigt Deutschland mehr als deutlich den Weg zukünftiger Sozialpolitik in Europa. Die Gegenwehr verläuft eher still, jedenfalls aber unabhängig von klassischen Vertretungsinstitutionen. TATblatt. Die rot-grüne Regierung Deutschlands hat es doch noch geschafft, die Menschen, wenn auch ungewollt, sichtbar zu mobilisieren. Was bisherige Aufklärung und revolutionäre Sprüche nicht vermochten, geschah angesichts der einhelligen Gesetzesbeschlüsse von SPD, Grünen, FDP und CDU/CSU zur Demontierung des Sozialstaates. Landesweit agitierten viele neu gegründete Initiativen, die es Anfang November letztlich zu einer Großdemo mit 100.000 Teilnehmenden brachten. Abschiebung in die Sozialhilfe. Seit 1991 sinkt die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland kontinuierlich, in Westdeutschland zwischen 1991 und 2000 um 1,7 Millionen. Die Entindustrialisierung Ostdeutschlands mit gleichzeitigem eklatanten Bevölkerungsverlust schlägt ohnehin alle Rekorde. Vor diesem Hintergrund gibt es schon seit Jahren eine hohe Sockelarbeitslosigkeit, die zu einem völligen und endgültigen Ausschluß großer Teile der Arbeitslosen aus dem Erwerbsleben führte. Die jetzt beschlossenen Gesetze anhand des sogenannten Hartz-Papiers zielen auf einen Umbau des Gesamtsystems in Richtung Fürsorgeleistungen nach Abschöpfung aller sonstigen materiellen Quellen, etwa von Verwandten oder eigenem Vermögen, ab. Die bisherige Arbeitslosenhilfe wird in eine Alg II genannte Sozialhilfeleistung umgewandelt, während die Regeln für die eigentliche Sozialhilfe weiter verschärft werden. Gleichzeitig damit werden Kündigungs- und Vermittlungsregeln zum Schutz der Arbeitslosen eliminiert. Die Maßnahmen im einzelnen. Das Gesetz reduziert nun den Dauer des Bezuges von Arbeitslosengeld und den Kündigungsschutz bei Arbeitsverhältnissen. Die Arbeitsämter werden zu Fürsorgeämtern umgebaut. Das Budget für Bildungsmaßnahmen für Arbeitlose nähert sich Null. Das Arbeitslosengeld, eine Versicherungsleistung, wird zu einer Alg II-Fürsorgeleistung. Der Bezug von Alg II wird an die halbjährliche Beantragung geknüpft, sowie an Unterhaltsleistungen durch PartnerInnen im Haushalt, aber auch an jene der Eltern oder Kinder. Das ist ähnlich der Notstandshilfe in Österreich, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, daß bei der Notstandshilfe nur das Einkommen von im Haushalt lebenden Angehörigen berücksichtigt wird. Regreßansprüche an Eltern oder Kinder gibt es bei uns nur bei der Sozialhilfe in einigen Bundesländern, etwa Niederösterreich, nicht jedoch bei der Notstandshilfe. Um Alg II zu bekommen, wird zukünftig zunächst das verwertbare Vermögen, etwa Sparguthaben, verbraucht werden müssen. Für Beziehende von Alg II gibt es keine Zumutbarkeitsregelung, sie müssen alles annehmen, auch geringfügige Beschäftigungen, selbständige Tätigkeit oder "im öffentlichen Interesse liegende zusätzliche Arbeiten", das ist nach bisheriger Praxis Zwangsarbeit für Gemeinden zum Hungerlohn von etwa einem Euro pro Stunde. Alg II wird in seinem Leistungsniveau teilweise unter jenem der richtigen Sozialhilfe liegen, da in Sozialhilfegesetzen vorgesehene Zuschüsse, beispielsweise für erhöhte Wohnkosten, dezidiert ausgeschlossen sind. Alg II-Beziehende müssen in Zukunft Sonderleistungen beim Sozialamt beantragen, was auch in Österreich so ist, wenn das Existenzminimum unterschritten wird. Arbeitslose müssen eine Leistungsvereinbarung unterschreiben, die sie zum Freiwild für Schikanen machen. Als Maßnahmen zur Bestrafung sind vorgesehen, die Geldleistungen in reine Sachleistungen oder die Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen umzustellen. Die schon bisher exzessive Anwendung von Sperrzeiten zur Schikane und Aussteuerung von Arbeitslosen zur Bereinigung der Statistik wird weiter zunehmen. In diesem Punkt sind die Möglichkeiten von Schikanen in Deutschland unvergleichlich vielfältiger zu jenen in Österreich. Agenda 2010. Die Maßnahmen gegen Arbeitslose sind nur ein Teil eines Programms zur Reduzierung sämtlicher Leistungen auf die Höhe der Sozialhilfe und darunter. Als nächstes steht die Pensionsreform an. Seit der 1991 für einen Idealpensionisten gesetzlich definierten Pension von 70% des Einkommens wurde dieses Niveau bereits durch zwei Änderungen auf zunächst 64% und derzeit 54% gesenkt. Nun werden in kürze die Sozialversicherungsbeiträge und die effektiven Steuersätze angehoben, sodaß etwa 50% zu erwarten ist. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat errechnet, daß in der Zukunft PensionistInnen in der Regel das Sozialhilfeniveau nicht mehr überschreiten werden. Sichtbare Gegenstrategien. Als sichtbares Zeichen haben sich in zahlreichen Orten Aktionsgruppen gebildet, die viele kleinere Demos organisierten. Dabei kam es auch zu weiteren Aktionen, etwa der Besetzung des Parteilokals der SPD in Marburg oder das der Grünen in Dresden, oder auch kleinen Streiks wie an Schulen in Kassel und an der Universität Frankfurt/Main. Höhepunkt dieser Aktionen war die Demonstration von 100.000 TeilnehmerInnen am 1. November in Berlin, sowie Nachfolgedemos in München und Wiesbaden mit jeweils etwa 50.000 TeilnehmerInnen. Unsichtbare Strategien. Gemessen an der gesamten Zahl der Betroffenen, die auf 6 Mio. Arbeitslose geschätzt wird, sind die sichtbaren Aktionen jedoch gering. Gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen berichten, daß sich viele Arbeitslose den Terror auf den Arbeitsämtern nicht mehr antun und sich nicht mehr melden. Häufige Auswege sind Schwarzarbeit, Verkauf auf Flohmärkten, Schnorren, alternative Wirtschaftsprojekte und andere Wege aus dem formalen Arbeitsverhältnis. Diese Personen sind auch durch traditionelle Politik bzw. Institutionen nicht mehr ansprechbar und haben es auch aufgegeben, sich für linke Forderungen im traditionellen Sinn zu interessieren. Großdemonstrationen und dort konsensfähig formulierte Forderungen an den Staat bzw. die Parteien erwecken in dieser Gruppe kein Interesse mehr. Es kann davon ausgegangen werden, daß sich die Mehrheit für traditionelle sozialpolitische Forderungen überhaupt nicht mehr interessiert, sofern die Indikatoren Organisierung in Gewerkschaften und vergleichbaren Interessensorganisationen und Teilnahme an herkömmlichen Veranstaltungen sind. Aussichten. Deutschland folgt damit einem Trend, der bisher schon in Frankreich und Großbritannien zu beobachten war. Die französischen Gewerkschaften waren in den letzten Jahren in der Lage Großstreiks mitzutragen, obwohl ihr Organisierungsgrad nur mehr bei 10% der Beschäftigten liegt, weil Arbeitsloseninitiativen über weite Strecken das Feld übernahmen. In Großbritannien hat sich die (politische) Aktion ohnehin völlig in die lokalen Gemeinschaften (communities) verlagert, die jegliche soziale Aktion, also auch Kampfmaßnahmen, tragen. Das ist spätestens seit der völligen Niederlage der Gewerkschaften in den ersten Jahren der Ära Thatcher so, und davon haben sich diese nie mehr erholt. Individuell mag das als regressive Form der Reaktion auf Ausgrenzung verstanden werden. Insbesondere die früheren InteressensvertreterInnen werden nicht müde, das so darzustellen. Die Arbeitslosen würden aus dem gesellschaftlichen Leben verschwinden, ins Private abtauchen. In diesen Vorwürfen eines nicht systemkonformen Verhaltens schwingt die Betroffenheit, daß gerade dieses Verhalten deren Position schwächt, mit. Gefragt ist das zu Tode betrübte Subjekt, das sich hilfsbefürftig an seine/ihre Vertretung wendet. Diese gewinnt dadurch Legitimität und in weiterer (verlorengegangene) Verhandlungsmacht. Praktisch läuft die Geschichte entgegengesetzt. Viele Ausgegrenzte bauen sich ein neues Leben abseits des Normlebens auf und knüpfen neue Beziehungen. Je länger dieser Vorgang andauert, desto geringer wird die institutionelle Macht der früheren Vertretungen, und folglich auch umso tiefgreifender deren Krise. Gegenkulturen. Diese Vorgänge sind in Europa in Großbritannien sehr weit vorangeschritten, ebenso in Griechenland, Italien oder Spanien. Gegenkulturelle Konzepte sozialer Organisation haben dort lange Traditionen bis weit in vorige Jahrhunderte hinein. In den letzten drei Jahrzehnten ist aus der langandauernden politischen Repression und ökonomischen Depression eine Gegenkultur gewachsen, die wirtschaftlich wesentlich auf der "dole economy" aufbaut. "On the dole" war zu Anfangs, und ist es für viele noch immer, zunächst eine niederschmetternde Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben. Das britische Arbeitslosengeld, the dole, ist mit seinem wöchentlich ausbezahlten Almosen, mit dem häufig gerade die Miete bezahlt werden kann, ein alles andere als berauschendes Erlebnis. Allerdings hat sich mit den Jahren eine eigene Ökonomie aufgebaut, die weitgehend außerhalb der Geldwirtschaft stattfindet. In Wirklichkeit müssen nämlich nur wenige Dinge mit Geld bezahlt werden, auch wenn es die kapitalistische Ökonomie anders suggeriert. Soziale Bedürfnisse, gute Ernährung, Gesundheit, Bildung usw. können nämlich auch weitgehend ohne Geld, beispielsweise durch gegenseitige Hilfe oder Tausch, organisiert werden. Die britischen Arbeitslosen haben es wie kaum sonst andere in Europa verstanden, sich von Leistungen gegen Bezahlung unabhängig zu machen. Gleichzeitig ist damit auch ein Netz sozialer Zusammenhänge gewachsen, das den Machthabern ungeahnte Probleme verschafft. Als die konservative Regierung in ihrer Endphase die Kopfsteuer, die Poll Tax, unabhängig vom Einkommen einführen wollte, brach ein Sturm los, der London für zwei Tage in das absolute Chaos stürzte. Während der Poll Tax Riot wurde die Polizei militärisch besiegt und zahlreiche Glaspaläste der Londoner City zertrümmert. Weitere Revolten folgten, etwa May Day, J18 und andere. Zigtausende von de facto Sozialhilfeempfängerinnen bauten soziale Netzwerke auf und widmen sich seit Jahren der Zerstörung des Systems. Community Centres beherbergen aus der Psychiatrie ausgegrenzte "stolze Irre" ebenso wie fanatische TierrechtlerInnen, ethnische Minderheitengruppen oder grundsätzliche GegnerInnen der Zivilisation. Durch das System der Ausgrenzung hat sich aus sich heraus eine vielköpfige Widerstandsbewegung gebildet, die eben dieses System von allen Seiten attackiert. Die Ausgrenzung durch Sozialhilfe hat den Ausgegrenzten genügend Zeit verschafft, sich lustvoll mit Widerstandsformen zu beschäftigen. Die deutsche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, und mit Zeitverzögerung wahrscheinlich sehr bald auch jene in Österreich, vollzieht diese Entwicklung zügig nach. Viele Betroffene werden zunächst deprimiert sein, doch es werden sich auch viele ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Grundsätzliche politische Richtungsänderungen, wie es die Abkehr vom leistungsbezogenen Sozialstaat mit seinen Verwaltungsstrukturen und den dazu gehörenden Abhängigkeiten und Kontrollmöglichkeiten ist, erzeugen niemals eindeutige Bedingungen. In diesem Sinne ist Geschichte auch nicht Schicksal. Quellen: Die Grundlagen für diesen Beitrag stammen vor allem aus der deutschen Zeitschrift für Erwerbslose "quer" aus Oldenburg und aus den britischen Zeitschriften für grundsätzlich Unzufriedene, "Do or Die" von Earth First! UK und Schnews, eine Wochenzeitschrift der ebenfalls wie DoD in Brighton, England, beheimateten ChaotInnen des Kollektivs von Shit News. Siehe auch http://www.eco-action.org/dod/ und http://www.schnews.org.uk, Bestellungen von quer an: quer.infos@web.de. |
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aus TATblatt Nr. +206, Jänner 2004.
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