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Sat Oct 27 23:35:36 2001
 

Stiftung Unruhe-Info No. 2
Überlegungen zur politischen Ökonomie des Polizeigroßeinsatzes in Gorleben


Einleitung

Überlegungen zur
politischen Ökonomie
des Polizeigroßeinsatzes
in Gorleben

Ein kleiner politischer Blick über den autonomen Tellerrand
Das Schienenkonzept hat uns sehr gut gefallen
Selbstankettung des Widerstandes?
Wir und die Bi Pycho-Pannenberg

Chronologie

In diesem Absatz versuchen wir einen auch für uns historisch neuen Aspekt der Kritik an einem Bulleneinsatz darzustellen. Darin wollen wir uns nicht mehr darauf beschränken, uns hauptsächlich über Prügeleinsätze und die Verletzung von Grundrechten zu beklagen. Viel beunruhigender ist der für uns noch nicht ganz begriffene Wandel von großen Polizeieinsätzen zum großen Politikum durch den Apparat selber.

Denn in dem Maße wie die nach der Verfassung eigentlich dafür vorgesehenen Agenturen der politischen Willensbildung, d.h. die im Parlament und in der Regierung vertretenen Parteien sich aus einer politischen Diskussion verabschieden, in dem Maße fällt dem Polizeiapparat die Aufgabe zu, auch den offen gelassenen politischen Raum zu füllen. Das erscheint zunächst einerseits als ein Witz, wird aber doch in den letzten Jahren bei manchen politischen Großeinsätzen der Bullen auf sehr beklemmende Art und Weise wahr gemacht. Was heißt das?

Die in einem argumentativ von ihren politischen Führungsinstanzen im wahrsten Sinne des Wortes allein gelassenen Bullen sind vor die Aufgabe gestellt, ohne überzeugende politische Vorgabe unter allen Umständen Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Doch genau die wird durch Protest und Widerstände aller Ort sowohl praktisch wie politisch in Frage gestellt. Die Bullen reagieren auf diese Entwicklung wie jeder auf Befehl und Gehorsam organisierte Apparat einerseits mit ihren bekannten technokratischen Mitteln. In diesem Zusammenhang können sie sich den Umstand zu Nutze machen, dass durch die Einführung von verdachtstunabhängigen Kontrollen die Unschuldsvermutung als konstituierendes Prinzip des bürgerlichen Rechtstaates faktisch gefallen ist. Auf der anderen Seite mutiert dieser auf die unbedingte Gewährleistung konservativer Sicherheit fixierte Apparat zu einem politischen Subjekt: Der Polizeieinsatz ist schon lange kein nur mehr technischer, er wird selbst politisch und fängt schon lange im Vorfeld eigentlicher politischer Aktionen an. Die zentrale politische Botschaft des Polizeiapparates ist die seiner eigenen Praxis: Die Gesellschaft wird verstanden als ein abschließbares Containment, basierend auf Ordnung und Sicherheit. Die Unvorhersehbarkeit des Konfliktes, und damit eine zentrale Dimension von gesellschaftlicher Freiheit, muß dafür erstens lokalisiert und dann zweitens eliminiert werden. In der Sprache der Antiimperialisten aus den 70er Jahren nannte man so etwas auch die Methode der Counterinsurgency. Wendet man diesen Gedanken auf die Politik des Bullenapparates um, so geht es von ihnen gegen jede Abweichung, Dissidenz und das "ganz andere" darum, Sicherheit und Ordnung nicht nur praktisch durchzusetzen, sondern auch politisch als positive Botschaft zu vermitteln Dafür soll das politische Gegenüber bereits im Vorfeld so verunsichert, so geschwächt und delegitimiert werden, dass es das Terrain des öffentlich wahrnehmbaren Konfliktes gar nicht mehr erreicht.

Dieses Phänomen der offensiven Bullenarbeit weit im Vorfeld konkreter Konfliktereignisse lässt sich zwischenzeitlich sowohl bei antirassistischen Grenzcamps, am revolutionären 1. Mai in Berlin als auch nun am Einsatz in Gorleben beobachten. Und die Wirkung wie Bedeutung dieses polizeilichen Agierens sollte nicht unterschätzt werden. Entscheidet es doch mit darüber, ob es einer Bewegung gelingt, nicht einfach nur im "politischen Spiel zu bleiben", sondern überhaupt erst dort anzukommen.

Die Bullen hatten für diesen Castor-Transport einen Planungsvorlauf von fast einem Jahr. Sie haben diese Zeit intensiv dafür genutzt, einen sogenannten "Einsatzabschnitt Einsatzbegleitende Öffentlichkeitsarbeit und Konfliktmanagement" einzurichten. Auf dieser Basis sind sie auf eine Vielzahl von "Interessengruppen" direkt herangetreten, zu denen auch die Bi-Lüchow-Dannenberg und die Bäuerliche Notgemeinschaft gehörten, um diese für eine sogenannte "Sicherheitspartnerschaft" zu gewinnen. Nach den Worten des Leiters dieser Abteilung sollte es dabei mit dem Ziel der Vereinbarung "konkreter Verhaltensmodalitäten im Konflikt" darum gehen "Verbündete" zu gewinnen, "um mit ihnen gemeinsam Spielregeln zu entwickeln, wie Eskalationen gebremst und der Ausbruch von Gewalt verhindert werden kann." (Deutsche Polizei Nr. 3/2001, S. 22/23)

Zu der anderen Seite des gleichen Konzeptes gehört der Aufbau einer virtuellen Medienwelt durch die Bullen selbst. Sie bescheinigen sich zwischenzeitlich selbst eine "Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit mittlerweile hoher Professionalität. (...) Die täglichen Presseberichte, die im März von der gemeinsamen Pressestelle von Bundesgrenzschutz und Polizei zum Gorleben-Einsatz verbreitet wurden, gelangten über eines der modernsten Nachrichten-Netzwerke an Zeitungen, Radio, TV und Agenturen. Mittlerweile wickeln mehr als 60 Polizeidienststellen ihre Pressearbeit über "news aktuell", einen Dienst der Deutschen Presse-Agentur (dpa) ab." (Deutsche Polizei Nr. 5/2001)

Alle diese Maßnahmen lassen sich auch unter dem Begriff der polizeilichen Präventionsarbeit abhandeln. Sie strukturieren das Konfliktterrain wesentlich vor. Dabei changiert die Einsatzkonzeption der Bullen immer zwischen offen zur Schau gestellter bewaffneter Macht und ihrer taktisch verdeckten Differenzierung im Medium ihrer jeweilig konkreten Wirksamkeit. Das ist ein komplizierter Satz, den wir aber noch aufklären.

Der gesamte Bulleinsatz von Gorleben erweckte in einer auf die Oberfläche gerichteten Betrachtung den Eindruck eines auf Deeskalation und massive Präsenz gerichteten Einsatzkonzeptes. Vermutlich gab die rot-grüne Bundesregierung die stille Order an die Bullen `raus, alles dafür zu tun, öffentlichkeitswirksame Prügelbilder zu verhindern. Sie wären unweigerlich als symbolische Prügel für einen nicht unwesentlichen Teil ihrer bei der nächsten Wahl angestrebten Wählerbasis verstanden worden. Doch dieser Oberflächenblick ist gemessen an dem was auch an polizeilicher Repression stattfand, unscharf . Uns zeigt die erfolgreiche Ingewahrsamsnahme eines der Sprechers der Kampagne X-Tausendmal-Quer Jochen Stay, für vier lange Tage eine ganz klare Eskalation des differenzierten polizeilichen Zugriffsinstrumentariums. Es ist immer nicht ganz einfach mit Bestimmtheit voraus zu sagen, was die Zukunft genau bringen wird. Allerdings könnte in der Logik dieser Maßnahme die Einführung einer temporären Residenzpflicht - nicht mehr nur für Flüchtlinge - für AtomkraftgegnerInnen liegen.

Gegen diese dargestellten Entwicklungen einer vom Bullenapparat kreativ voran getriebenen totalitären Formatierung von politischer Öffentlichkeit sowohl eine politische wie auch aussichtsreiche handlungspraktische Antwort zu finden, wird für die Weiterexistenz von Protesten und Widerständen, die aus Gründen ihrer eigenen Wirksamkeit unvorhersehbar bleiben müssen, von entscheidender Bedeutung sein.

Nicht ganz vergessen wollen wir aber noch in unserer Darstellung die ganz praktischen logistischen Probleme des Bullenapparates bei seiner dreckigen Arbeit.

Das Schienenkonzept wurde mit diesem Transport das erste Mal breit umgesetzt. Der Aktionsraum wuchs damit von den bisher ca. 20 Kilometern Strasse auf 70 Kilometer Schiene und Straße an. Die Polizeistrategie zielte darauf ab, in einem bestimmten Bereich um die Transportstrecke keine Versammlungen zuzulassen. Camps, die in diesem Korridor errichtet werden sollten, wurden per sogenanntem Niedersächsischem Gefahrenabwehrgesetz verhindert. Der Sammlungsort Nahrendorf wurde damit aufgelöst. Glücklicherweise ist diese Strategie so nicht aufgegangen. Trotz der Verbote sind die Leute in der Region Göhrde geblieben und haben sich nicht über das ganze Wendland verstreut.

Insgesamt hat der Apparat während der "heißen Zeit" im Wendland für sechs lange Tage mindestens 15.000 seiner Bullen gegen oft nicht mehr als 3.000 AtomkraftgegnerInnen aufgeboten. Dennoch ist er dabei soweit total ins rotieren gekommen, dass gerüchteweise aus der Bulleneinsatzleitung zu vernehmen war, das sie zeitweise mit dem Problem von "Kontrollverlust" kämpfen musste. Dass dies nicht bloße Spekulation ist, zeigen sowohl die Äußerungen des Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei, als auch die Worte des Gesamteinsatzleiters Reime im Fernsehen. Ersterer erklärte für die Zukunft eine "Trassierung der (Eisenbahn-)Strecke mit paralleler Straßenführung " für "geboten" da "nicht angehen (könne), dass sich Hundertschaften durch Wälder kämpfen müssen, um an einen Gleisabschnitt zu gelangen" (Deutsche Polizei Nr. 5/20001, S. 4). Letztere ließ sinngemäß im fernsehen verlauten: "50 Kilometer Schiene mach´ ich nicht noch mal!" In dem Hausblatt der Polizeiführungsakademie Hiltrup Die Polizei vom Mai 2001 vermerkt ein Bericht lakonisch, daß es einen Atomkonsens "für die Bundesregierung und die Energiewirtschaft vielleicht" gegeben habe. Für die Polizei sei jedoch "Vieles - und mit neuen Widerstandsvarianten konfrontiert - wie schon mehrmals gehabt" gewesen. Und weiter heißt es darin: "Ein Novum jedoch: Erstmals ist es Demonstranten gelungen einen Castor-Zug über 18 Stunden in seiner Weiterfahrt aufzuhalten. Der Durchführungsplan geriet völlig durcheinander." Diese aus unserer Sicht ermutigenden Äußerungen zeigen daß der Apparat mitnichten in jedem Moment und zu jedem Zeitpunkt das ist, was er zu sein vorgibt: Allmächtig.

Ein kleiner politischer Blick über den autonomen Tellerrand

Zunächst einmal ist festzuhalten, daß an den beiden zentralen Auftaktdemonstrationen in Lüneburg am Samstag, und der Lüchow-Dannenberger Stunkparade der ortsansässigen Bauern am Sonntag in etwa die gleiche Anzahl von Protestierenden wie noch beim `97er Transport teilnahmen. In Lüneburg waren über 15.000 Leute und bei Hitzacker rund 5.000 Leute präsent. Diese umfängliche Beteiligung ein überzeugender Hinweis darauf, daß der Widerspruch im grünen Milieu gegen den "Atomkonsens" erheblich größer war, als der gegenüber der Entscheidung zum schönen "Menschenrechtskrieg" im Kosovo. Bitter aber wahr. Dennoch war diese TeilnehmerInenzahl ein untrüglicher Beweis dafür, das es mit dem "Atomkonsens" nicht gelungen war, die Zahl der bei Castor-Transporten auf die Straße gehenden Protestierenden nennenswert zu senken. Ein erster gravierender Mißerfolg eben dieses Konsenses.

Eine andere Betrachtungsweise: Läßt man noch einmal in der Erinnerung den Ablauf der Lüneburger Kundgebung Revue passieren, so stellte sich das wirklich sowohl in Form und Inhalt als eine "Protestkultur der alten Bundesrepublik" dar. Die politische Zusammensetzung der KundgebungsteilnehmerInnen reichte von sich selbst mit Fahne als "Grüne" zu erkennen gebende Mitglieder, Autonomen, MitgliederInnen von Bürgerinitiativen, Gewaltfreien, Leuten von allen möglichen "linken Organisationen" (Linkswende, Ökolinx, Regenbogen. MLPD, DKP, PDS usw.) , Betroffenen, Tschernobyl-Müttern, Anti-Atom-Gesangsvereinen, jiddische Klezmer-Musik spielenden Künstlerinnen , Bauern, Jugendgruppen usw. Die verschiedenen Redebeiträge, die vorher für die Kundgebung abgesprochen worden waren, sollten die wesentlichen Gruppen dieses Protestes repräsentieren. Und so sprach als allererste eine Bi-Lü-Da-Aktivistin, eine Tschernobyl-Mutter, ein Kriminalisierter, ein Autonomer, sowie ein Vertreter der Kampagne x-Tausend. Nimmt man so etwas wie eine - aus verschiedenen Gründen nicht ganz unproblematische - Querschnittsaussage fast aller Redebeiträge, so kann gesagt werden, daß die meisten RednerInnen mit ihren Worten versuchten bei den KundgebungsteilnehmerInnen etwas anzurufen, was man als einen "Widerstandsgemeinschaftskonsens gegen den Atomkonsens" bezeichnen könnte. Dazu gehört es dann, das in diesen Reden immer mal wieder die Beeinträchtigungen oder Gefährdungen der "schönen Demokratie" beschworen wurden, die man glaubt perspektivisch für sich z.B. "gegen die Gangster aus der Atomindustrie" beanspruchen zu können. In diese freiwillig vollzogene Selbsteinordnung der RednerInnen in die Verfassung des demokratischen Obrigkeitsstaats mischten sich immer wieder auch sehr skurrile Aussagen und Demonstrationsformen. Die Vorstandsfrau der Bi-Lü-Da meinte während ihrer Rede tatsächlich: "Unser Symbol ist die Sonne". Die als "Tschernobyl-Mutter" annoncierte RednerIn brauchte doch während ihrer Rede vor 10.000 Leuten als Hinweis auf ihre Tschernobyl-Reaktion doch glatt den Satz "Meine Brüste vibrierten" über die Lippen. Wenig später folgte auf diese Rede eine Art lokaler Anti-Atom-Chor, bei dem sich seine Teilnehmerinnen durch die Kleidung in eine Art X verwandelt hatten. Dieser Chor animierte dann durch eine Art Gesang ein paar tausend Leute dazu, die Arme immer wieder hoch zu reissen, um in schrillem Ton "Wir sind jetzt ein X" zu kreischen. Die Kundgebung verwandelte sich im Handumdrehen in einen in sich auch noch demonstrativ nach außen kehrenden selbstgefällig--fröhlich-renitenten Kirchentagshaufen. Eine Reihe von Szenen und Aussagen dieser Kundgebung konnten einem über soviel Einfalt schon die kalten Schauer über den Rücken jagen. Und die richteten sich nicht an einem Gedanken eines freien Protestes auf, sondern waren der Einübung in eine halb geduckte konformistische Heinzelmann- und Frau-Identität geschuldet.

Das unser Redebeitrag, bei dem nicht zufällig die Live-Übertragung des Fernsehsender Phoenix abgebrochen wurde, bei knapp der Hälfte der KundgebungsteilnehmerInnen in Form eines minutenlang anhaltenden engagierten Pfeifens auf energische Ablehnung stieß, werten wir keineswegs als Mißerfolg. Wir haben versucht unsere politischen Interessen für unsere Beteiligung im Anti-AKW-Widerstand zu formulieren; das heißt: Wir haben zugleich damit deutlich und unmißverständlich gesagt, was nicht wollen und was wir schlecht finden. Ein solcher Zugriff, der gerade keinen klebrigen Widerstandsgemeinschaftskonsens beschwört, fordert im Unterschied zu solchen markanten Aussagen wie: "Unser Symbol ist die Sonne" Widerspruch natürlich heraus. Wir haben nichts dagegen, wenn sich zukünftige Anti-AKW-Kundgebungen in Foren über die kontroverse auszuhandelnde Frage verwandeln, mit welchen gesellschaftspolitischen und vielleicht auch kuturrevolutionären Perspektiven wir diesen Kampf eigentlich führen.

Das Schienenkonzept hat uns sehr gut gefallen

Aus strategischer Blockadesicht beurteilen wir das Schienenkonzept als erfolgreich. Auf den Gleisen tummelten sich erfreulich quirlige und entschlossene x1000erInnen, Engagierte von Umweltverbänden und —unternehmen, teils (un)organisierte CastorgegnerInnen, direct action groups und einige hundert muntere Autonome. Teils im unkoordinierten Nebeneinander, teils in gekonnter Mischung oder Absprache.

Von uns wurden die praktischen Veränderungen der Kampagne X-1000 im Vorfeld nicht genau genug registriert. Unsere Kritik besaß als Fixpunkt die schlechten Erfahrungen mit dieser Kampagne vor dem Verladekran in Dannenberg im Frühjahr 1997. Um so mehr wurden wir diesmal von der gewaltfreien Vehemenz und Kreativität von X-tausend-mal-Quer positiv überrascht. Diesmal haben die AktivistInnen von X-tausend in ihrer Praxis einen uns sehr überzeugenden Weg aus der passiven Opferhaltung heraus eingeschlagen. Allerdings zeigt der Verzicht der x-1000-Aktiven auf eine Straßenblockade am Donnerstag angesichts einer dramatischen Bullenübermacht in Laase, eine weitere strategische Grenze dieses Konzeptes auf. Trotz dieser positiven Erfahrung halten wir an unserer Kritik an der weiter vorhandenen Medienorientierung und dem basistechnokratischem Binnenansatz der Kampagne fest. Es ist für uns sowohl in einem politischen wie handlungspragmatischen Sinne nicht akzeptabel, wenn in diesem Zusammenhang ganz sozialtechnisch von "TeilnehmerInnen" an Aktionen gesprochen und damit einer klaren Hierarchisierung in Vordenkende und Ausführende das Wort geredet wird. Allerdings darf eine derartige Kritik keine Begründung einer Ausgrenzung der Aktiven liefern, sondern muß für die Zukunft eine bessere Plattform für genauere Auseinandersetzung ermöglichen.

Zwei Gruppen des Castor-Protestes sollen von uns nicht unerwähnt bleiben, auch wenn wir uns derzeit nicht ganz klar ist, in welcher Weise wir mit diesen in eine politische Diskussionen eintreten können. Es handelt sich dabei natürlich um die "wendländische Bevölkerung" in all ihren Schattierungen: Zu nennen sind in diesem Zusammenhang zunächst einmal die in Sachen Atom erfreulich renitenten Landwirten, denen der Atomprotest immer wieder von neuem die wohlfeile Gelegenheit eröffnet, ihre PS-starken Arbeitsgeräte einer auch noch klatschenden Öffentlichkeit vorzuführen. Und diese protestfreudigen Teile der wendländischen Bevölkerung hören bei den örtlichen Schulkindern, Lehrern, Pastoren, Landräten, und Aktivisten des lokalen Deutschen Roten Kreuzes noch lange nicht auf. Und nicht ganz vergessen werden sollten die Handvoll West-AktivistInnen der PDS. Sie besitzen zwar so gut wie überhaupt keinen relevanten Einfluß in der Partei, gleichwohl versuchten sie aber mit einigem an Geld, Infrastruktur und entsprechender optischer Präsenz im Camp Nahrendorf natürlich ihr parteipolitisches Süppchen auf Kosten der Grünen zu kochen.

Vor Ort waren auch die professionalisierten Medienunternehmen Robin Wood und Grennpeace präsent. Greenpeace ist bekanntlich ein straff hierarchisch geführtes Unternehmen, welches mit Aktionen und Aktionsplacebos in die Medienmärkte der westlichen Staatengemeinschaft investiert. Nicht ganz zu Unrecht konnte Greenpeace bei den jetzt anstehenden Castor-Protesten davon ausgehen, auf dem Anti-Atom-Markt mit Hilfe einiger gut placierter Aktionen eine schelle Rendite zu erwirtschaften. (auch wenn das natürlich nicht das einzige Ziel einer derartigen Organisation sein kann) Demgegenüber stellt sich Robin Wood als die weit aus sympathischere Organisation dar, und das nicht nur deshalb weil sie noch basisdemokratische Organisationsprinzipien geltend macht. Bei diesen Anti-Castor-Aktionen hat Robin Wood in vorbildlicher Weise auch mit regionalen AktivistInnen kooperiert. Allerdings impliziert das von beiden Organisationen während der Anti-Castor-Protetste umsichtig betriebene Labeling, daß dabei jedes halbwegs autonome, nicht vollständig verwertbares Aktionszeichen hinter eben dem Organisationsnamen zum verschwinden gebracht wird: Die Botschaft besteht nicht etwa darin zu zeigen, das alle aufgefordert werden, sich auch zu wehren, sondern darin, diese Organisation zu unterstützen. Und da finden wir allemal, daß es erstens um viel mehr und zweitens auch um etwas "ganz anderes" gehen müsste.

Selbstankettung des Widerstandes?

Bei diesem Castor-Transport war ein exponentielles Wachstum von Schienen-Ankettaktionen zu verzeichnen. Zweifellos können solche staatlich nicht erlaubten, logistisch gut vorbereiteten Aktionen in einem strategischen Sinne sehr effektiv sein,: demonstrieren sie doch den Schottersheriffs zunächst einmal eine lange Nase der pfiffigen Überlegenheit. Allerdings, so finden wir, sind die politischen Wirkungen dieser Aktionen, die tief sowohl in die Gesellschaft als auch in unsere eigenen Reihen hinein reichen, (siehe hierzu auch Titelbildwahl der Interim Nr. 523, welches eine derartige Aktion zeigt) ambivalent. Nehmen wir hierzu einige Passagen in dem Beitrag von Sergeant Pepper in der bereits erwähnten Interim Nr. 523. Er schreibt dort u.a.: "Die vergleichsweise "archaische" Zeit der Baumstämme, Strohballen und museumsreifen Blockade-Trecker scheint abzulaufen. Die Widerstandsaktionen liegen auf einem sehr hohen technischen Niveau. (...) Dies ist begrüßenswert, bereichernd und ergänzend - effektiv sowieso." Auch wenn der Autor unmittelbar nach dieser Aussage einräumt, daß "ein solches Spezialistentum auch stark zu Lasten einer möglichen Vermassung von / bei Aktionen und des (...) we can do it!-Effektes, also erlebten, praktizierten und letztlich "erfolgreichen" gemeinsamen Widerstands vor Ort" gehen könnten: Aus unserer Sicht machen diese Zeilen sehr schön klar, wie sich eine spontan auf "Effektivität" und "Erfolg" orientierte Perspektive, auf Kosten autonomer Politik selbst im Bewußtsein unserer eigenen Genossen durchfressen.

Aus unserer Sicht besteht die Ambivalenz der Schienen-Ankettaktionen darin, daß sie implizit auf den propagandistisch breit getretenen Schutzauftrag der Bullen vertrauen, geben diese doch nicht zufällig zum Besten, sowohl den Castor, das Demonstrationsrecht und das Leben jeder einzelnen Demonstrantin zu schützen. Nicht ungeschickt drehen die Sheriffs dann diese gegenüber der Weiterfahrt des Castors erfolgreichen Aktionen politisch dadurch um, dass sie der Öffentlichkeit mitteilen, an einer "Befreiung" der Einbetonierten oder Angeketteten zu arbeiten. Nun lässt sich berechtigt einwenden, dass die Bullen gar nicht anders können, als sich gegenüber den je Angeketteten oder Einbetonierten sehr fürsorglich zu verhalten, solange die Öffentlichkeit in der Nähe weilt. Die Frage jedoch, inwieweit diese Aktionsformen sich nicht allzu sehr auf eine Kooperation mit den Schergen einlassen müssen, bleibt als Problem weiter bestehen.

Wir und die Bi Pycho-Pannenberg

Vorhersehbar stellten sich unsere Diskussionen über den Charakter, die Funktion, die historische wie aktuelle Bedeutung der BI Lüchow-Dannenberg aus mehreren Gründen am kompliziertesten dar. Diese Diskussion ist wirklich nicht leicht und sie stellt für uns einen unsicheren Eiertanz dar. Unsere Positionen über unser Verhältnis zur Bi Lü-Da schwankten zwischen weitere appellieren, funktionalisieren, ignorieren aber auch angreifen. Mehr als einmal waren wir mit dem Umstand konfrontiert, daß jeder unserer an die Adresse der Bi Lü-Da geschleuderten - und selbstverständlich berechtigten - Anwürfe an uns in doppelter Weise als Fragen zurück kehrten.

Unbezweifelbar besitzt die Bi Lü-Da Bi aufgrund ihrer über 20 jährigen Existenz im Wendland über alle Anti-Atom-Proteste so etwas wie eine politische Hegemonie. Die Bi betreibt über diesen langen Zeitraum genau das was wir nicht tun wollen oder können: Anti-Atom-Fachpolitik und die Mobilisierung ihrer mittelständischen Basis. Allemal mehr als Autonome und autonome Gruppen kann die Bi Lü-Da in der Form sowohl als legitimer Abkömmling der Anti-Atom-Bewegung wie auch zugleich als Repräsentantin der wendländischen Bevölkerung gelten. Dadurch besitzt sie das, woran wir immer wieder zwischen bürgerlicher Öffentlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit changieren: Medial gestützte Außendarstellung, sprich Sichtbarkeit. Zwar wurde in unseren Diskussionen immer wieder von einzelnen bekräftigt, daß wir selbstverständlich den Allgemeinvertretungsanspruch die Bi Lü-Da zurückweisen. Allein, es ist uns noch nicht ganz deutlich, wem wir das überhaupt mit welchen genauen Konsequenzen sagen. So konnte die von Teilen der "Bewegung" immer mal wieder an die Adresse der Bi Lü-Da geäußerte Kritik an ihrer denunziatorischen Pressearbeit (z. B. anlässlich bestimmter Angriffe auf die Bahngleise am 18.2., siehe Chronologie) dabei jedoch von einzelenen Äusserungen auf eine zu dem zeitpunkt nicht vorhandene Gesamtsicht der BI Lü-Da geschlossen. Bei unserer zukünftigen Position müssen wir bedenken, dass die Bi Lü-Da von großen Teilen der Medien, der Bullen aber auch durch viele Protestierende selbst immer wieder in eine Position des Allgemeinvertretungsanspruches gedrängt wird. Klar scheint nur zu sein, dass eine zu schnelle und zu schlecht begründete Absage an jede Form einer Kooperation mit der Bi Lü-Da allenfalls die Selbstzerstörung der Protestkultur befördern könnte, ohne dass das zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgend jemanden nützen würde.

Immerhin war die Bi Lüchow-Dannenberg bei diesem Castor dazu in der Lage, eine klare und unmissverständliche Ablehnung des Konfliktmanagements und anderer Dialogangebote der Polizei zu formulieren. Das weist sie als verlässliche Konstante eines bürgerlichen Widerstandes aus. Derselbe begrenzte Horizont verhindert jedoch eine Dialogkultur mit linken Strömungen dergestalt, dass eine antibürgerliche Widerstandsperspektive nicht eingenommen werden kann und deren militante Ausdrucksformen tatsächlich für möglich gehalten werden. Wer derart öffentlich wie ein Vorstands- und andere Basismitglieder einer Initiative fabuliert, dass die Gleise so gut bewacht seien, dass Eingriffe wie das Schienen-X nur mit Unterstützung des Staatsschutzes möglich seien, verwechselt die Beschränktheit des eigenen Vorstellungsvermögens und die Verinnerlichung ohnmächtiger Unterwerfungsrituale mit einem taktischen Umgang mit Aktionsformen anderer Strömungen.

Allerdings kann in praktischer Hinsicht bei diesem Castor-Transport festgestellt werden, da ß die Bi-Lü-Da keine Anteile am Erfolg des Schienenkonzeptes besaß. Sie reduzierte sich mehr oder minder freiwillig zum Dienstleistungsbetrieb für einheimische und auswärtige ProtestlerInnen einerseits und zur "Wortausspuckmaschine" gegenüber der Presse andererseits. "Die Bürgerinitiative entwickelt sich in der unmittelbaren Transportzeit immer mehr zum reinen Vermittlungs-Apparat gegenüber der Presse", so der ehem. Sprecher Edler in seiner jüngst erschienenen Buch im Rückblick auf den Castor 1997. Diesmal war allerdings festzustellen, dass es der Polizei mit dem Errichten eines gut abgeschirmten Pressecontainerdorfes nahe des Verladekrans gelungen war, in Sachen "Pressebetreung" der BI "den Rang abzulaufen".

Es scheint so zu sein, daß die Bi Lü-Da als ehemals treibende Kraft des Widerstandes am Ende ihrer aus den 70er und 80er Jahren erworbenen Fähigkeiten angelangt ist: In der Organisationsform ist die Erfindung von Bürgerinitiativen ein Überbleibsel aus der Phase der sozialliberalen Regierungsepoche zu Beginn der 70er Jahre, die auch unter dem Motto von "Mehr Demokratie wagen!" stand. Auch daraus entwickelte sich ein gesellschaftspolitisches Umfeld, aus dem sich der Aufstiegsprozess der Grünen Partei speiste. Mit der Übernahme der Bundesregierung durch Rot-Grün haben sich die Koordinaten für die Anti-Atom-Bewegung gravierend verändert.

Der Ahaus-Transport unter einer rot-grünen Landesregierung und einem grünen Polizeipräsidenten 1998 machte schon deutlich, dass gerade diese Charaktermasken eher dazu in der Lage sind, die Anti-Castor-Proteste strategisch zu bekämpfen als die Hardliner der alten Garde. Weder von ihrer Biographie und ihrem Milieu her ist ein großer Teil von Bi-Aktivisten wahrscheinlich dazu in der Lage, die notwendig direkt gegen die Rot Grüne Bundesregierung eingenommene Stoßrichtung der Castor-Widerstände zu erfassen. Dieses Milieu ist schlicht nicht dazu in der Lage, zu verstehen, daß die Partei die Grünen eben als Partei genau wie z.B. die CDU funktioniert. Das scheint uns jenseits persönlicher Zuschreibungen und Animositäten der Kern des politischen Konfliktes zwischen uns und der Theorie und Praxis der Bi Lü-Da zu sein.

Folgerichtig vermochte die Bi Lü-Da während des Protestauflaufes in Dannenberg an der Essowiese keine schlüssige Aktionsorientierung anzubieten, sondern ging letztendlich in deplazierten Beschwichtigungsformeln unter, als der Bulleneinsatz dort eskalierte. Insofern teilen wir auch die offenen Fragen der no fate femmes (Interim Nr. 526) bezüglich der Motivation eben jener BI, sich derart bereitwillig sowohl auf die Berechenbarkeit der Proteste wie zugleich auf Autonomen-Befriedung einzulassen.

Widerspruch melden wir an, wenn eine inhaltliche Annäherung an die Grünen als Begründung vermutet wird. Auch wenn ihre SprecherInnen ständig in einer Appellhaltung gegenüber der Partei die Grünen verharren, ist doch ein inhaltliches Einknicken in den Sachfragen End- und Zwischenlagerung nicht zu befürchten. Die BI kocht ihr eigenes politisches Süppchen als latent verlängerter Arm der liberal codierten Medienindustrie und Bastion einer falsch verstandenen Zivilgesellschaft. Dabei kompensiert sie die gesunkene Bedeutung innerhalb des Wendlandes und "der Bewegung" durch eine stärkere Außenrepräsentation. Was lehrt uns das alles nun?

In der gegen den nächsten Wendland-Castor gerichteten Bündnisarbeit stößt unser Konzept einer auf Handlungsermächtigung gerichteten Perspektive zuallererst auf Schranken in den Köpfen der potentiellen BündnispartnerInnen selbst. Und das verweist uns bei aller Schienenaktionsplanung auf die leicht übersehene Aufgabe zurück, nach der jeder politische Kampf zuallererst auch ein Kampf um die Köpfe ist. Und wir wissen von uns selbst, das so etwas leichter hingeschrieben, als praktisch "von Gesicht zu Gesicht" erstritten wird. Einige Leute von uns haben den Entschluß gefasst, die Bi Lü-Da in Zukunft komplett ignorieren zu wollen. Aber vielleicht wird es sogar doch einige von uns geben, die die Bi Lü-Da beim nächsten Castor-Transport mit der Frage konfrontieren, wie sie die ihr von den Bullen zugedachte Rolle der Kanalisierung von Widerstand in systemkonformes Protestverhalten zu vermeiden gedenkt. Unter Umständen kommen wir so in eine lebhafte Auseinandersetzung.