Timur und sein Trupp: Interim 452 Juni 1998 [ zurück ]
Mit irgendwie gemischten Gefühlen haben wir uns auch diesmal an den revolutionären Rosa-Luxemburgplatz (RL) 1. Mai-Feierlichkeiten beteiligt. Jünger sind wir seit dem '87er "und dennoch hat sich Bolle janz köstlich"-Amüsement nicht geworden und ein Abenteuerlebensgefühl ist uns auch ein wenig abhanden gekommen. Zudem schien es diesmal eigentlich - oberflächlich betrachtet - "political much more correct" zu sein, sich der bedrohlich ansteigenden Nazi-Welle in Leipzig entgegenzustellen. Aber auch da haben wir aus guten privaten Gründen "den Anschluß" verpaßt. So wollten wir wenigstens unsere revolutionäre Maipflicht erfüllen, und so ging's an den Bullenkontrollen elegant vorbei auf den RL-Platz. Dabei sollte nicht, wie noch im letzten Jahr, einer deprimierenden Null à la "10 Jahre 1. Mai" gedacht werden. Nun ging es bei der 11. revolutionären 1. Mai-Demo wenigstens um eine Primzahl. Und die ist unteilbar.
Bereits vor dem offiziellen Demobeginn befand sich auf dem RL-Platz ein ganzer Batzen von Leuten, die sich seit Stunden an einem von einer Obdachlosenorganisation organisierten Musikfest berauscht hatten, - und zwar nicht nur musikalisch. Die TeilnehmerInnenzahl stieg dann, trotz der akribischen Personenkontrollen der Bullen, kontinuierlich an. Die alten GenossInnen, die wir dort trafen, konnten wir an den Fingern einer Hand abzählen. Stattdessen sahen wir viele junge, arm und irgendwie subkulturell aussehende Jugendcliquen. Zwischenzeitlich war von der AAB0 das Demo-Equipment hingestellt worden: Es bestand sowohl aus einem gigantischen Techno-Truck, als auch aus einem aus Basismitgliedern und Transpis hergestellten viereckigen Demo-Block. Auf den Transpis befanden sich in Synthetikdesign gehaltene Plastikparolen ("Ihre innere Sicherheit erschüttern!") Überhaupt haben wir neben diesen, nur noch zwei weitere Transpis gesehen, wovon sich wohl eines irgendwie noch um "Dada" meinte bemühen zu müssen. Von dem Truck gab's zur Begrüßung einen als "Ohrwurm" bekannten Musiktrailer, sowie den Hinweis, daß die AABO hier das Publikum doch tatsächlich "mit Argumenten bedient". Als "Argumente" wurden dann in Redebeiträgen Schöhngnom und seine Schergen schlecht geredet. Kurz nachdem bekannt wurde, daß die Bullen versuchten, die aus Leipzig zurück kommenden Antifaschisten abzufischen, machte sich die Demo von einem auf den nächsten Moment mit einem ziemlich überraschenden Ruck einfach auf den Weg. Die vielen neben der Demo stehenden Angetrunkenen verwechselten in diesem Moment die Bullen einfach mit Altglascontainern und entsorgten bei dieser günstigen Gelegenheit ihre Flaschen in deren Reihen. Und nachdem vom Truck aus noch die Bitte an die vielen Alk-Leute ausgesprochen wurde, "jetzt doch bitte mit dem Trinken aufzuhören", wurde der Flaschenhagel auf die Bullen derweil durch den AABO-Führungsblock mit der Weimarer Republik-Parole: "1. Mai - Straße frei. Nieder mit der Polizei!" politisch vermittelt. Zur Strafe nahmen die Bullen der ersten Demoreihe gleich das Leittranspi weg. Alkohol hin oder 30er-Jahre Politik her: In diesem Moment wurde jedenfalls für alle deutlich, daß die Prügelkoordination der Bullen diesmal wirklich schlecht funktionierte, und daß in dieser Demo nicht nur ordentlich Alk, sondern auch viel Mumm und Musik drin war. Und während die von der Demo offenkundig übertölpelten Bullen-Kohorten hektisch hin und her zu rangieren versuchten, machte sich ein riesiger, ungeordneter und fröhlich angetrunkener Pulk von ein paar tausend Leuten unbekümmert auf der ganzen Breite der alten Wilhelm Pieck-Straße auf den Weg in die glutrote Abendsonne; ein wunderschönes Bild, bei dem auch uns das Herz im Leibe hüpfte. Der Demorest ist schnell erzählt: Anstatt daß die Bullen versucht hätten, gut sozialdemokratisch, durch dosierte Schläge der erkennbar gewordenen Wucht der Demoleute nach und nach die Power abzulassen, wurden sie gemäß der unterschiedslosen Feindbekämpfungspolitik ihres Innenbefehlshabers auch noch in für alle erkennbarer Unterzahl blind in die Massendemo geschickt. Irgendwann wurde dann von ein paar hundert Leuten in den ersten Demoreihen gecheckt, daß hinter der sie angreifenden Spezialprügel-Krawehl-Bullenkohorte nichts und niemand mehr war. Diese schöne Situation wurde umgehend dazu benutzt, die Bullen in die ungeordnete Flucht, und sogar auch unter einige Kneipentische zu jagen. So ganz ohne Quarterback brachen die Riot Hawks in diesem Moment durch die Defensive Line der Berlin Cops und machten den entscheidenden Touch Down. Egal, was auch immer man noch von dieser Demo später einmal erzählen oder daran bemäkeln wird: Für ein paar hundert Leute wird genau das in ihrem Leben ein unvergeßlicher Moment bleiben. Danach ereignete sich in den nachfolgenden zwanzig wunderschönen Minuten etwas, was wiederum ein genauer Beobachtungsbericht des Mitteilungsblattes der Bourgeoisie FAZ als "entfesselte Anarchie" bezeichnen sollte. Klar, daß da an Geschäften fast alles kurz und klein gedengelt wurde, was in Reichweite lag. Und da wir selber auf keinen Fall Politik-Buchhalter und Schrebergärtner sein wollen, ist es müßig sich darüber zu beschweren, daß nun wirklich nicht alle Läden dieses Schicksal verdient hatten.
Auf einer oberflächlichen Politikebene besteht zunächst einmal der 'Erfolg' dieser Demo hauptsächlich in dem offenkundig gewordenen Mißerfolg der Bullen und ihres Innenbefehlshabers. Sie haben an diesen Mai mit ihrer bislang relativ erfolgreich gegen "autonome Demos" geführten Feindbekämpfungslinie komplett geloost. Da nützt ihnen erstmal auch nicht die Rache, die sie unmittelbar danach an einem Straßenfest am Südstern und an der Anti-Kanther-Demo verübt haben, indem sie diese schlicht erwürgten. Aber daß schon kurze Zeit nach dem versiebten Einsatz der Name des Bulleneinsatzleiters in der Presse gehandelt wurde und drei Autonome zum SPIEGEL-Talk mit dem zuweilen öffentlich stotternden rechtsradikalen Demokraten Schöhngnom vorgelassen werden mußten, illustriert das. Der Innenbefehlshaber scheint ins Schlingern geraten zu sein. Weiter so! Wer zappt nicht gerne durch die bunte Welt der ganz 'großen Politik' von Staatsapparaten und Medien?
Aus der Perspektive von 'unten' wiederum war die Frage nach der 'Politik' bekanntlich schon nach dem schönen Bolle-Mai des Jahres 1987 nur schwer zu beantworten. Außer Sektierer- und Cliquengefechten zwischen kleinen Gruppen, die alles mögliche abbilden nur eines nicht: Wirklichkeit, haben wir da eigentlich nicht so fruchtbar viel vorzuweisen. Und daß die AAB0 diesen ersten Mai vermutlich als einen "bedeutenden und großen Sieg" in dem von ihnen ohnehin privat angeeigneten Geschichtsalbum vermerken wird, geht völlig in Ordnung, weswegen wir auch darüber schweigen wollen.
Die, die da vom RL-Platz losgegangen sind, sind aus der Sicht von Staat und Kapital schlicht die Überflüssigen. Dieser Gedanke könnte vielleicht (nicht nur) für die Leute vom RL-Platz eine über den "revolutionären 1. Mai" hinausweisende Perspektive begründen. Allerdings beschlich uns im ganz konkreten Angesicht der Demoleute das flaue Gefühl, daß man wohl selbst nur ein naiver Idiot gewesen wäre, wenn man ihnen die Frage hätte zumuten wollen, um welchen geschichtlichen Ort sie heute demonstrieren und streiten wollten: "Scheiß' was auf die Politik!" hätte man wahrscheinlich als Antwort zurück erhalten. Eben und so unbestimmt, so ganz ohne über sich selbst hinausweisende gesellschaftspolitische Perspektive machte sich dann jener riesiger Pulk, in der Form eines schlecht ausgerüsteten Football-teams mit Alk-Power gegen die Bullen auf den Weg, wohin auch immer. Eigentlich sollte eine sich als "revolutionär" bezeichnende Demo kein American Football-Match sein. Aber der Ablauf des diesjährigen 1. Mai zeigte, daß die durch den forcierten Turbokapitalismus angerichteten Zerstörungen bis tief in diejenigen hineinwirken, die sich eben zum "revolutionären 1. Mai" versammeln. Anyway.
Timur und sein Trupp
Interim 452 Juni 1998