Timur und sein Trupp: Interim 463 November 1998 [ zurück ]
So oft hat man einen Bundesregierungswechsel in der ultrastabilen BRD nicht erlebt: Das gab`s 1969 als Reaktion auf die Studentenrevolte und im Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer außenpolitischen Neuorientierung gegenüber dem Ostblock; und dann 1982/83, als das Regime des Helmut Schmidt wegen des drohenden Zerfalls der SPD durch die Friedensbewegung am Ende war, und sich damit der NATO-Hochrüstungskurs gegen die Sowjetunion nicht mehr durchsetzen ließ. Doch, mit Verlaub, warum gibt es jetzt einen, so ganz deutlich ist das nicht. Weder rüttelt derzeit eine Massenbewegung an der Loyalität zur Regierung - vielleicht mit Ausnahme einer rechtsradikalen, die allerdings organisatorisch erfreulich zersplittert ist -, noch steht eine gravierende außenpolitische Neubestimmung an. Allenfalls das ganz verkehrte Massenbedürfnis nach "Arbeit" - was immer das sei, - mit dem allein die Existenz menschlicher Wesen in diesen Breitengraden sich zu begründen hat, könnte eine Erklärung zumindest für die Abwahl des alt gewordenen Kohl abgeben. Vielleicht ist aber auch einfach nur der diffuse Wunsch anonymer Wählermassen nach einem Wechsel, der einfach für sich Erleichterung schafft, ohne daß damit schon irgend etwas über den Inhalt ausgesagt wäre. Gefördert werden solche diffusen Wünsche natürlich durch die findigen Nasen der Massenmedien, die ohnehin immer mal wieder andere Grins-Gesichter erfinden müssen, die sie als Futter für neue Stories durchbraten können.
Und so wird nun, am Ende des 20. Jahrhunderts ein einmal das "kapitalistische Wirtschaftssystem überwinden" wollender Ex-Juso Kanzler und das begleitet von einem ausgefuchsten Bücherdieb aus dem 70er-Jahre-Sponti-Frankfurt als Außenminister, der es schon ruck-zuck gelernt hat, die "Kontinuität deutscher Außenpolitik" im Fall des arrretierten Mörder-Bandenchefs Pinochet durch Schweigen fortzusetzen. Und auch dem KB-Nord ist es gelungen, ein Mitglied seiner Organisation an führender Stelle im Bundesumweltministerium zu plazieren. Und egal was man von einem Innenminister Schily sonst noch halten mag, es bleibt einfach sein Verdienst, als Rechtsanwalt zu Beginn der 70er Jahre die ersten RAF-Programmatiken aus dem Knast geschmuggelt zu haben, und sogar die Dauerentschuldigungspartei PDS darf sich in dieser Anordnung im Bundestag tummeln.
Natürlich haben die unten von denen da oben nichts "Gutes" zu erwarten. Doch damit hört die Politik nicht auf, sondern fängt nur erneut wieder an. Natürlich werden jetzt ein paar hundert Grüne ihren Arsch mit vielen schönen Posten noch ein wenig mehr verstaatlichen und damit in Sicherheit bringen. Das ändert aber auch nichts daran, daß hinter ihnen zwar viele Wähler aber eben keine aktive Massenbewegung steht, die irgendwie gemeinsam auf Gesellschaftsveränderung hin Druck machen würde. Das wird man spätestens dann merken, wenn die neue Regierung daran geht, ein paar ihrer "guten Absichten" verwirklichen zu wollen, und es der sich schon bald wieder organisierenden politischen Rechten oder dem ohnehin vorzüglich organisierten Monopolkapital nicht paßt. Da braucht man nur an Clinton zu denken. Der ist `92 mit dem Versprechen und der Hoffnung von zig Millionen armer Amerikaner gewählt worden, eine Krankenversicherung einzuführen. Nachdem das Monopolkapital dieses Projekt mit einer effizienten Kampagne zerstört hat, hat es Clinton inzwischen dazu gebracht, den Sozialhilfeanspruch von Millionen von Amerikanern zu liquidieren.
Klar ist, und das muß bedacht werden, daß die nachfolgenden Gedanken hier unter dem Vorbehalt stehen, daß hinsichtlich der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise sowie dem damit einhergehenden Zerfall und der ursprünglichen Akkumulation in der ehemaligen Sowjetunion sich auch nicht die geringste Vorhersage treffen läßt, welche Rückwirkungen das unter Umständen hier haben kann. Sicher wäre in diesem wirklichen verflucht komplizierten Zusammenhängen nur, daß die Auseinandersetzungen hier andere werden, wenn sich die Bundesregierung dazu entschliessen sollte Bundeswehrsoldaten in Sachen NATO-Kampfeinsatz in den irr kichernden Bosnien-Bürgerkrieg zu schicken. Und das gilt in besonderer Weise für die Grünen, die sich dann offen in die zur Kriegspartei transformierte BRD einreihen.
Die alt gewordene Autonomen-Generation ist von den Grünen-Funktionären historisch nur den Schlag einer Wimper entfernt. Die Grüne Partei war einmal der legale Arm aller möglicher Bewegungen. In einer umgekehrten Betrachtungsweise war die autonome Bewegung schon länger der äußerst ungeliebte illegale Arm der Grünen, die nun auch noch zur Regierungspartei geworden sind. Was macht man jetzt daraus. Alles was jetzt (nicht) passiert, passiert durch uns oder eben gar nicht. In den Koalitionsvereinbarungen zwischen der SPD und den Grünen sind eine Reihe guter Absichten aufgeschrieben worden, die natürlich, was ihre Umsetzung angeht, völlig diffus gehalten sind. Wenn es keinen Druck oder eher Gegendruck aus der Gesellschaft in diese Richtung gibt, wird mit diesen Absichten überhaupt nichts passieren. Über die Realisierung dieser Versprechen wird wahrscheinlich im Verlaufe des nächsten Jahres gestritten. Spätestens dann wäre es richtig, sich irgendwie einzumischen. Dabei muß es zunächst einmal nicht von vornherein verwerflich sein, für einen kurzen historischen Moment der nützliche Idiot für ein paar von den Grünen proklamierte Ziele zu sein. Und doch wäre die Idioten-Rolle, die immer zunächst denen zukommt, die gegen die Macht aus der Minderheit heraus kämpfen, etwas anderes als die Rolle das Gewissen der Grünen Partei, die immer mal wieder von Parteitage besuchenden AKW-Gegnern probiert worden ist.
So wäre es spätestens im nächsten Jahr unsere Aufgabe, den schon halbtoten Opa Atomkraft endgültig zu erschießen, für das freie Aufenthaltsrecht von Flüchtlingen und Migrantinnen zu streiten, zu sagen, was man eigentlich mit dem zunehmend privatisierten aber doch eigentlichen öffentlichen Raum will, wie man sich Geschlechterverhältnisse ohne Diskriminierung, Funktionalisierung und Unterordnung wünscht, und welche Vorstellungen man überhaupt gegen die Armut und die Fronarbeit von einem reichen, glücklichen und scheenen Leben hat.
Dafür braucht es nicht nur unsere Low-Budget-Orga-Fähigkeiten, ob nun in Köln, Hamburg oder Zittau, sondern die erneute Anstrengung für mindestens einen Gedanken an Gesellschaftsveränderung. Die soziale Frage muß von uns neu durchbuchstabiert werden. Und zwar anders als in den Vorstellungen eines radikalisierten Co-Management-Facharbeiter-Verständnisses von SPD und Gewerkschaften oder des feminin-tolerant angehauchten Mittelschichtlifestyle der privategoistisch orientierten grünen Wählerschichten. Ohne diese Anstrengung bleiben all´ die einzelnen Kampagnen, Aktionen und Demos bloß zusammenhanglose Gesten. So etwas wie das gedankenlose Treideln in die im nachhinein nur dumm zu nennende Linksradikalen-Machtfrage aus dem Momper-AL-Jahr 1989 muß vermieden werden. Damit würden wir der neuen Regierung nur die Steilvorlage dafür geben, uns nach Herzenslust und zur Freude anderer gesellschaftlicher Kräfte zu isolieren und zusammenzuschlagen. Wobei die Alternative allerdings realpolitisch nicht die ist, auf keinen Fall zusammengeschlagen zu werden, sondern nur die, so zusammengeschlagen zu werden, daß es der neuen Regierung im Ergebnis bei ihren Sympathisanten maximal schadet; der Noske-Flügel der SPD in Gestalt von Figuren wie Glogowski und Dewes hat mit Zusammenschlagen etc. ohnehin noch nie Probleme gehabt, und der Selbsthaß desjenigen Teils der Grünen, der sich einmal linksradikal bewegte und durch uns daran erinnert wird, daß sie einmal etwas besseres gedacht und getan haben, wird dafür groß genug sein. Und die in jener Postenverteilungspartei nachgewachsene Yuppie-Generation versteht diese Auseinandersetzungen auf der politischen Linksachse ohnehin nicht, und wird daher um so mehr befürworten, was ihnen der nett-legere Polizeipräsident empfiehlt.
Vielleicht bekommt die älter gewordene Autonomen-Generation doch noch etwas besseres hin, als Hochzeitsparties, deren ironisch-sein-wollendes 50iger-Jahre-Design auf grausige Weise zum todernsten romantische-Liebe-privat-Kitsch gerinnt, oder subkulturelle Gemeinschaftszusammenkünfte, die so tun, als seien sie politisch. Auch eine noch so grundanständige, aber politisch natürlich völlig perspektivlose Antifa-Politik und Moralbanden-Antira-Praxis wird uns da nicht weiterhelfen. Schließlich geht es doch immer noch darum, nicht die Gesellschaft zu regieren, sondern zu verändern. Sputen wir uns!
Das schreckliche 20. Jahrhundert geht schneller zu Ende als man so denkt. Aber das 21. kommt.
Timur und sein Trupp
Interim 463 November 1998