Timur und sein Trupp: Interim 472 Frühjahr 1999 [ zurück ]
In der letzten Ausgabe der Interim kurz vor Weihnachten wurden wir durch das Konterfei des ehemaligen DKP-Freundes Martin Walser erschreckt, das mit dem Wort "Arsch" versehen war. Diese senile Schwatztüte wurde derart präsentiert, weil eine "Antinationale Fraktion" sich wieder einmal dazu entschieden hatte, ausgerechnet in der Interim ein wenig Schabernack zu treiben. Unter der Überschrift "Endlösung der Vergangenheitsbewältigung" - eine Formulierung, die vermutlich auch als ideologiekritischer Leckerbissen gemeint war -, widmeten sie der Auseinandersetzung um die Walser-Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels drei Seiten ihres Jahresabrisses '98. In dieser Auseinandersetzung ergreifen sie Partei, weil sie es als ihre Aufgabe ansehen, dafür zu sorgen, daß "die Sprachlosigkeit sich nicht weiter so permanent von links hält". Und so wird von den 'Antinationalen' das schwierige und komplizierte Vorhaben, einen Umgang mit Auschwitz zu finden, einfach in die Ordnung und Beruhigung stiftende Rechts-Links-Politik-Folie eingetütet. Weil den GenossInnen nicht mehr als diese beiden Koordinaten zu Gebote stehen, wird Ignatz Bubis, der ökonomisch neoliberal optiert und politisch der FDP angehört, einfach der "Linken" eingemeindet. "Außer Ignatz Bubis" sei "niemand zu einer vernünftigen linken Position in der Lage" gewesen, schreiben die GenossInnen. Das läßt uns doch etwas trocken schlucken. - Zunächst einmal ist es völlig unautonom zu glauben, daß es nötig ist, für die eine Partei - Bubis - deshalb einzutreten, weil die andere Partei - Walser - eine selbstgerechte und in schlechtem Sinne antipolitische Position vertreten hat. Das führt nämlich wirklich nach Nirgendwo: Bubis wird der Status des Guten zugesprochen, bloß weil er zu den Opfern gehört, bzw. eine der Opfergruppen repräsentiert. (Damit wollen wir nicht sagen, daß den Opfern nicht Wiedergutmachung, Respekt etc. gebührt, aber jemand hat schon nicht deshalb politisch recht, weil er/sie Opfer ist.) Der spontan so häufig eingenommene Standpunkt, daß die Opfer die Guten sind, weil die Täter ja die Bösen sind, stellt das Denken still und motiviert ohnmächtiges und falsches Handeln.
Warum finden wir es falsch, daß die Antinationalen meinen, sich hier auf eine der beiden angebotenen Seiten zu stellen? Hier unsere Antwort: Die VertreterInnen beider Parteien scheinen vor allem anderen eines vermeiden zu wollen, nämlich daß es zu einer Bewegung in den Köpfen kommt, die eigenständiges Denken und politisches Handeln möglich macht, das die gegenwärtig zahlreichen ideologischen und praktischen Strömungen angreift, die denen sehr ähnlich sind, aus denen die historische Nazi-Ordnung ihre Kraft bezogen hat. Zwischen der ach so demokratischen BRD auf der einen Seite und der 1945 beendeten Nazi-Herrschaft auf der anderen Seite ziehen beide Parteien einen so tiefen und dunklen Graben, daß man sich kaum vorstellen kann, daß beide staatlichen Ordnungen in der gleichen Gesellschaft und auf demselben Territorium verwirklicht werden konnten.
Diejenigen Lobbyisten und gutwilligen BürgerInnen, die für das öffentlich vorgegebene Gedenken votieren, erreichen damit paradoxerweise, daß Auschwitz der Denk- und Analysierbarkeit entzogen wird; der überwiegende Teil des bisherigen BRD-Gedenken-Kults beschwört Auschwitz als das negative ganz Andere der deutschen Geschichte und schiebt es so gleichzeitig weg. Gedenken heißt keineswegs Nachdenken. Es aktiviert nicht Auseinandersetzung, sondern zwingt zur bedingungslosen Unterordnung unter eine vorgegebene Deutung. Wer hier eine Frage stellt, stört. Gedenken ist ungefähr auf dieselbe Weise politisch wie das Beten in der Kirche. Es hebt den Konformismus nicht auf, mit dem die Einzelnen auch vorher in der fremdbestimmten Masse aufgegangen sind. Es polt sie einfach um. Was gestern Tätermeute war, kann heute Büßermasse werden, - und umgekehrt. Die Einzelnen werden im kollektiven Ritual unselbständig. Selbständig, das glauben zumindest wir, werden sie erst in der gesellschaftlichen, in der politischen Auseinandersetzung.
Die Partei, die Walser repräsentiert, will anstelle des kollektiven Gedenkens das private Erinnern setzen. Diese Partei ist sehr groß. Denn ihr gehören nicht nur antipolitische Authentizitätsfetischisten wie der Großschriftsteller selbst an, sondern auch all die mehr oder weniger Glatzköpfigen, die als Angehörige einer selbstbewußte Nation wieder wer sein wollen; bedauernswerte Menschen, die glauben, es von sich aus nicht zu schaffen, wer zu sein. Und diese Gruppe erstreckt sich schließlich von Rechtsextremen aller Klassen und Bildungsstufen bis zu unserem neuen stoß- und gedankenresistenten Hohlkammerkanzler. All diese Leute wollen mit Auschwitz nichts mehr zu schaffen haben und wehren sich agressiv gegen eine öffentliche Auseinandersetzung. Wie das Mitmachen unserer Großväter und -mütter jeweils motiviert war, wer profitiert hat und warum die Nazis sogar glauben konnten, richtig zu handeln, wollen nicht nur diese Idioten, sondern auch sehr viele Angehörige der Gedenken-Partei lieber gar nicht wissen. Die älteren von uns kennen sie alle noch: Männer und Frauen, die kopfschüttelnd "Schlimm" murmeln, wenn es um Auschwitz und den Wahnsinnskrieg der Nazis geht, die aber nie etwas erzählen aus dieser Zeit, obwohl sie sie miterlebt haben.
Das Abwürgen des Nachdenkens, des Streits und der Auseinandersetzung im öffentlichen Raum um die von der Bevölkerung getragenen Taten der Nazis entweder durch Vorgabe eines bleiernen und mit frischem und naivem Rassismus völlig kompatiblen Gedenkenkults oder durch die Verjagung in die Privatheit des stillen Erinnerns ist sowohl Ursache für die Hilflosigkeit der traditionellen antifaschistischen Positionen in der BRD (und der DDR) als auch für die fatale Anziehungskraft, die der neue Nationalismus quer durch alle Klassen, Bildungsstufen und Generationen auf Personen mit deutschen Personalpapieren ausübt.
Das generationsbedingte Verschwinden der am Holocaust Beteiligten löscht das Erinnern langsam aus. Was bleibt, ist Medialisierung und Virtualisierung. Wenn der Streit um den Talk des aufgeblasenen Walser etwas deutlicher als zuvor herausstreicht, dann ist es der Umstand, daß auch hier in Zukunft in einer Art Shoah-Business durch Seifenopern à la Spielberg und à la Washingtoner Holocaust Museum, wo man mit einer Karte "verfolgter Jude" spielen darf, eine größere Rolle spielen werden. Und es ruft ja in der Öffentlichkeit auch nur noch nachsichtiges Kopfschütteln hervor, wenn Gerhard Schröder sich doch allen Ernstes ein Mahnmal wünscht, "wo die Leute gerne hingehen". Das hat der wirklich gesagt, und kam sich wahrscheinlich sogar noch ziemlich schlau dabei vor, auf Geheiß seiner Medienberater die "Message positiv 'rüberzubringen". Da wünscht man sich doch fast den dicken katholischen Kohl zurück, der in seinem kitschigen Pathos sogar an seine eigene Rührung glaubte, und damit zugleich die ganze Hilflosigkeit eines wie auch immer gearteten Gedenkens gerade an Auschwitz augenfällig demonstrierte.
Eine autonome Position zum Gedenken an Auschwitz sollte sich dem Pro oder Contra Mahnmal-Talk verweigern. Diese Debatte spielt die Rolle von so etwas wie einem Gesichtspeeling im Rahmen einer großen Regenerations- und -entschlackungskur für das neue Deutschland. Deutschland soll sich mit seinem neuen Hauptstadtgesicht wieder sehen lassen können und die emsig debattierenden Intellektuellen, seien sie neu-selbstbewußt oder alt-bundesrepublikanisch-vorsichtig, tun nichts anderes als zur Normalisierung der Staatsfratze beizutragen, die Berlin für viele staatstragende Europäer immer noch ist. Da wird dann festgestellt, daß der Rechtsradikalismus ganz normal ist, die Franzosen haben ja schließlich auch Rechtsradikale - und rumms: der deutsche Rechtsradikalismus ist plötzlich nicht mehr so schlimm, weil er nichts mehr mit dem Nazismus zu tun hat, sondern einfach ein gaanz normales europäisches Phänomen ist. Also, pourqui pas wieder ein bißchen nationalistisch sein? Das denken die einen genauso wie die anderen. Die einen, weil sie selbst Lust auf Nation und starken Staat haben, die anderen weil sie über ein sorgfältig gespaltenes Bewußtsein verfügen: auf der einen Seite gedenken sie Auschwitz, sowieso Staatsreligion der alten BRD, und auf der anderen Seite sind sie auf dem rechten Auge liberal und tolerant: die Rechtsradikalen, das sind ja nur arme Arbeitslose.
Autonom wäre eine Position, die sich dem genau damit einhergehenden Standpunkt der Beruhigung verweigert; eine Position, die unvorhergesehen Räume kreuzt, die sich der neuen staatlichen Normalität verweigert und im Alltag überall dort nervt, wo Schwafel, Obrigkeitshörigkeitsreflexe und brutale Erfolgs- und Standortmunterkeit herrschen. Autonom wäre eine Position, die Nein sagt zu einer Wallfahrtskirche für wohlfeiles Neigen des Hauptes um einige Grade mit "hohen Würdenträgern", Bullen und Soldaten in gewienerten Uniformen in vollem Wichs, für langatmige Pro- und noch mehr Pro-Besinnungsreden, wo alle irgendwie betroffen gucken, und manche handverlesene Jugendliche vielleicht sogar auch noch ein bißchen weinen dürfen, wenn die Fernsehkameras auf ihr Gesicht halten. Wunderbar nerven würde dagegen die Verwirklichung einer ganz anderen Gedenkstätte, an der niemand, der die BRD mit dem Auto quert, vorbeikommen würde: In der Mitte der Republik irgendwo bei Kassel sollte ein Kilometer Autobahn mit Kopfsteinen gepflastert werden, damit die AutobahnnutzerInnen dort an die ermordeten Juden, Sinti und Roma, Schwulen, Kommunisten und anderen Umgebrachten denken, während es dort für sie irgendwie nicht mehr so weiter geht wie bisher.
Timur und sein Trupp
Interim 472 Frühjahr 1999