Timur und sein Trupp: Interim 515 November 2000 [ zurück ]
Fünf Tage, nachdem tausend Nazis mit Hilfe der doppelt so starken Berliner Polizei einen schönen Spaziergang Unter den Linden durchgeführt haben, verlief auch die "Demonstration für Mitmenschlichkeit und Toleranz" der Reichen, Berühmten und Schönen ohne größere Zwischenfälle. 200.000 Teilnehmerinnen sollen es gewesen sein; viele waren es auf jeden Fall, die in dem Gebiet zwischen Oranienburger Straße, Friedrichstraße und Unter den Linden unterwegs waren. Auf großen Leinwänden bekam man beim Brandenburger Tor all` die Cyborgs zu sehen, die sonst auch in der Glotze herumturnen. Pflichtschuldig lallten und stammelten die sich dort auswendig gelerntes und natürlich zusammenhangloses Zeugs "gegen Gewalt" und "Intoleranz" zusammen. Zu diesen flimmernden Fernsehbildern paßt so einiges wie die Faust aufs Auge: Daß sich Schröder, Fischer und Konsorten bei der Synagoge in der Oranienburger Straße von ihren Bullen natürlich einen Kordon in die Menge haben hineinfräsen lassen, gehört da genauso `rein, wie die in der Nähe des Brandenburger Tores weitgehend problemlos durchführte Beschlagnahme eines Transparents mit dem Uraltslogan aus den 80er Jahren: "Die Nazis morden, der Staat schiebt ab ..." Sowas hat natürlich im Fernsehstudio nix zu suchen - und Unter den Linden war an diesem Tag mal wieder das Fernsehstudio der Nation: Eine Welt der wirklich schönen Bilder. Es ist schwer, so viel zu fressen, wie man aufgrund dieser Show eigentlich kotzen müßte; alle wußten, daß die Inszenierung vorne und hinten nicht stimmt, aber dennoch haben fast alle mitgespielt. Begriffe wie "Solidarität" oder "Selbstorganisation von unten" waren im Demonstrations-Aufruf natürlich nicht zu finden; es hat eigentlich nur noch die Kontakttelefonnummer zu den Bullen gefehlt, wo man andere hätte denunzieren können. Daß bei dieser Demonstration für "Mitmenschlichkeit und Toleranz" die aktuelle Flüchtlings- und Asylpolitik von den Veranstaltern nicht zur Diskussion, geschweige denn zur Aktion gestellt wurde, konnte dann auch für niemanden mehr eine große Überraschung sein. Und "Zivilcourage" ist - trotz aktueller Sonntagsreden - in diesem Land nur in dem von Bismarck an seine Soldaten ausgegebenen "Sinn" zu haben, der besagt, daß die während ihrer Freizeit im zivilen Leben dafür sorgen sollten, "den Dieb zu fangen und der Polizei zu übergeben." Und auch Reichsführer SS Heinrich Himmler hatte ja in seiner am 4. Oktober 1943 in Posen gehaltenen Rede nicht vergessen darauf hinzuweisen, daß "wir ... niemals roh und herzlos sein (werden), wo es nicht sein muß". In diesen stillen Kontinuitäten konnte der Aufruf zu dieser deutschen Demonstration, bezogen auf das, was damit vorgeblich angesprochen werden sollte, also nur einen einzigen großen Betrug ausdrücken.
Und doch deckte die amorphe Ansammlung von sich "anständig" Fühlenden ein paar unbequeme Wahrheiten auf, mit deren Konsequenzen man schon jetzt konfrontiert ist. Ausgedacht wurde diese insgesamt neue Form der Mitteilung Deutschlands an die Welt und an sich selbst von einem Sozialdemokraten, einer Grünen und dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Berlin. Mit Hilfe des Organisationsapparates der SPD wurde ein "größtmöglicher Konsens" der pluralen Fassung der Einheitspartei organisiert, mit der CSU, allen möglichen Verbänden, den jüdischen Gemeinden und sogar der PDS. Vorläufig wurden noch keine Migrantenorganisationen einbezogen, das muß aber in der Zukunft so nicht unbedingt bleiben. Der Aufmarsch sollte alle möglichen Gegensätze außer Kraft setzen, übrigbleiben sollte nur ein einziger: der zwischen den "unmenschlichen" Menschen außerhalb des Großkonsenses und der "neuen Mitte", die sich hiermit den Button "menschlich" ans Revers haftete. Ohnehin vergessen werden sollen die Gegensätze zwischen Rechts und Links und zwischen Oben und Unten, aber für diesen Tag sollte sogar ausnahmsweise der zwischen "Leistungsträgern" und unnützen Essern vergessen sein. Nun ist aber eins klar: Wer glaubt, jenseits des Gegensatzes von Rechts und Links zu stehen, der steht mit Sicherheit rechts von diesem Gegensatz, und da steht die angeblich so tolerante "neue Mitte" heute ganz bestimmt.
Die ach so tolerante Menschlichkeitspolitik steht auf dem Boden eines veritabel rechtsextremistischen Zeitgeistes. Die Grünen überraschen damit, daß sie sogar nach dem Kosovo-Krieg immer noch programmatische Elemente finden, die sie zum Beweis ihrer Regierungsfähigkeit aufgeben können, zur Zeit ist es ihr lange gehegtes "Multi-Kulti"-Konzept. Der neuen Parteivorsitzenden der PDS fiel bei ihrer Wahl als wesentliche Botschaft auch nur noch ein, daß sie Deutschland "liebt" - so enthüllt sich in schlechten Zeiten das nackte Gerippe des alten DDR-Staatssozialismus. Und die kurz vor dem 9. November unter dem Beifall einer grünen Regierungstante von Reklamefachidioten vorgestellte Werbekampagne gut aussehender farbiger Models, drapiert mit dem Fascho-Slogan "Ich bin stolz ein Deutscher zu sein", kann als ein wahrlich deprimierender Höhepunkt für die leer geräumten Köpfe der "Neue Mitte-Akteure" gelesen werden. Deutsch-Sein ist offenbar der letzte Punkt, auf den sich alle einigen können. Und wie schon 1914, als der Kaiser keine Parteien mehr kannt, sondern nur noch Deutsche, reicht die von diesen geeinten, "anständigen" Deutschen lauthals in Anspruch genommene "Toleranz" nicht für die, die sich der proklamierten Einheit nicht unterordnen wollen und es weiterhin wagen, von Unterschieden, gar Gegensätzen zu reden. Als "unanständig" werden die bekämpft, die dem unausgesprochenen Motiv dieser schönen Einheit widersprechen, nämlich der Bereitschaft, auf dem kapitalistischen Weltmarkt für den Standort zu kämpfen. Öffentlich und wohlfeil bekennt sich die neue Mitte dazu, gegen die häßlichen Stiefelnazis zu sein, die den Standort mit ihrer faschistischen Ideologie schädigen, aber unter dem Tisch des neuen, neoliberalen Deutschlands tritt der Staat gemeinsam mit der unterordnungsbereiten Masse nach den Resten der internationalistischen oder antinationalen radikalen Linken, die sich - sofern die Gelegenheit dazu da ist - mit Freuden selbst zersägt.
Es ist derzeit wirklich nicht viel, was die radikale Linke dieser "Neuen Mitte" theoretisch wie praktisch entgegen setzen kann. Ohnmächtig sehen viele dabei zu, wie die Herrschenden sich die gängige linke Rhetorik des "Wir sind die Guten" zu eigen machen, auf der sich zu viele von uns viel zu lange ausgeruht haben. Und der Moabiter Kiezspaziergang der Antifa, der zumindest in seinem Aufruf von der Trauer um die ach so schöne DDR nicht lassen wollte, ist natürlich schon lange nicht mehr Teil einer politischen Konfliktualität, sondern gehört ins Heimatmuseum. Die radikale Linke ist derzeit kein nennenswerter Ausdruck gesellschaftlicher Unzufriedenheit, geschweige denn eines politisch halbwegs formulierten Projekts. Der Schröder-Fischer-Bande ist es nach dem Abgang von Lafontaine gelungen, eine Reihe von zuvor umstrittenen Grundfragen "zu regeln": Im Zuge eines klaren neoliberalen Kurswechsels wurden nacheinander der "Atomausstieg", der Nato-Angriffskrieg, die Steuerreform und das Staatsangehörigkeitsrecht klar gemacht. Und demnächst steht - auch als Nachvollzug der Entwicklung in Westeuropa und den USA - die Verabschiedung eines "Einwanderungsgesetzes" an, das es erlauben wird, für den Standort nützliche Ausländer von unnützen zu unterscheiden und erstere zu Inländern zu machen, die sich in den Konsens der "anständigen" Deutschen einreihen dürfen. Und wehe dem, der sich nicht einreiht ... Das sind alles keine rosigen Aussichten Aber was bleibt einem schon anderes übrig, als sich stets von neuem der nicht einfachen Aufgabe zu stellen, sich frei nach einem Frankfurter Philosophen - weder von der Macht noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen
Timur und sein Trupp
Interim 515 November 2000