Seit unserem Artikel in TATblatt plus 64, der im November des Vorjahres erschien, und in dem wir über die Präparate von Gehirnen von in Wien ermordeten Kindern berichteten, ist einiges geschehen. Erneut wurde der Fall des NS-Euthanasiearztes Gross aufgegriffen, und wiederum wollte die österreichische Justiz den mit 81 Jahren noch immer tätigen Gerichtssachverständigen durch eine Zurücklegung der Anzeige decken. Doch damit scheint es nun vorbei zu sein.
TATblatt
Seit unserer Veröffentlichung des Briefverkehrs österreichischer Stellen mit der Angehörigen einer 1944 in der Tötungsanstalt "Am Spiegelgrund" (jetzt: Baumgartner Höhe) getöteten Frau, die von der Gemeinde Wien eine den Umständen angemessene Bestattung der letzten Überreste ihrer Schwester im Rahmen einer Gedenkfeier verlangt hatte, und dafür von BürokratInnen mehr als eineinhalb Jahre schikaniert und hingehalten wurde, sind weitere Details an belastendem Material und über das skandalöse Verhalten der österreichischen Justiz bekannt geworden.
Unbestritten war schon bisher, daß Gross ungestraft als "Euthanasie-Arzt" bezeichnet werden darf, d.h. als Arzt, der an der Selektion und Ermordung von Kindern im Rahmen des NS-Euthansieprogramms beteiligt war. Und Gross versuchte nachweislich seine Nachkriegskarriere mit den Gehirnpräparaten in Wien ermordeter Kinder voranzutreiben.
Trotz neuer Fakten aus ehemaligen DDR-Archiven legte die Staatsanwaltschaft nach einer Anzeige des Dokumentationsarchives des Österreichischen Widerstandes (DÖW) im Juni 1995 nach einigen Monaten wieder einmal die Anzeige zurück, woran u.a. der ausgerechnet für Wiederbetätigungsprozesse abgestellte Staatsanwalt Fasching, ein gewisser Georg Karesch von der Staatsanwaltschaft Wien, sowie der Leiter der Staatsanwaltschaft Wien, Hofrat Adolf Korsche, beteiligt waren.
Doch das DÖW ließ nicht locker und zeigte Gross am 10. März 1997 erneut an, was die Staatsanwaltschaft zu einer erneuten Zurücklegung der Anzeige veranlaßte. Einer der Mitwirkenden diesmal Manfred Schausberger vom Justizministerium, der meinte, daß es "konkreter Beweise brauche, um gegen Gross vorzugehen". Doch politisch waren zu diesem Zeitpunkt die Wellen der Empörung über die ständige Kollaboration der österreichischen Justiz mit Gross bereits zu hoch.
In einem der drei großen US-TV-Sender, ABC, erschien nämlich eine Dokumentation über Gross und sein einschlägiges Wirken, sowie über den Umgang Österreichs mit diesem Fall. Zugleich und danach gab es eine Reihe von Enthüllungen in der Öffentlichkeit, die weitere monströse Aspekte der Affäre aufzeigen.
Einer dieser Punkte ist, daß Gross noch immer in ungeheurem Ausmaß als Gerichtsgutachter tätig ist. Allein 1996 gab er in 123 Fällen psychiatrische Gutachten ab und kassierte dafür 413.871 Schilling. Justizminister Michalek hat diesbezüglich angeordnet, bei der nächsten Richterbesprechung "auf die Problematik hinzuweisen".
Nachdem Karl Öllinger von den Grünen eine Anfrage an Michalek bezüglich der Anzeige gegen Gross stellte, verlautbarte Michalek überraschend, daß er die Zurücklegung der Anzeige durch die Staatsanwaltschaft nicht akzeptiert hätte, und somit die Ermittlungen weitergeführt würden. Außerdem gebe es ein Rechtshilfeansuchen an Deutschland, weil in Berlin eine Dissertation über die Tötung von Kindern am Beispiel des Spiegelgrunds erschienen ist, die insbesondere die Mitwirkung von Gross sichtbar macht. Zugleich forderten in einer Nationalratssitzung Abgeordnete aus allen Parteien einen Prozeß und eine adäquate Strafe gegen Gross, weil es keinen Zweifel über seine Schuld gebe.
Bisher in der Öffentlichkeit nicht bekannt war, daß es sogenannte "Meldebogen" - also Gutachten zur Selektion - als belastende Dokumente im Original gibt, die sowohl die in der Folge getöteten Kinder eindeutig identifizieren, als auch ausgerechnet in jenen Zeitraum 1944 fallen, in dem Gross freiwillig während des Urlaubs als Euthanasie-Arzt am "Spiegelgrund" tätig war. Entscheidend ist dieser Punkt, weil Michalek in der Beantwortung der Anfrage von Öllinger feststellte, daß sich am Punkt "freiwillig" die Anklage zwischen Totschlag und Mord scheidet. Übrigens soll Gross tatsächlich auch die Prämien für die Euthanasie-Gutachten ausbezahlt erhalten haben.
Die Staatsanwaltschaft greift als Antwort zu altbewährten Mitteln. Schon bei der ersten Anzeige hatte sie durch eine Verfügung monatelang verhindert, daß zehn Gehirnpräparate zu einer feierlichen Beisetzung nach Hamburg, die die Stadt Hamburg in Zusammenarbeit mit einer Stiftung und den Angehörigen der Opfer durchführte, überführt wurden. Und auch diesmal hat die Staatsanwaltschaft - wenn sie schon nicht die Anzeige zurücklegen darf - eine solche Verfügung erlassen, weshalb die nach jahrelangen Widerständen endlich politisch durchgesetzte Beisetzung der Präparate auf dem Zentralfriedhof in Wien möglicherweise erneut gefährdet sein könnte.
Trotzdem: eine Wiederaufnahme des Verfahrens aus 1951, das damals niedergeschlagen wurde, diesmal zumindest wegen Beihilfe zum Mord, scheint trotz des vereinten Widerstandes der Justiz im Bereich des Möglichen.
aus: TATblatt Nr. plus 79 (12/97) vom 25. Juni 1997
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