Timur und sein Trupp: Interim 329 1995 [ zurück ]
Wir wurden im April 1986 Zeugen der bislang größten bekannt gewordenen Reaktorkatastrophe in der sogenannten "zivilen Nutzung der Atomtechnologie": Der GAU des staatskapitalistischen Atomkraftwerkes Tschernobyl sorgte nicht nur für die auf unabsehbare Zeiten andauernde Verwüstung eines ganzen Landstriches, die Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung und den siechen Strahlentod von Tausenden von Menschen. Das Grauen von Tschernobyl rief auch weltweit Forscher, Bullen und Militärs auf den Plan. Sie ließen sich die "Chance", dieses ersten großen Freilandversuches der Atomenergienutzung seit ihren militärisch motivierten Gründungsverbrechen in Hiroshima und Nagasaki nicht entgehen. Dabei war die eigentliche Katastrophe in Tschernobyl nicht darin zu suchen, daß ein paar betrunkene Techniker mal wieder ein paar Knöpfe nicht richtig zu bedienen wußten. Die Katastrophe bestand vielmehr darin, daß alle damals eingeleiteten "internationalen Hilfsmaßnahmen" von ihrem realen Effekt zwar pure Illusionen aber doch dafür notwendig waren, daß hinterher alles so weitergehen konnte wie bisher: Mit einer neuen Generation von High-Tech-Geigerzählern, Entseuchungstrupps, willkürlich mit Lineal und Zirkel zu Radioaktivätszonen erklärten No-go areas, Bullen- und Militärkontrollen, neuen Forschungsgebieten- und Aufgaben, kurz: Die Bearbeitung der Folgen des Reaktor-GAU´s von Tschernobyl durch die "internationale Staatengemeinschaft" war in der Form eines innovativen Katastrophenmanagements zu erleiden. Und nicht nur der imperialistische zweite Golf-Krieg hat uns gezeigt, wie zukunftsträchtig gerade diese Branche in der einen privatkapitalistisch organisierten Welt geworden ist.
Nach einer Reihe von gescheiterten Anläufen haben die bewaffneten Bullen den Castor, gegen massiven Widerstand von großen Teilen der Bevölkerung durch die Republik geschoben, geschubst und letztlich durchgeprügelt. "Endlich!" wie ein korruptes Fernseharschloch meinte lallen zu müssen. Kein Zweifel: Scheiß Staat! Scheiß Bullen! Scheiß Atommafia! Scheiß System! Schweine sind sie, allesamt dumme Schweine! Das hat zwar vielleicht auch vorher schon gestimmt, ist aber auch jetzt noch unbedingt wahr.
Gegen den nuklearen Terror haben sich in diesem Land seit Jahrzehnten Menschen von über all her, mit allem was sie konnten gewehrt. Die Anti-AKW-Bewegung, war, wenn sie sich denn bewegt hat, immer eine im besten Sinne breite, populistische Volksbewegung, in der sowohl Schrebergärtner, Latzhosenbauern Teile der modernen technischen Intelligenz und auch städtische Autonome ihren Platz, zum Teil auch gegeneinander, beansprucht haben. Und eine Bewegung wäre auch keine Bewegung, wenn sie etwa "sauber" wäre, und sich in ihren Reihen nicht auch da und dort einige Idioten tummeln würden.
Für das eine Ziel eines atomfreien Wendlandes hat die Bi-Lüchow-Dannenberg immer auch eine "intelligente Politik" gemacht und sich dafür auf allen Ebenen mit der Grünen Staaatsbürgerpartei verfilzt. Und doch: Wenn für diesen Teil der Anti-AKW-Bewegung das schlaue Herumtricksen in den Institutionen des bürgerlichen Staates mal wieder verendet war, wurde aus diesen Biedermännern immer mal wieder rebellische Heinzelmänner und Frauen, die ohne große Skrupel den Militanten augenzwinkernd Deckung geben. Was sollten sie auch sonst anderes tun, außer abzudanken ?
Die Vielzahl der nicht mit den Bullen abgesprochenen Anti-AKW-Aktionen der letzten Tage waren für uns alle Grund zu großer Freude und zum teil heller Begeisterung. Sie waren darüber hinaus für die Zukunft äußerst ermutigend und haben uns gezeigt daß ein effektiver Widerstand gegen die herrschende Klasse nicht nur notwendig, sondern an vielen Orten und Stellen in der Republik möglich ist, ohne das damit ein politischer Zusammenhang verloren gehen muß. Viele, viele Leute haben erste oder weitere wichtige Erfahrungen damit machen können, welche Wirkung selbst- und eigenbestimmtes Handeln im Kollektivzusammenhang einer Bewegung gegen die Verhältnisse haben kann. Die aktuellen politischen Grenzen der militanten Anti-AKW-Widerstandsformen liegen aber wohl darin, daß ein modernisiertes privatkapitalistisches System auch in der BRD ohne Atomenergienutzung wird auskommen können. Insofern hilft der aktuelle, auch militante Anti-AKW-Widerstand, zumindestens in dieser einzelnen Frage, ob er nun will oder nicht - den Reformisten und den Modernisierern in den Institutionen auf die Sprünge. Letztlich ist es aber fast egal, wer die Atomenergienutzung so schnell als möglich stillegt. Das ist allemal besser als vielleicht in naher Zukunft als strahlenverseuchtes Opfer eines Atomunfalls auf Miltär-LKWs in ein Lager für Ökoflüchtlinge deportiert zu werden.
Timur und sein Trupp
Interim 329 1995