In Schweden führte die Berichterstattung über Zwangssterilisierung Behinderter zwischen den Jahren 1935 und 1976 zu einer kritischen Geschichtsaufarbeitung und zur Forderung nach einer parlamentarischen Untersuchung. In anderen europäischen Ländern rückt die Aufarbeitung ähnlicher Vorgehensweisen ebenfalls in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. In Österreich wird erstmals seit langem zumindest das Schweigen gebrochen.
TATblatt
Mehr als 60.000 Menschen fielen in Schweden einem Sterilisierungsprogramm zum Opfer - die weitaus überwiegende Zahl davon waren Frauen, fast ausschließlich aus sozial schwachen Schichten. "Minderwertig, geistig unterentwickelt, unerwünschte Rassenmerkmale ...", so lauteten einige der Zuschreibungen für potentielle Opfer. Die Konsequenz daraus war die staatlich gedeckte Zwangssterilisation. Zuschreibungen und Praktiken sind aus der NS-Zeit wohlbekannt, in Schweden hatten diese aber bis in die 70-er Jahre ihre Gültigkeit. Die Programme waren in einschlägigen Kreisen bekannt und gut dokumentiert. Die breite Öffentlichkeit wurde jetzt erst durch eine Artikelserie in der schwedischen Zeitung "Dagens Nyheter" informiert. Die Zeitung veröffentlichte die Dokumente: "Gewohnheitskriminelle", Sterilisation einer ledigen Mutter mit mehreren Kindern, Sterilisation eines Buben, der als sexuell frühreif eingestuft wurde. Empfehlungen für Sterilisationen lauteten folgendermaßen: "unverkennbare Zigeuner-Gesichtszüge, Psychopath, kein ständiger Wohnsitz," etc.
Schweden galt und gilt in der veröffentlichten Meinung als Land mit einem weit entwickelten System der sozialen Wohlfahrt und einer progressiven Haltung in allen sozialen Fragen. Durch diese Enthüllungen und durch jüngste Diskussionen um die Rolle Schwedens während der NS-Zeit (hier prüft die Regierung, ob von Nazis geraubte Besitztümer von JüdInnen in Schweden gelandet sind), hat dieses Image mächtige Kratzer abbekommen. Zudem wurde das Programm der Zwangssterilisierungen unter einer sozialdemokratischen Regierung durchgeführt, jener Partei, die sich rühmt, den Wohlfahrtsstaat aufgebaut zu haben.
Selbst nach 45, nach den Massenmorden, nach dem Bekanntwerden der massenhaften Zwangssterilisierungen im Deutschen Reich, stoppte die schwedische Politik ihr Programm nicht, denn die meisten Fälle von Zwangssterilisierungen gab es in den 40-er bis zum Beginn der 50er Jahre.
Die Opfer dieser Politik können derzeit auf keine Entschädigung hoffen, denn es kann zur Zeit niemand für etwas entschädigt werden, was ihm oder ihr aufgrund geltender Gesetze angetan wurde. Bislang gelang es nur 15 Betroffenen Schadenersatz zugestanden zu bekommen, weil in ihren Fällen selbst die damals geltenden gesetzlichen Vorschriften nicht eingehalten wurden.
Doch nicht nur in Schweden kam es zu Zwangssterilisationen. In Dänemark wurden bis 1967 insgesamt 11.000 Menschen sterilisiert, die Hälfte davon zwangsweise.
Finnland kann ebenfalls auf 11.000 Sterilisationen zurückblicken, durchgeführt bis in die 70-er Jahre. Zwischen 1950 und 1970 wurden 4.000 Frauen gegen ihren Willen sterilisiert.
In Norwegen dürfte es zwischen 12.000 und 15.000 Betroffene geben, die Mehrzahl der Eingriffe erfolgte zwischen 1966 und 1976.
Nach Bekanntwerden der schwedischen Zwangssterilisationen meldete sich in Österreich zuerst die Behindertensprecherin der Grünen, Theresia Haidlmayer, zu Wort und nannte unangenehme Schätzungen. 70 Prozent der sog. geistig behinderten Frauen in stationären Einrichtungen seien sterilisiert. Univ. Doz. Schönwiese ist wiederum davon überzeugt, daß rund 50% der betroffenen Frauen von einer Zwangssterilisation betroffen seien. Ein munteres Zahlenspiel nahm seinen Lauf. In Frage kommende Einrichtungen nannten diese Zahlen überzogen, usw. usf.. Erst langsam kristallisiert sich heraus, daß erstens Zwangssterilisationen in Österreich weiterhin durchaus üblich sind, und daß zweitens diese Form der Frauendiskriminierung den jeweils Verantwortlichen ziemlich gleich ist, da es weiterhin möglich ist, daß sich diese Angriffe auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau sich in einem rechtlichen Graubereich befinden und sowohl KritikerInnen als auch verantwortlich zeichnende PolitikerInnen sich auf Schätzungen berufen müssen. Da meint dann etwa der Wiener Gesundheitsstadtrat Rieder, daß es laut Aussagen von Experten in den stationären Bereichen Wiens zu keinen regelmäßigen Sterilisationen komme, die Eingriffe im nicht stationären Bereich aber nicht einmal erfaßt seien.
Auf den oben genannten rechtlichen Graubereich macht auch der Univ. Doz. Ernst Berger von der Neuropsychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche am Krankenhaus Rosenhügel in Wien aufmerksam. Für ihn ist es juristisch nicht geklärt, ob eine Betroffene von einer anderen Person vertreten werden darf. Er geht davon aus, daß bei einer Befragung von fünf RechtsexpertInnen mindestens drei verschiedene Meinungen herauskommen.
So geschieht es dann auch, daß Sterilisationen von den Betroffenen erst nach erfolgter Operation anhand der Narbe, oder durch die Information von SachwalterInnen, Verwandten, etc., erfahren. Die ÄrztInnenschaft maßt sich hierzulande weiterhin an, über das Wohlbefinden der Frauen fast völlig frei zu verfügen. Den Frauen wird das Selbstbestimmungsrecht auf ihren Körper und ihre Sexualität gänzlich abgesprochen. Bei einer Umfrage unter sog. geistig Behinderten, durchgeführt im Auftrag des Frauenministeriums, stellte sich heraus, daß das verbreitetste "Verhütungsmittel" die Sterilisation ist, bei rund 62,5% der Befragten lag eine Sterilisation vor, dabei wurden die meisten Frauen gegen ihren Willen vor ihrer Volljährigkeit zwangssterilisiert.
Das Zustimmungsrecht der Eltern bei Minderjährigen wird laut Ernst Berger dazu genützt, um den Eingriff noch vor der Volljährigkeit durchführen zu lassen. Die Gründe der Eltern, einer Sterilisierung zuzustimmen, liegen laut Berger in einer diffusen Angst vor der Vermehrung Behinderter, ein Argument das für ihn fachlich völlig unrichtig ist, da nur ein kleiner Teil von Behinderungen genetisch bedingt sei. Das Hauptargument für den Eingriff ist seiner Meinung nach hingegen der vermeintliche Schutz der Frauen vor sexuellem Mißbrauch, ein Argument, das sich für ihn aber gerade ins Gegenteil verkehrt, denn dadurch wird nur der Mißbrauch folgenlos, was eine drohende Schwangerschaft betrifft. Die Täter können sich somit in fast völliger Sicherheit wähnen.
Während Schwedens Politik zumindest teilweise die Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat, dort sind sog. behinderte und nichtbehinderte Frauen seit Jahren absolut gleichgestellt, scheinen sich die Verantwortlichen hierzulande nach wie vor an eine Vergangenheit zu klammern, in der es schlichtweg darum ging, sog. behindertes Leben zu eliminieren.
Auch Österreichs Sozialdemokratie kann sich einer ähnlich "eigenständigen" behindertenfeindlichen Politik wie jene Schwedens rühmen. Nicht erst mit dem Jahre 34 oder 38 wurden die Gedanken der Eliminierung des sog. "unwerten Lebens" salonfähig. Im sozialdemokratisch regierten "Roten Wien" der Zwischenkriegszeit, wurde eine fortschrittliche Sozialpolitik angestrebt. Gallionsfigur der Sozialdemokratie auf diesem Gebiet war der Gesundheitsstadtrat Julius Tandler. Doch Tandler vertrat in vielerlei Fragen einen reinen Kosten-Nutzen-Standpunkt. Deutlich wird das bei einer seiner Aussagen, die im Gemeinderatsprotokoll vom 27.6.1921 dokumentiert sind:"Wenn ein Epileptiker eine Schwachsinnige heiratet, so gehört nicht viel Kenntnis der Vererbungstheorie dazu, um von vornherein sagen zu können, daß die Gemeinde Wien die Kinder dieser Ehe wird erhalten müssen, solange sie leben. [...] Ich sehe darin eine Ungeheuerlichkeit, weil wir wissentlich etwas gestatten, was bevölkerungspolitisch, finanzpolitisch ein Unsinn ist". Wohin dieser gesellschaftliche Mainstream in den Jahren der NS-Zeit noch führen sollte, ist heutzutage hinlänglich bekannt. Eine historische Aufarbeitung dieser Facette der Sozialdemokratie ist wohlweislich unterblieben.
Es bleibt abzuwarten, was aus den jüngsten Ankündigungen einer gesetzlichen Neuregelung wird, wenn die Berichte abflauen, und die Betroffenen sich nach wie vor isoliert und ohne Lobby einer Gesellschaft gegenübersehen, die sie nach wie vor einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterzieht.
Schon vor vier Jahren wurden rund 48.000 Unterschriften für ein Nichtdiskriminierungsgesetz gesammelt, ein Verbot von Zwangssterilisationen war darin inkludiert. Politisch bewegt hat sich seit damals allerdings nichts.
aus: TATblatt Nr. plus 82 (,15/97) vom 11. September 1997
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