TATblatt


Die Ursachen von Migration

Europa - ein Kontinent dreht durch

Ein paar hundert Flüchtling an der italienischen Küster reichen aus, um die europäischen Innenminister in Alarmstimmung zu versetzen. "Sicherheitsexperten" treffen sich zu "Krisengipfeln", um einen "Massenexodus" der KurdInnen zu verhindern und Maßnahmen gegen das "Schlepperunwesen" zu beschließen. Ist Europa zum Untergang verurteilt?

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825 Flüchtlinge (fast ausschließlich KurdInnen) waren an Bord des türkischen Frachters "Ararat", der am 27. Dezember nach siebentägiger Irrfahrt vor der Südküste Kalabriens auf Grund lief. Die Flüchtlinge wurden von der Küstenwache gerettet und in Flüchtlingslager gebracht. Die kommerziellen Fluchthelfer waren bereits verschwunden. Dieses Ereignis reichte aus, um die "große Reisefreiheit" zwischen den Schengenstaaten Italien, Österreich, Deutschland und Frankreich sofort wieder einzuschränken und führte zu erhitzten Auseinandersetzungen zwischen den Innenministerien Italiens, Österreichs und Deutschlands.

An den beiden österreichisch-italienischen Grenzübergängen Reschen und Sillian, an denen seit 1. Dezember keine generelle Grenzkontrolle mehr durchgeführt wurde, marschierten wieder Grenzgendarmen auf. An der grünen Grenze kontrollieren Polizeipatroullien.Der deutsche Innenminister Kanther ließ verlautbaren, daß an der deutschen Süd- und Westgrenze mehrere Hundertschaften des Bundesgrenzschutzes wieder in Einsatz sind. Zusätzlich gibt es in Zusammenarbeit mit der französischen und der baden-württembergischen Polizei einen sogenannten Sicherheitsschleier. Danach darf die Polizei in grenznahem Raum und auf Durchgangsstraßen ohne konkreten Verdacht kontrollieren. Wie furchtbar notwendig diese Maßnahmen sind, ist aus der Tatsache ablesbar, daß sich bis jetzt (9.1), also fast zwei Wochen nach der Landung der KurdInnen, noch keinE einzigeR an der österreichisch-italienischen Grenze gesichtet wurde. Italien hat allen KurdInnen Asyl angeboten und damit Innenminister Schlögls Kritik, Italien mache es sich "allzu leicht", den KurdInnen "ohne ordentliches Asylverfahren einfach einen Abschiebungsbefehl zu geben und sie (zu) veranlassen, innerhalb von 14 Tagen Italien zu verlassen", ins Leere laufen lassen. Schlögls Kritik ist angesichts der österreichischen Verhältnisse ohnehin nur als Frechheit zu bezeichnen. Österreich hätte es sich im selben Fall nach dem neuen Asylgesetz nämlich sehr leicht gemacht und die KurdInnen mit Hinweis auf die Drittstaatenregelung gar nicht einreisen lassen oder sie bei illegaler Einreise in Schubhaft genommen und deportiert. Die Forderung nach einem "ordentlichen Asylverfahren" aus dem Mund eines österreichischen Innenministers kann nur als Euphemismus für "Deportation" gewertet werden. (Übrigens: Im Jahr 1997 hat Österreich 460 Asylanträgen stattgegeben, ca. 4000 wurden abgelehnt.)

Völlig durchgeknallt scheinen etliche deutsche PolitikerInnen zu sein, die wegen ein paar hundert (oder tausend) KurdInnen, die sich tausende Kilometer entfernt befinden, fast auf Staatsnotstand machen. Innenminister Kanther sagt, die Bundesrepublik werde es nicht hinnehmen, "daß die nächste illegale, verbrecherisch organisierte Wanderungsbewegung wegen Weltkonflikten wie in Bosnien sich erneut in Deutschland in illegaler Zuwanderung abspielt." Der CDU-Rechtsexperte Rupert Scholz fordert die Schließung deutscher Grenzen, für den Fall, daß Italien seine Außengrenzen nicht stärker sichere. (Mauer gefällig?) Der CSU-Vizevorsitzende Ingo Friedrich verlangt die Bildung einer europäischen Grenzschutztruppe.

Entgegen aller österreichischer und deutscher Kritik sichert Italien seine Grenzen mit enormen Aufwand. Siebzig Seemeilen südlich von Brindisi liegt ein 300 Tonnen Kreuzer, dessen Radar alle Schiffe im Umkreis von 35 Seemeilen erfaßt. Hunderte Schiffe und Boote werden mit Unterstützung von 15 Hubschraubern und vier Flugzeugen der Küstenwache kontrolliert. An der Küste Kalabriens wird derzeit ein neues Radarsystem installiert. Letztes Jahr wurden 38.000 MigrantInnen an den Grenzen aufgefangen und deportiert.

Bei einem rasch einberufenen "Krisengipfel" zum Thema"Kurdeninvasion" in einer römischen Polizeikaserne, an der BeamtInnen der Innenministerien von Österreich, Italien, Griechenland, Deutschland, Niederlande, Belgien, Frankreich, Türkei und Großbritannien teilgenommen haben, einigte mensch sich erwartungsgemäß auf eine härtere Bekämpfung des "Schlepperunwesens" - damit kann sich auch die Türkei anfreunden - und eine noch intensivere Bewachung der Grenzen. Eine grundsätzliche Änderung der Festung-Europa-Politik ist realistischerweise nicht zu erwarten, weil Deutschland eine Hardlinerpolitik betreibt und aufgrund seiner starken Position innerhalb der Union nicht übergangen werden kann, abgesehen davon, daß sich die Position der anderen Länder, wenn überhaupt, nur marginal von Deutschland unterscheidet.
 

Ursachen von Migration

Bei der Lektüre diverser Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine bekommt mensch den Eindruck, die Migration funktioniert ganz einfach so, daß Menschen aus armen Ländern in reiche Länder wandern. Im Profil liest sich das z.B. so: "Über Europas wunde Flanken schleusen immer schlauer werdende Schlepperorganisationen massenhaft die Armen dieser Welt nach Schengen-Land" oder "...weniger Arbeit für Österreichs Grenzgendarmen, die derzeit alle Hände voll zu tun haben, um die Armen aus aller Herren Länder abzuwehren."

Sieht mensch sich an, welche Menschen in welche Länder wandern, stellt sich schnell heraus, daß die Politik des Einwanderungslandes hauptverantwortlich ist und nicht ausschließlich Unterschiede in der Einkommensstatistik die Migration verursachen. Die mit Abstand größten Gruppen von Menschen, die in Österreich leben aber keinen österreichischen Paß haben, sind türkische oder ehemalige jugoslawische StaatsbürgerInnen. Genau in diesen beiden Ländern hat Österreich in den sechziger Jahren massive Anwerbungspolitik für Arbeitskräfte betrieben. Zur selben Zeit hat Österreich auch versucht Menschen aus Spanien dazu zu bringen, nach Österreich arbeiten zu kommen, was aber nicht funktioniert hat. Es wurde keine Migration in Gang gesetzt und deshalb wird es wohl auch nie eine große Gruppe von SpanierInnen in Österreich geben.

In Großbritannien sind sechzig Prozent der dort lebenden nicht-britischen StaatsbürgerInnen aus früheren Kolonien oder Commonwealthländern. 75 Prozent der Menschen aus europäischen Ländern in GB sind IrInnen. TürkInnen und (Ex-)JugoslawInnen gibt es in GB fast gar keine. Fast alle ImmigrantInnen aus dem indischen Subkontinent in Europa leben in England.

In Deutschland sind die mit Abstand größten Gruppen von EinwandererInnen nach Ende des Nationalsozialismus solche mit deutscher Muttersprache (8 Millionen Ausgewiesene und Geflüchtete nach dem Krieg, 3 Millionen DDR-BürgerInnen bis zum Mauerbau 1961). Die späteren großen EinwandererInnengruppen kommen alle aus Ländern, in denen Deutschland massive Anwerbungspolitik betrieben hat.

In Frankreich ist die Immigration wiederum eng mit der früheren Kolonialpolitik verknüpft. AlgerierInnen würde es wohl kaum einfallen, nach Österreich zu emigrieren, wenn sie die Möglichkeit hätten, nach Frankreich zu gehen.In keinem europäischen Land gibt es eine große Gruppe von EinwandererInnen aus einem Land, zu dem es nicht eine geschichtliche Beziehung (Kolonialismus) gibt, oder in dem nicht massive Anwerbungspolitik betrieben wurde. Wäre Armut der einzige Faktor, müßte es wohl auch große Gruppen von MongolInnen in Europa geben.

Die Länder der Festung Europa können also nicht so tun, als hätten sie selbst nichts dazu beigetragen, daß es Migration innerhalb und nach Europa gibt. Migration ist ein integraler Bestandteil der europäischen Geschichte. Die Bekämpfung von "Schlepperbanden" macht sich zwar in Zeiten, in denen "Innere Sicherheit" zu einem der wichtigsten Themen geworden ist, im Wahlkampf (Deutschland) ganz gut, an der Migration wird sich deswegen wenig ändern. Illegale Immigration gibt es seit 1945 in allen westlichen Ländern, einschließlich Japans, unabhängig von der politischen Kultur und der Einwanderungspolitik der jeweiligen Staaten, wie Saskia Sassen in einer Untersuchung festgestellt hat. Die illegal Immigrierenden kommen meist aus den selben Ländern wie die legalen ImmigrantInnen, woraus sich schließen läßt, daß diese Migration denselben systemischen Bedingungen folgt wie legale Einwanderung. Weitere länderübergreifende Gemeinsamkeit, die Sassen in ihrer Studie festhält:

1. Emigration ist immer nur für einen kleinen Bevölkerungsanteil eine Option: Wenn Menschen nicht durch Krieg oder andere Katastrophen zur Flucht gezwungen werden, verlassen sie nur höchst ungern ihre Umgebung. Die große Masse der Bevölkerung eines armen Landes wandert nicht aus. Diejenigen, die auswandern, haben meist zusätzliche Gründe, wie z.B. rassistische Verfolgung (Sinti und Roma), verwandtschaftliche Beziehungen etc.

2. EinwandererInnen sind in der Bevölkerung eines Landes immer in der Minderheit. In keinem EU-Land, außer Luxemburg, beträgt der Anteil der Nicht-StaatsbürgerInnen mehr als zehn Prozent. Weniger als drei Prozent der europäischen Gesamtbevölkerung kommen aus sogenannten Drittländern. In Deutschland und Frankreich sind 93 Prozent der EinwohnerInnen Staatsangehörige.

3. Die Rückwanderung ist beträchtlich, es sei denn, sie würde durch die militärisch-politische Situation in den Herkunftsländern verhindert. Die zirkuläre Migration nimmt in vielen Regionen zu. Herkunfts- und Zielregionen sind eigentlich als Teil eines einzigen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Systems zu betrachten. Es gibt jedoch, relativ unabhängig von der jeweiligen Einwanderungspolitik der einzelnen Länder, eine Tendenz zur permanenten Ansiedlung.Die derzeitige EU-Politik kann nicht anders denn als völlig hysterisch bezeichnet werden. Die Ursachen der Migration liegen zum Großteil in der europäischen Politik der letzten 200 Jahre, genauso wie die Entstehung von kommerzieller Fluchthilfe eng mit der rassistischen Gesetzgebung und der Isolationspolitik der letzten Jahre verknüpft ist.
 

Buchtip:

Saskia Sassen. Migranten, Siedler, Flüchtlinge - Von der Massenauswanderung zur Festung Europa. Fischer Taschenbuch Verlag. ATS 138.

aus: TATblatt Nr. +89 (1a/98) vom 15. Jänner 1998
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