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Argentinien: Basisdemokratische Organisierung der Menschen

Die Proteste der vergangenen Wochen und Tage bleiben nicht
wirkungslos. Teile der Bevölkerung Argentiniens organisieren sich
basisdemokratisch. Hier die Übersetzung eines beeindruckenden
Indymedia-Argentina-Berichtes über eine "Volksversammlung" in
Rosario.

Die protestierende Bevölkerung Argentiniens organisiert sich
basisdemokratisch! Hier die Übersetzung eines Berichtes aus
Indymedia Argentina über eine der "Volksversammlungen", die in
Rosario stattgefunden hat:

"Rosario: Bericht von der heutigen Versammlung
by ernesto 9:59pm Wed Jan 2 '02 (Modified on 4:29am Thu Jan 3
'02)

In Rosario (Anmerkung: Großstadt, ca. 300 km im Norden von
Buenos Aires gelegen) haben die "Kochtopf-Demonstrationen"
begonnen, eine Stimme zu erhalten. Besser gesagt: die
Menschen, die in den vergangenen Tagen auf die Straße gegangen
sind und auf Kochtöpfe etc. geschlagen haben, haben einen Schritt
mehr getan und haben angefangen, sich zu organisieren.

Die "Stimme der Kochtöpfe"

Am Mittwochvormittag unterhielt sich der Journalist Marcelo
Zlotogwiazda (alias "der Unaussprechbare") im Rahmen eines
Gespräches mit dem Abgeordneten Soria über die Schwierigkeit,
die konkreten Forderungen der DemonstrantInnen zu erfassen.
Denn Kochtöpfe sprechen nicht. Eigentlich sagen sie viele Dinge,
aber sehr unterschiedliche, abhängig davon, wer sie hört, ändert
sich der Sinn ihrer Aussage.

In Rosario beginnen die Kochtöpfe, eine Stimme zu haben. Besser
gesagt: die Menschen, die in den vergangenen Tagen auf die
Straße gegangen sind und auf Kochtöpfe etc. geschlagen haben,
haben einen Schritt mehr getan und haben angefangen, sich zu
organisieren. Der Vorschlag entstand im Laufe der Kochtopf-
Demonstration am Freitag, dem 28., um den Protesten Kontinuität
zu verleihen. Am Mittwoch, um 19 Uhr fand unter der Bezeichnung
"Volksversammlung" die zweite dieser Zusammenkünfte statt.

Der Aufruf

Gegen 19 Uhr kamen die ersten Menschen zum Amphitheater der
Stadt Rosario, das im Park Urquiza gelegen ist. Gegen 19:30
wurde offensichtlich, dass der Aufruf bedeutend war. Mehr als 600
Personen, zumeist Einwohner der Innenstadt, näherten sich dem
Ort der Zusammenkunft. Die erste Versammlung hatte aus nicht
mehr als 200 Menschen bestanden. Es gab Menschen aller
Altersgruppen, insbesondere viele junge. Die Versammlung dauerte
bis nach 22 Uhr.

Was wurde besprochen?

Es gab sehr viele Redebeiträge und es ist schwierig, eine
Zusammenfassung zu erarbeiten, da es sehr viele erwähnenswerte
Redebeiträge gab. Ich werde versuchen, dass Wichtigste
darzustellen.

Von vornherein wurde gesagt, wie wichtig es sei, weitere
Versammlungen durchzuführen. Es wurde betont, dass es wichtig
sei, dass alle Nachbarn und Bürger an diesem Freiraum Teil haben
sollen. Politisch Militante und Gewerkschafter könnten ebenfalls
teilnehmen - dieser Freiraum ist offen - sie müssen allerdings als
Individuum oder Bürger teilnehmen. Auf diese Weise sollte die
Gleichheit aller unterstrichen werden.

Es wurde über die Notwendigkeit gesprochen, eigene
Verbreitungsmedien, wie z.B. eine eigene Internetseite, zu
unterhalten.

In Bezug auf die Situation des Landes wurden folgende
Forderungen formuliert:

Weg mit dem Gericht: Dass alle Mitglieder des Obersten
Gerichtshofes entlassen werden.

Sofortige Wahlen: Dass sofortige Wahlen in transparenter Art und
Weise und ohne "Ley de Lemas" (Anmerkung: Dieses Gesetz
regelt u.a. die Präsidenten-Nachfolge bei Amtsniederlegungen)
stattfinden.

Eine Frau schlug vor, dass schlagkräftige Demonstrationen vor
privatisierten Unternehmen und Banken stattfinden sollen. Eine
andere Frau, die von außerhalb der Stadt zu der Versammlung
angereist war, forderte, dass die Zahlung von Steuern sofort
eingestellt werde und bezeichnete die privatisierten
Dienstleistungsunternehmen als Wucherer. Eine dritte Frau
äußerte, dass wir schließlich aufgehört hätten, wegzuschauen und
beginnen würden, am Leben des Landes Teil zu haben.

Ein Arzt im Praktikum aus einem öffentlichen Krankhaus von
Granadero Baigorria, klagte die Pharmakonzerne an, die mit der
Wirtschaftlage des Landes spekulieren und die Versorgung der
Bevölkerung mit den elementarsten Mitteln wie Mullbinden und
Verbänden verhinderten würden.

Ein Landwirt aus Arroyo Seco hielt einen Redebeitrag, der sehr viel
Beifall erhielt. Er rechnete vor, dass, wenn man die
Gesamtgetreideproduktion des Landes auf die Einwohner
umrechnen würde, jeder Einwohner 2 Tonnen jährlich erhalten
würde, weshalb es keinen Grund dafür gäbe, dass Menschen
hungern. Er sagte auch, dass 70% der Produktion aus dem Süden
Santa Fes (Anmerkung: Provinz Argentiniens) durch den Hafen
direkt ins Ausland verschifft würden, zumeist unbearbeitet, womit
wir "die Beschäftigungsprobleme anderer Länder lösen". Er
forderte, den Außenhandel zu verstaatlichen und bat die
Menschen, "keine Hoffnung darin zu setzen, was gestern passiert
war (Amtsübernahme Duhaldes)...denn, was sollen diejenigen in
Ordnung bringen, die die Unordnung erst über das Land gebracht
haben". Zu diesem Zeitpunkt begannen alle zu rufen: "Sie alle
sollen gehen!"

Im Allgemeinen beschränkten wir politisch Militanten und Gewerkschafter uns darauf, den Menschen zuzuhören, denen man anmerkte, dass sie größtenteils ihre ersten Erfahrungen in politischer Organisierung machten.

Der erste Beitrag eines Gewerkschafters als solchem stammte von einem der entlassenen Angestellten der Supermarktkette Tigre. Die entlassenen Angestellten besetzen seit 8 Monaten die Zentrale der Supermarktkette in der In
nenstadt. Dort haben sie ein unabhängiges Kulturzentrum errichtet und organisieren verschiedene Aktivitäten. Aber das Wichtigste ist: sie entwickelten ein Projekt zur Errichtung eines regionalen genossenschaftlich organis
ierten Supermarktes, durch welches die verlorenen Arbeitsplätze zurückgewonnen werden sollen, aber unter der Leitung der Mitarbeiter. Noch wichtiger: wesentliches Element des Projektes ist der ausschließliche Verkauf von
Produkten, die in der Region produziert werden, was ermöglichen würde, dass die kleinen Produzenten mitten in der Innenstadt eine Verkaufstelle haben. Ein weiterer wichtiger Punkt des Projektes ist die Frage der Kosten. D
ie 700 Personen, die durch die Schließung des Supermarktes geschädigt wurden, mit Arbeitslosengeld zu versorgen, würden den Staat 300.000 US Dollar kosten. Die Wiedereröffnung der Niederlassung unter Wiedergewinnung der A
rbeitsplätze würde hingegen nur 120.000 US Dollar kosten. Kurz vor Ende der vorigen Regierung war das Projekt - nach monatelangen Verhandlungen - schließlich genehmigt worden. Aber jetzt ist es unter Vorsitz der Richterin
Maria Lloti von einem Gericht gestoppt worden. Diese hatte von den Mitarbeitern ein Bestechungsgeld verlangt. Morgen, Donnerstag, um 10 Uhr wird es für dieses Projekt der ArbeiterInnen eine Soli-Demonstration geben. In K
ürze wird es ebenfalls eine schlagkräftige Kundgebung bei der Richterin geben.

Die lokalen Medien wurden ebenfalls kritisiert, weil sie die lokalen Proteste in der Stadt Rosario verschwiegen hatten. Es wurde vorgeschlagen, eine weitere Versammlung vor dem Gebäude einer der Fersehsender zu machen.

Es wurde weiter über die vermeintliche "nationale Einheit" gesprochen, die bei der Sitzung der Bundesversammlung (Anmerkung: die Parlamentssitzung, anlässlich derer der neue Präsident Duhalde gewählt wurde) in aller Munde
war. Ein Redner sagte Folgendes: "Ich habe die gesamte Sitzung der Bundesversammlung verfolgt und - bis auf wenige Ausnahmen - sah ich nur gegenseitige Beschimpfungen und Selbstlob, während sie untereinander die Macht ve
rteilt haben. Was ich nicht gesehen habe, war eine einzige gute Idee. Wie kann es sein, dass wir hier, ein Arzt, ein Landwirt, der Mann dort, der Zulieferer ist, dass wir mehr Vorschläge haben als die "politische Klasse".
Die Politik der "politischen Klasse" besteht nur aus Mauscheleien und Flickschusterei, während die Politik der Zukunft die ist, die die Menschen machen."

Ein weiterer Aufruf

Gegen 22 Uhr machte ich mich auf den Weg nach Hause und ging durch den Urquiza-Park und als ich mich dem Denkmal Monumento a la Bandera näherte, stellte ich überrascht fest, dass sich dort Menschen versammelt hatten, die
auf Kochtöpfe schlugen. Ich erzählte ihnen, dass die Leute immer noch im Amphitheater seien und einige Kollegen fuhren mit Motorrädern los, um ihnen Bescheid zu sagen.

Sie erzählten mir, dass sich ein paar Freunde hier während des Morgens getroffen hätten, um die Aufmerksamkeit der Radiosender und des Fernsehens zu erregen, um zu einer Kochtopf-Demonstration aufzurufen, um die Durchführ
ung von Wahlen einzufordern. Ich blieb bei ihnen und nach kurzer Zeit näherten sich weitere Menschen. Es kamen Autos, ganze Familien stiegen aus, mit Kindern und Kochtöpfen. Hupende Autos fuhren vorbei. Bald kamen die Men
schen, die noch im Amphitheater gewesen waren. Um 22:30 Uhr waren wir etwa 200 Menschen dort.

Ich möchte betonen, dass das Megaphon, das ein Junge
mitgebracht hatte, ab einem gewissen Zeitpunkt nicht nur zum
Rufen von Parolen, sondern zum Halten von Reden genutzt wurde.
Und auf einmal waren plötzlich alle Leute dabei, ihre Forderungen
vorzutragen. Die Dinge, von denen wir meinen, dass sie geändert
werden müssen.

Es reicht nicht mehr, nur Krach zu machen. Wir haben sehr viele
Ideen, wir haben sehr viele Vorschläge zu machen.

Die Kochtöpfe beginnen zu sprechen.

WIR VERSAMMELN UNS WIEDER AM FREITAG, 4. JANUAR,
UM 21 UHR VOR DEM DENKMAL, ZU EINER KOCHTOPFDEMO
UND VOLKSVERSAMMLUNG

KOMMT ALLE ZUM DENKMAL MONUMENTO A LA BANDERA!"

Ende der Übersetzung

Anmerkung: Es folgte eine Reihe von Ankündigungen für Demos
und Versammlungen der Bevölkerung für die nächsten Tage, die
nicht mehr übersetzt wurden. Sie können unter

 http://argentina.indymedia.org/front.php3?article_id=6433&group=w
ebcast

eingesehen werden.

Sozialistische Grüße,


www.vereinigte-linke.de

 

04.01.2002
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