Timur und sein Trupp: Interim 472 Frühjahr 1999 [ zurück ]
Demnächst trauen sich die Redaktionen der Zeitschriften arranca und analyse und kritik doch wirklich, in der Humboldt-Uni unter dem eigentlich schönen Slogan: "Schluss mit dem Stress" eine sogenannte "Arbeitskonferenz" zu veranstalten. Und die soll "für Existenzgeld und eine radikale Arbeitszeitverkürzung" eintreten und "zur Kritik der Lohnarbeitsgesellschaft" motivieren. Da wir uns bekanntlich dafür zuständig fühlen, blitzschnell eine Meinung zu haben, denken wir uns, daß das im Prinzip eine gute Idee ist. Im Unterschied zu der "Lohnarbeits-AG" auf dem Autonomie-Kongress 1995, wo viele alt gewordene GenossInnen einen sentimentalen Abschied aus der Jugendbewegung zelebriert haben, indem sie sich wechselseitig einfach über ihre jeweilige Lohnarbeit erzählten, ohne daran auch nur den kleinsten politischen Gedanken auszuprobieren, könnte eine solche Konferenz vielleicht den Raum dafür öffnen, nicht einfach nur resignativ zu erzählen, sondern sich, na was wohl, politisch über gesellschaftliche Perspektiven aus der Lohnarbeit zu streiten.
Aber die schriftliche Ankündigung der Konferenz ist in dieser Hinsicht nicht sehr vielversprechend: Kaum hatten wir das vierseitige Einladungspapier gelesen, zerplatzte unsere Hoffnung auf mehr oder weniger zugespitzte Auseinandersetzungen auf dem geplanten Kongress wie eine Seifenblase. Gleich die zweite Überschrift im Papier, "Vorsicht Ambivalenz" (der die erläuternde Bemerkung "Politische Gebrauchsanweisung zur Existenzgeldforderung" hinzugefügt ist) verrät die zum Einschlafen vorsichtige Strategie der VeranstalterInnen: Statt mit profilierten Standpunkten innerhalb von Widersprüchen und Kontroversen sind wir mit einer - wahrscheinlich auf Ausgewogenheit oder vielleicht sogar höfliche Unparteilichkeit bedachten - abwägenden Betrachtung von "Ambivalenzen" konfrontiert. Und, das wissen wir alle, angesichts von Ambivalenzen können wir uns ja immer sehr schlecht entscheiden, sind eher hin und her gerissen als einigermaßen klar positioniert. Und richtig, ganz passend zur Überschrift lesen wir eine Darstellung, der anzumerken ist, daß ihre AutorInnen es sich offenbar wirklich mit niemandem verderben wollen. Sozialwissenschaftlich ambitioniert führen sie zunächst einmal Fachbegriffe wie "Globalisierung" und "Postfordismus" ein, zählen danach "verschiedene Diskurse zum Existenzgeld" auf, reihen dann brav "verschiedene Praktiken wie feministische Politik, JoberInnen-Inis, Antirassismus-Arbeit" auf, und erwähnen schließlich auch noch die "Marxistische Kritik". Etwas sibyllinisch heißt es, diese Kritik weise auf eine "Lücke" hin, die, und das sollten wir dann wohl bedenken, "niemals im Singular auftaucht". Am Schluß der kleinen Abhandlung geben uns die AutorInnen den entscheidenden Hinweis: "Im Rahmen der Arbeitskonferenz tauchen diese Fragen in unterschiedlichen AGs auf. Wie sie diskutiert und beantwortet werden, liegt an den Teilnehmerinnen". Wie bitte? Es ist zwar mehr als klar, daß was in den AGs geredet wird, an den TeilnehmerInnen hängt, aber warum muß das hier so beschwörend erwähnt werden? Und wo sind die Vorschläge, die Positionen und Anforderungen der InitiatorInnen? Haben wir es hier etwa schon wieder mit einem Ausdruck jener Dauerlähmung zu tun, die aus der richtigen und unserer Meinung (!) nach total mißverstandenen Anforderung hervorgegangen ist, daß niemand den/die andere/n unterdrücken soll? Fürchten sich die InitiatorInnen der Konferenz, ihnen könnte vorgeworfen werden, sie würden die KonferenzbesucherInnen unterdrücken, wenn sie ihnen eine eigene Position zu den verhandelten Fragen vorlegen würden? Beschwörungen wie die zitierte klingen jedenfalls, als wollten sich die Konferenzinitiatoren von niemanden für nichts, aber wirklich für gar nichts, was auf dieser Konferenz möglicherweise gedacht und gemacht wird oder werden könnte, verantwortlich machen lassen. Oder ist die Vorsicht der InitiatorInnen Ausdruck des allfälligen Bestrebens, auf Teufel komm raus den Streit im eigenen Lager zu vermeiden?
Auf jeder Seite des Konferenzeinladungspapieres ist die Computer-Grafik eines jungen, fitten, turnschuh- und Basecap-tragenden "Autonomen"-Kerlchens abgebildet, das über eine Mauer klettert. Ob es jenseits der Mauer etwas neues anfangen will, oder ob es einfach nur abhaut, bleibt ein Rätsel. Ob es sich auf dem Weg zur kulturell codierten Eigenvermarktung in der expandierenden Medienindustrie macht? Oder ob es vielleicht gerade von der einsamen Tätigkeit des Einklauens, zurückkommt? Allein ist es jedenfalls, vielleicht ist sein graphisches Einzelgängertum auch eine Antwort darauf, daß die Kollektivitätsformen der 80iger in keine befreiende Politik gemündet sind. Nimmt man das Kerlchen als Symbol für die Existenzweise der KonferenzbesucherInnen (vereinzelt und hochmobil), dann läßt sich vermuten, daß es - vorbehaltlich eines möglicherweise noch zu erwartenden Erbes - arm an Geld, dafür aber reich an Jugend, Kontakten, Sexualität und Gesundheit ist, und daß es manchmal sicher auch im Internet surft. Abgesehen davon, daß jede/r WerbegraphikerIn das Kerlchen bestimmt für etliche Kampagnen gut gebrauchen könnte, müssen wir uns allerdings fragen: Wollen wir diese hochmobile und durchtrainierte Existenzweise wirklich feiern? Oder geht es vielleicht eher darum, die Verführung zurückzuweisen, uns selbst mit den Bildern von Stärke und Geschwindigkeit zu identifizieren, die doch nur dazu auffordern, ganz von uns selbst aus (im doppelten Sinne frei, wie das Karl Marx damals treffend genannt hat) an den Arbeitsmärkten zu reussieren, - solange wir können ...? Wir ahnen da eine seltsame Berührung: Kann es sein, daß einige von uns, individualisiert, älter werdend und ganz unbewußt vom verbreiteten Ideal der Smart- und Coolnes geleitet, die Lohnform aus der Perspektive künftiger ökonomische Selbständigkeit kritisieren?
In dem Einladungspapier findet sich nicht ein einziges Wort zu den Erwerbslosenprotesten aus dem letzten Jahr, an denen sich - nebenbei gesagt - ja auch die Organisation Fels beteiligt hat. Schon vergessen, Schnee von gestern? Immerhin haben sich da wenigstens zeitweise ein paar tausend Leute "irgendwie" in der Öffentlichkeit versammelt, um "irgendwie" gegen ihren Ausschluß von den gesellschaftlichen Reichtümern zu protestieren. Warum ist diese Form gescheitert, warum mußte sie vielleicht scheitern, oder ist sie vielleicht lediglich unter bestimmten Bedingungen an ihr nur vorläufiges Ende gekommen? Die Konferenz wäre eine gute Gelegenheit gewesen, das schnelle Versinken dieses gesellschaftlichen Protests einmal unter die Lupe zu nehmen. Wenn man einen Zusammenhang herstellen will zwischen dem, was man gestern getan hat und dem, was man heute tut, und zwar um herauszufinden, was man morgen tun will, dann kann es doch nicht ausbleiben, daß man untersucht, warum bestimmte Kämpfe gescheitert sind, vielleicht scheitern mußten .... Auch der gescheiterte Versuch der nicht immer und an allen Stellen nur nominellen Ostblock-Sozialismen, die Lohnarbeit in irgend etwas besseres zu verwandeln, ist den InitiatorInnen keine AG wert ... Kurz: Irgendwie fehlt uns im ganzen Programm die Dimension des Überlegens für die Zukunft des eigenen Handelns. Für was betrachten die Organisatorinnen ihre "Arbeitskonferenz" eigentlich als Zwischenetappe? Wenn`s schon öffentliche Manifestationen nicht sind oder vielleicht aktuell auch nicht sein können, so könnte man dort doch wenigstens versuchen, mit Hilfe von Begriffen ein paar Gedanken für die Zukunft schärfer zu formulieren. Auch wenn die politischen Handlungsspielräume im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Armut in den Metropolen derzeit denkbar gering sind, so könnte ein Verdienst der Konferenz doch darin liegen, einen Durchgriff auf die tatsächliche politische Ökonomie der an ihr teilnehmenden Individuen zu entfalten.
Niemand wird wohl widersprechen, wenn wir sagen, daß der gegenwärtige Kapitalismus ohnehin die fordistischen Hochlohnarbeitsformen insoweit praktisch kritisiert, als er sie abzuschaffen versucht. Das ist der Horizont, in dem jedes Reden über "Lohnarbeit" sich bewegt. Und wir vermissen in der Einladung der Konferenzistas den Versuch, das Thema "Lohnarbeit" mit der Kritik des gegenwärtigen Kapitalismus zu vermitteln. Kurz: Wir vermissen den Versuch einer Kritik der politischen Ökonomie auf der Höhe der Zeit. Praktisch haben die Vielen, die nach dem Ende des kalten Krieges vom Kapital überflüssig gemacht wurden, zur Zeit keine großen Möglichkeiten zu Handeln. Der (reale) Sozialismus ist in der Weltpolitik kein durch die Sowjetpanzer beglaubigter ideologisch-politischer Anspruch mehr. Darüber hinaus scheidet für die überflüssig Gemachten und Verstreuten der Streik als Waffe aus. Wenn ihr schwacher Arm es will, steht keine der heutigen high-tech-Produktionsstätten mehr still. Wie also können sie sich Gehör verschaffen in dieser Welt?
Die kulturellen Visionen von Gleichheit und Gerechtigkeit, die die beiden politisch dominanten Strömungen der Arbeiterbewegung, der Leninismus-Stalinismus und die Sozialdemokratie vertreten haben, erscheinen am Ende dieses "kurzen Jahrhunderts" (Hobsbawm) blamiert. In welchem Verhältnis sollen die Ziele Gerechtigkeit und Gleichheit in Zukunft zu Vorstellungen von Reichtum und Freiheit stehen? Ist Kollektivität ein erstrebenswertes Ziel, und in welchem Verhältnis steht sie zur Selbstbestimmung der Einzelnen? Diese Fragen müssen wir unbedingt diskutieren, um endlich wieder erste Skizzen eines Gegenbildes zum gegenwärtigen Kapitalismus zu entwerfen. Wie können wir es schaffen, selbstbestimmte Abhängigkeit machtvoll dem scheinbar übermächtigen Ideologiiedal vereinzelter Individualität der privat wirtschaftenden, auf Kosten der Armen reich gemachten EgoistInnen entgegenzusetzen. Die Vermittlung von diesen Zusammenhängen muß es schon mindestens sein, wenn man und frau an einem schlichten Gedanken von "Glück und Befreiung" und einem "guten Leben" - manche nennen es immer noch Kommunismus - festhalten will.
Timur und sein Trupp
Interim 472 Frühjahr 1999