Argentinien: Arde!
"Argentina Arde" - Argentinien brennt. So ist der Name einer
Zeitung, die von einem gleichnamigen Bündnis aus 130
unabhängigen FotografInnen, KünstlerInnen, JournalistInnen,
VideokünstlerInnen und weiteren interessierten Menschen seit
wenigen Wochen in Buenos Aires herausgegeben wird. Das
Bündnis entstand infolge eines Aufrufes von Boedo Films, Cine
Insurgente ("Aufständisches Kino"), Contraimagen ("Gegenbild")
und Indymedia Argentina unter dem Motto: "Du hast es erlebt, lass
nicht zu, dass man dir weiter Lügen erzählt". Hier die Übersetzung
des Titelbeitrages der 1. Ausgabe von "Argentina Arde". Unter dem
Titel "Dass sie alle gehen sollen...und was danach?" beschreibt er
die mittlerweile landesweite basisdemokratische Organisierung der
Menschen und die Versuche, diese zu zerstören und zu
vereinnahmen.
"Dass alle gehen sollen...und was danach?
Tausende von MitstreiterInnen und NachbarInnen, die sich bei der
Vierteilübergreifenden Volksversammlung im Park "Parque
Centenario" am Sonntag, dem 20. Januar versammelt haben,
brechen in Applaus aus. Die Vierteilübergreifende Versammlung
hat sich gerade den Ruf zu eigen gemacht, der im Munde der
gesamten Bevölkerung ist: dass sie alle gehen sollen. Eine Woche
später nehmen immer mehr an der Versammlung teil, diejenigen,
die im Namen jeder einzelnen der Versammlungen in den Vierteln
sprechen, berichten von ihren Erfahrungen bei den Kämpfen und
der Mobilisierung. Im Laufe der Woche wurde massiv vor Banken
protestiert, Arbeitslose haben sich organisiert, von den
Pharmakonzernen sind Medikamente und von den Supermärkten
Säcke mit Lebensmitteln eingefordert worden. Die Vorschläge für
die weiteren Kämpfe sind immer ausgereifter und die Forderungen
münden in ein einheitliches "Kampfprogramm". Und am Ende
braust wieder der große Beifall auf: Hände werden zu Tausenden
hochgehoben, um darüber abzustimmen, dass die
Volksversammlungen sich an keinen einzigen Tisch setzen sollen,
um mit dieser korrupten und illegitimen Regierung zu verhandeln.
Seit den ersten Tagen des Januars entstehen ständig mehr
Versammlungen. Sie tagen unter freiem Himmel, Lärm machend
und Straßen sperrend, und trotzdem hat ihnen nicht ein einziges
Medium, sei es bürgerlich oder fortschrittlich, seien es die
Printmedien oder das Fernsehen, auch nur den geringsten Raum
gegeben. Es sollte nicht zugelassen werden, dass diese
Bewegung geboren wird. Eine Bewegung, die jetzt nicht mehr
aufzuhalten ist, die ein politisches System in Frage stellt, das,
unter der Maske einer repräsentativen Demokratie, abgetrennt vom
Ausdruck des Willens der Menschen, den Plan der
Kolonialisierung, der von Martinez de Hoz (Anmerkung:
Wirtschaftsminister des Militärdiktators Videla), Cavallo
(Anmerkung: Präsident der Zentralbank unter Militärdiktator Videla,
Wirtschaftsminister der Regierung Menem und der Regierung De
La Rúa) und der Diktatur begonnen worden ist, fortsetzt. Wie
machen sie es? Zuerst kramten sie die Verfassung wieder hervor,
dieselbe, die sie selbst nicht müde wurden zu beflecken, und
wiederholten ständig, dass "das Volk nicht regiert und nichts
beschließt, außer durch seine Repräsentanten". Wie der 19.
Dezember gezeigt hat, ist die Bevölkerung, die sich selbst durch
die Verhängung des Ausnahmezustandes nicht mehr
einschüchtern lässt, aber nicht mehr durch leere Phrasen zu
stoppen. Also sind sie direkt zur Tat geschritten:
Polizeistreifenwagen umrunden die Versammlungen,
Bandenmitglieder verhindern den Zutritt (Anmerkung: gemeint sind
Duhalde-Anhänger, bzw. u.U. auch bezahlte Kräfte, die
einschüchternd auftreten), Flugblätter tauchen auf, die das
Beschlossene verdrehen. Und trotzdem fahren die NachbarInnen
fort, Verbesserungen der Organisation und Verbreitung zu
diskutieren, die Medien abzulehnen, die sie ignorieren und ihren
politischen Einsatz zu erhöhen. In Flores fordern sie die
Verstaatlichung des Bankwesens, in Parque Lezama fordern sie,
dass die Auslandsschulden nicht bezahlt werden, in Belgrano
wurde beschlossen, dass keine Steuern mehr bezahlt werden
sollen, in Olivos (Anmerkung: dort befindet sich der offizielle
Wohnsitz des Präsidenten) hat man sich gegen Duhalde
ausgesprochen, in Caballito wird verlangt, die AFJP (Anmerkung:
Private Rentenversicherungen) zu verstaatlichen, Villa del Parque
hat beschlossen, dass gegen den Obersten Gerichtshof ein
Amtsenthebungsverfahren eingeleitet werden soll, Floresta fordert
eine Erhöhung der Gehälter, San Cristobal fordert den Rücktritt von
Juan José Alvarez, der für die Repression des 25. verantwortlich ist.
Die Besorgnis der Regierung wächst und ihre Taktik ändert sich.
"Verstecken wir nicht mehr, was nicht zu verstecken ist", sagen
sie. Dass alle die Versammlungen wahrnehmen sollen, dass sie im
Radio übertragen werden sollen, dass sie gefilmt werden sollen,
dass sie in Zeitungsbeilagen analysiert werden sollen. Aber nicht,
um ihre Aktivitäten zu unterstützen und den NachbarInnen
zuzuhören, sondern, um ihnen zu sagen, was sie diskutieren
sollen und was nicht, wen sie zu fürchten haben und wen nicht.
"Seien wir doch mal ernsthaft", sagt ein Sprecher von Radio Mitre,
"die Dame, die auf den Kochtopf schlägt, kann nicht
Außenminister sein". Im Gegensatz zu Ruckauf (Anmerkung:
Außenminister der Regierung Duhalde), der hingeht, um
Rechenschaft vor dem IWF abzulegen, begibt sich diese Frau zu
der Versammlung des Viertels "herab" und erklärt uns in wenig
diplomatischer Ausdrucksweise, dass die Bevölkerung immer
weniger hat, aber gleichzeitig immer mehr schuldet. Daraufhin
fordert sie, die Auslandsschulden nicht zu bezahlen und erklärt
uns, wie dieses Geld für die Gesundheitsversorgung, für das
Bildungssystem und die Schaffung von Arbeitsplätzen verwandt
werden kann. Das Phänomen der Volksversammlungen und der
Kochtopfdemonstrationen bewegt die ArbeitnehmerInner auf der
ganzen Welt. Und Menschen auf der ganzen Welt werden von
ihnen angesteckt. Also schwenken die Kameras aus Europa und
Lateinamerika auf Argentinien, die Berichterstatter kommen und
man informiert die Welt anhand der von der Regierung gekauften
argentinischen Medien, die alle Hebel in Bewegung setzen, um die
Fakten zu verdrehen. "CNN", erzählt ein Nachbar, "berichtet, dass
die Regierung Duhalde "Phantom-Wandalen", die überhaupt nicht
existierten, bekämpfen würde, während Clarín (Anmerkung: große
argentinische Tageszeitung) am Samstag, dem 26. auf Seite drei
zur gleichen Zeit analysiert, dass die Geschehnisse der Nacht (die
große landesweite Kochtopfdemonstration) ein Triumph Duhaldes
waren. Es ist unfassbar", beschwert er sich. Es gibt keine Grenzen
mehr für die Unverschämtheit, wenn die Interessen der großen
wirtschaftlichen Gruppen im Spiel sind.
"Ich finde es sehr gut, dass die Bevölkerung aufgewacht ist und
beginnt, politisch zu diskutieren", erklärt Rafael Pascual,
Vorsitzender der UCR-Fraktion (Anmerkung: den Sozialdemokraten
vergleichbar) im Bundestag, "aber sie müssen sich den Regeln der
Verfassung unterwerfen und beginnen, sich aus den Parteien
heraus zu engagieren". Zeitgleich werden die Versammlungen
immer häufiger von "Nachbarn" besucht, die uns über die
"Nutzlosigkeit" der Straßendiskussionen (!) "aufklären" und
versuchen, uns weiß zu machen, dass das einzig Mögliche die
Gründung einer neuen Partei sei, so dass wir dann in vier Jahren -
und das sagen sie sehr locker, als hätten wir Zeit im Überschuss -
in beiden Parlamentskammern die Mehrheit stellen und locker vor
uns hinregieren würden.
Aber die Menschen bei den Versammlungen denken anders. "Seit
Jahren", wirft ein Nachbar auf der Versammlung von Belgrano und
Nuñez vor einer Menschenmenge, die sich an der Ecke Cabildo
und Congreso versammelt hat, ein "missbrauchen uns die
traditionellen Parteien dazu, falsche Versprechungen zu wählen,
um auf diese Weise den Weg für weitere zwei Jahre frei zu haben,
um die Interessen des IWF und der großen Wirtschaftmächte zu
vertreten. Aber im Dezember des Jahres 2001 ist die Demokratie
volljährig geworden und die Menschen kommen heraus und wollen
den "Führerschein" haben"(Anmerkung: im Jahr 2001 lag das Ende
der Militärdiktatur 18 Jahre zurück). Aus der Zona Norte kam der
Vorschlag, dass Wahlgesetz dahingehend zu ändern, dass die
Volksversammlungen im Bundestag mit fünf VertreterInnen
stimmberechtigt vertreten sein sollen. "Fünf?" fragt ein Mitstreiter
leise, "es sollen fünfzig sein!". Die Überregionale Versammlung von
La Plata, Berisso und Ensenada (Anmerkung: La Plata ist die
Hauptstadt der Provinz Buenos Aires, Berisso und Ensenada sind
Kleinstädte in der Umgebung von La Plata) verlangt, dass sie alle
gehen sollen und sprechen sich gegen die Bundesregierung, die
Provinzregierungen und die Kommunalregierungen aus. Ein
"Offener Stadtrat" der Bevölkerung von Ciudadela spricht sich für
eine neue Demokratie, direkt und mit mehr Beteiligung, aus. Die
Versammlung von Floresta geht viel weiter: sie fordert die
Viertelübergreifende Versammlung auf, die ArbeitnehmerInnen,
Arbeitslosen und NachbarInnen dazu aufzurufen, sich zu einer
landesweiten "Offenen Generalversammlung" der
Volksversammlungen zusammen zu schließen.
Die Strategien zur Schwächung und Spaltung der Versammlungen
versagen eine nach der anderen. Die Zahl der Versammlungen
wächst und sie organisieren sich im ganzen Land in
Viertelübergreifenden Versammlungen. Die NachbarInnen
solidarisieren sich mit den "Piqueteros", sie bejubeln die
kämpfenden ArbeitnehmerInnen, die an den Versammlungen
teilnehmen, wie die MetallarbeiterInnen von EMFER und die
ArbeiterInnen von Brukman und Zanon. Die Unterstützung des
Marsches der Piqueteros war sehr bewusst, es wird jedoch
klargestellt, dass keine bestimmte politische Richtung unterstützt
wird, sondern dass die Unterstützung der Bewegung und der
Forderung nach der Schaffung von einer Million Arbeitsplätzen galt.
Die Versammlungen beginnen zu verstehen, was die Regierung
befürchtete. Generalversammlung, Kongress der
Versammlungsmitglieder, Verfassungsgebende
Volksversammlung, Freie und Souveräne Versammlungen: sie
wissen noch nicht, wie sie es nennen sollen. Aber sie wissen,
dass sie Macht haben und dass sie sie benutzen wollen."
Übersetzung: http://www.vereinigte-linke.de
Quelle: http://argentina.indymedia.org/front.php3?article_id=11260
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