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Tue Oct 15 20:20:24 1996
 

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Faschistische Strukturen. [2]

Wurzen-Broschüre.

Besetzung der Käthe-Kollwitz-Straße.

Nach der Schließung der BB-Baracke, in der es durch einen technischen Defekt zu einem Brand gekommen ist, besetzt der harte Kern der Wurzner Faschoszene ein Haus nebst Grundstück in der Käthe-Kollwitz-Straße. Das Haus gehört dem Rentner Walter Büttner aus Gochsheim bei Schweinfurth. Nach einem Briefwechsel der Faschos mit dem Eigentümer gibt dieser seine Zustimmung zur Nutzung dieses Hauses durch die Faschos. Das Haus wird festungsartig ausgebaut und dient bald als Treffpunkt der Faschos aus der ganzen Region. Meist halten sich ca. 20 bis 40 Faschos in dem Haus auf. An Wochenenden oder bei Veranstaltungen sind 300 Faschos normal.
MedienvertreterInnen, die über das Haus berichten wollen, werden massiv bedroht. Eine Fernsehjournalistin berichtet, daß es in dem Haus aussehe wie in einer Propagandazentrale der NPD
. Auch die in Sachsen verbotene Reichskriegsfahne weht zeitweise über dem Haus. Die Bedeutung des Hauses für die Faschoszene besteht darin, daß dort die Grenzen zwischen den älteren und jüngeren Faschos immer fließender werden.
(5) SZ vom 20.8.1996.
Genutzt wird der Treff vom Jung
sturm ebenso wie von der Gruppe um die ANR. Am 10. Mai 1996 findet erstmals eine Razzia in dem Haus statt, die allerdings schon eine Woche vorher bekannt ist. Daß die Faschos das Propagandamaterial also schon weggebracht haben, ist da wohl kein Wunder. Trotzdem beschlagnahmt die Polizei Molotow-Cocktails und andere Wurfgeschosse. Die Stadt veranlaßt die Schließung des Hauses aus brandschutztechnischen Bestimmungen. Allerdings wird das Haus trotzdem von den Faschos bis zur endgültigen Räumung am 3. August 1996 genutzt. Vor dieser Räumung wird bekannt, daß die Faschos für den Abend des 3. August ein Konzert mit der Leipziger Faschoband Störenfriede veranstalten wollen. Auch ein Zusammenhang mit dem Rudolf-Hess-Aktionsmonat, den die Faschos bundesweit ausgerufen haben, wird vermutet. Seit dem das Haus geschlossen ist, treffen sich die Faschos bis ca. 20 Uhr auf dem Marktplatz, um dann anschließend in die Wurzner Kneipen (z.B. in das »Aschenputtel«) zu gehen, manchmal jedoch bleiben sie bis tief in die Nacht auf dem Markt, saufen, grölen faschistische Parolen und singen rechtsradikale Lieder. Des öfteren sehen sich AnwohnerInnen gezwungen, die Polizei zu rufen. (5)

Kontakte nach Leipzig, Sammlungsbemühungen der NPD.

Nach den Verboten der Wiking-Jugend und der FAP bleibt von der Parteienstruktur im Muldentalkreis und in Leipzig eigentlich nur noch die Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) als halbwegs funktionierende Partei übrig. Die Republikaner und die DVU spielen schon zu dieser Zeit eine unbedeutende Rolle. Während sich in anderen Bundesländern vor allem die Jungen Nationaldemokraten (JN) als Auffangbecken für Kader der verbotenen Organisationen anbieten, gibt es nach vorhandenen Kenntnissen im Muldentalkreis und in Leipzig keine funktionierende JN-Struktur. Diese Anlehnung an die NPD hat mehrere Gründe: Die NPD ist eine der ältesten faschistischen Parteien in der Bundesrepublik. Gerade in den alten Bundesländern hat sie mit dem Makel zu kämpfen, als alt und verknöchert zu gelten. Dies ist in den neuen Ländern nicht so. Bereits 1989/90 versucht die NPD durch massives Auftreten auf den Leipziger Montagsdemonstrationen und anderswo massiv Propaganda unter die Bevölkerung zu bringen und in eine Organisierung einzubinden.

Jürgen Schön,
1. Mai 1996, Berlin
Am 24. März 1990 wird der Ostableger der NPD, die Mitteldeutschen Nationaldemokraten (MND
), im Leipziger Kulturhaus Albert Norden gegründet. Diese Neugründung hat eine unheimliche Sogwirkung auch auf jüngere Faschos.
Am 2. September 1990 vereinigen sich die MND
auf ihrem sächsischen Landesparteitag in Markkleeberg mit der westdeutschen NPD, zum Landesvorsitzenden wird übrigens Jürgen Schön gewählt, der heutige stellvertretende Bundesvorsitzende der NPD. In der folgenden Zeit verliert die NPD allerdings an Bedeutung, da viele gerade jüngere Leute sich doch lieber anderen neonazistischen Parteien zuwenden. Trotzdem ist festzustellen, daß die späteren Kader von Wiking-Jugend und FAP aus den MND hervorgehen. Genannt sei hier nur Dirk Zimmermann, der seine Karriere als Pressesprecher der MND beginnt und über die Wiking-Jugend zum führenden Kader der FAP mutiert.
Trotz vieler Abwanderungen gerade jüngerer Leute hat die NPD in Sachsen jedoch eine im Vergleich zu den alten Bundesländern überdurchschnittlich junge Altersstruktur behalten. Ein weiterer Grund ist auch die strategische Neuorientierung der NPD, die in Sachsen aufgrund des oben angeführten viel leichter durchzusetzen war als in den alten Ländern.
Auf dem NPD-Bundesparteitag im Juni 1991 wird ein Wandel von der alten Wahl- zur neuen Kampfpartei vollzogen. Das drückt sich besonders in der Wahl von Günter Deckert
zum neuen Bundesvorsitzenden der NPD aus. Die NPD nähert sich immer mehr den offen auftretenden nationalsozialistischen Parteien an. Dies zeigt sich auch an der nun erfolgenden Teilnahme von NPD-Blöcken bei den Rudolf-Heß-Gedenkmärschen.
Das neue aggressive Auftreten stößt gerade in Sachsen auf große Zustimmung innerhalb der NPD. Deutlich wird diese Zustimmung z.B. 1995, als Deckert
vom Parteipräsidium wegen „parteischädigendem Verhalten“ kurzzeitig abgesetzt werden soll.
Mit NPD-Plakaten zugepflastertes Haus in Leipzig.
Die Landesverbände von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stellen sich hinter Deckert
und drohen sogar mit der Abspaltung von der NPD und Gründung einer eigenen Partei.
(6) Drahtzieher im braunen Netz, konkret: 1996, S.182.
„Ausgelöst durch die Verbote nationalsozialistischer Gruppen führt die NS-Bewegung seit 1992 eine Strategiediskussion über Möglichkeiten zukünftiger Organisationsformen. Dabei rückt parallel zum ’Zellenprinzip’ ein weiteres Organisationsmodell in den Vordergrund: die ’nationalen Freundeskreise’. (...) Dabei handelt es sich in der Regel um organisatorische Plattformen, die auf persönlichen Kontakten von Führungspersonen des Spektrums beruhen. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie über bestehende Parteien- oder Gruppenstrukturen hinausgehen.“ (6) Solch eine Plattform stellt der Kreis »Ein Herz für Deutschland«, auch unter dem Namen Leipzig
er Kreis, dar. Dieser Kreis führt einmal monatlich eine Veranstaltung durch.

Ursula Mann
Dominiert und initiiert wird dieser Kreis von der NPD
. Ziel scheint u.a. zu sein, neue Leute aus anderen Nazi-Organisationen an die NPD zu binden. Offensichtlich gelingt dies teilweise. Anhand der NPD-Zeitung Sachsen-Stimme läßt sich gut ablesen, wer sich in diesem Dunstkreis so alles tummelt: so z.B. der ehemalige Landesvorsitzende der Republikaner Winfried Petzold, der ex-DVU Aktivist Wolfgang Schüler, aber auch Leute von ehemaligen Splittergrüppchen wie Ursula Mann (Aufbruch 94) und Egon Menge (Bürgernahe deutsche Volkspartei).

Zurück nach Wurzen.

Vor allem Marcus Müller hat enge Kontakte zu diesem Leipziger Kreis und zur NPD insgesamt. So wundert es auch nicht, daß die NPD in Wurzen und im Muldentalkreis immer mehr Einfluß gewinnt.
Deutlich wird es z.B. an einer von der NPD organisierten Veranstaltung am 20. Januar 1996 im Leipziger Chauseehaus. Dort sollte der österreich
ische Rechtsextremist Peter Kurt Weiss (Bürgerschutz Österreich) sprechen. Den Schutz organisiert Marcus Müller mit anderen Faschos aus Wurzen. Die Veranstaltung wird allerdings von Antifas verhindert.
Ein Fernsehteam des ZDF berichtet nach einem Besuch des Hauses in der Käthe-Kollwitz-Straße
, daß darin massenweise NPD-Material lagere. Im Rahmen der bundesweiten NPD/JN Aktionstage um den 1. Mai 1996 werden in Wurzen Flugblätter der NPD/JN an die Haushalte verteilt. In jüngster Zeit tauchen diese Flugblätter auch in den umliegenden Gemeinden auf, wie z.B. in Gerichshain und Machern. Während des JN-Bundeskongresses (25./26. Mai 1996 in Leipzig) übernachten TeilnehmerInnen des Kongresses im damals schon offiziell geschlossenen Haus in Wurzen.
All diese Fakten sind schon lange öffentlich bekannt. Aufgrund der massiven Öffentlichkeit sah sich offensichtlich auch der neue Präsident des sächsischen Verfassungsschutz
es (VS), Eckehard Dietrich, genötigt, Stellung zu nehmen. In einer Presseerklärung berichtet der VS, daß die NPD von Sachsen aus eine Sammlungsbewegung gewaltbereiter Rechtsextremisten organisiert.
(7) SächsZ vom 29.7.1996.
„Zentrum dieser Aktivitäten sei die Stadt Wurzen bei Leipzig
“, das derzeit „wohl wichtigste Zentrum der Neonazis in Deutschland“. Unter den Aktivisten gebe es im übrigen eine Person, die „auch Charisma ausstrahlen und eine Sammlungsbewegung zustande bringen könnte.“ (7) Gemeint ist hier offensichtlich Marcus Müller. Diese Einschätzung ist allerdings nur zum Teil richtig. Die tendenzielle Entwicklung in Richtung NPD als Sammlungsbewegung ist schon einige Zeit zu beobachten.
Nur ist das nicht der Grund für die herausragende Stellung der Wurzener Faschoszene. Wichtiger ist wohl die Strukturierung der Szene, was die Hegemonie der Faschos im Muldentalkreis und darüber hinaus begründet.

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