nadir start
 
initiativ periodika Archiv adressbuch kampagnen suche aktuell
Online seit:
Mon Jun 11 11:34:46 2001
 

Inhaltsverzeichnis Inhalt Das Jahr, in dem wir nirgendwo Aufwärts

Voherige Seite 20. November: Das Ende des Rückzugs In Kigoma Nächste Seite

21. November: Die letzten Stunden


CHE: Die Art, in der die kongolesischen Compañeros die Evakuierung aufnahmen, hatte für mich etwas Verleumderisches. Unser Rückzug war für sie einfach eine Flucht und, schlimmer noch, wir waren Komplizen eines Betruges, durch den man die Leute an Land zurückließ. Und andererseits, wer war ich denn nun? Ich hatte den Eindruck, daß mich die Compañeros seit meinem Abschiedsbrief an Fidel wie jemanden aus anderen Breiten betrachteten, wie jemanden, der sich von den konkreten Problemen Kubas entfernt hatte, und so wagte ich es nicht, von ihnen das letzte Opfer zu verlangen, dort zu bleiben.


ALEXIS: Es war das dritte Mal, daß ich den Che sah, in der Nähe von Kibamba, am Ende des Krieges. Wir waren ungefähr neun Stunden dort. Unsere Chefs sagten, daß der Kampf weitergehen müßte. Daß wir nicht in Daressalam bleiben würden. Wir würden wiederkommen.

DREKE: Bevor wir in die Boote gingen, stellten wir noch einmal Wachen auf, während einige schlafen konnten. Auf einmal sah man bengalisches Feuer, Bomben, wir dachten, es seien feindliche Boote. Wir hörten das Geräusch der Motoren näherkommen. Es war Changa mit drei großen Booten.

GENGE: Ungefähr um zehn nach zwei am Morgen hört man vom See her das Geräusch der Boote. Azi bringt die Geschütze in Stellung, um ihnen die Stirn zu bieten. Jemand sagt: »He, Azi, laß gut sein, das sind die Boote von Changa.« Wir konnten Azi beruhigen, und siehe da, es war wirklich Changa.

CHE: Die letzten Stunden verbrachte ich einsam und ratlos, und schließlich trafen um zwei Uhr morgens die Boote mit kubanischer Besatzung ein, die noch am selben Nachmittag zu fortgeschrittener Stunde aufgebrochen waren. Ich ordnete die Abfahrt bis spätestens drei Uhr an; um fünf würde der Tag anbrechen, und wir würden mitten auf dem See sein.

Die Evakuierung begann; zuerst gingen die Kranken an Bord, darauf Masengos gesamter Generalstab, ungefähr vierzig von ihm ausgewählte Personen, schließlich alle Kubaner. Daraufhin begann ein schmerzliches, klägliches und unrühmliches Schauspiel. Ich mußte Männer zurückweisen, die in flehentlichem Tonfall darum baten, mitgenommen zu werden. Nichts Heroisches war an diesem Rückzug, keine Geste des Aufbegehrens. Die Maschinengewehre waren in Stellung, und ich hielt die Männer in Bereitschaft, falls es, womit wir rechnen mußten, vom Ufer aus zu einem Angriff kommen sollten. Aber nichts dergleichen geschah, nur ein großes Wehklagen, während der Anführer der flüchtenden Guerilla beim Einholen der Ankertaue leise fluchte.


DREKE: Die Waffen wurden aufgestellt. Terry befestigte eine 75 mm-Kanone am Bug des ersten Bootes, in der Mitte fuhr ein zweites Boot mit Tatu und M'bili, und ich auf dem dritten, in der Nachhut.

ALEXIS: Wir nahmen das Boot nach Tansania. Es war das letzte Mal, daß ich den Che sah. Ich weiß nicht, warum sie mich auswählten, mit nach Kuba zu kommen. Anscheinend wegen meiner Disziplin und meines revolutionären Verhaltens.

MENA: Erstes Boot: Tatu, Siki und Tembo, am Bug wurde eine Flak aufgestellt. Auf dem zweiten ein weiteres Maschinengewehr und im hinteren Teil eine 75er-Kanone.

VIDEAUX: In Anerkennung ihrer Tapferkeit nahmen wir die Ruander, die mit uns gekämpft hatten, mit nach Kuba. Es waren nicht viele, nur sechs oder sieben.

Die Fahrt über den See hatte etwas Bewegendes. Es war keine überstürzte Flucht, wie man annehmen könnte. Es war eine gut organisierte, gut geplante Überfahrt. Gemäß der Anweisungen Tatus wurde in Gruppen an Bord gegangen. Die Boote wurden gefechtsbereit gemacht, für alle Fälle. Maschinengewehre und Kanonen wurden installiert und der Befehl ausgegeben, sie nur einzusetzen, falls die belgischen Boote angreifen sollten. Das heißt, sollten wir untergehen, würden wir alle miteinander untergehen, aber kämpfend. Außer den anderen Waffen wurde am Bug jedes einzelnen Bootes noch eine 75er-Kanone installiert. Die Artillerie wurde auf ausdrückliche Anweisung des Che in Stellung gebracht. Und diese Befehle wurden fast ausschließlich von der kubanischen Truppe ausgeführt. Die Aufstellung der Artillerie und die Vorbereitungen zum Ablegen dauerten von elf Uhr abends bis drei Uhr morgens. Wir wußten, daß die Abfahrt riskant würde, weil diese Hunderte oder Tausende von Menschen im Moment des Ablegens auf die Boote drängen würden. Und das durfte nicht geschehen.

Um die Abfahrt zu sichern, mußten wir zunächst die Kubaner an Bord gehen lassen und dann einige ausgewählte Kongolesen, für die wir noch Platz hatten. Wir waren etwas über hundert Kubaner, die drei auf der anderen Seite des belgischen Rings nicht mitgezählt. Und selbst wenn nicht soviele in die Boote paßten, mußten sie mit allen Mitteln hinein. Schließlich stachen wir fast im Morgengrauen in See, gegen drei Uhr. Etwas verspätet wegen der Streitereien, weil viele Kongolesen auf die Boote wollten und man sie zurückdrängen mußte. Mit der Disziplin war es da vorbei. Denn am nächsten Morgen noch dort zu sein, war so etwas wie die hundertprozentige Gewißheit zu sterben. Man brauchte keine Gewalt anzuwenden, denn sie hatten Respekt vor uns. Aber man muß verstehen, daß jeder, der sich in einer so ausweglosen Situation befindet, irgendetwas versuchen wird. Einige der Chefs, die mit uns fuhren, wie Masengo und Chamaleso, halfen die Disziplin aufrechtzuerhalten und ein Chaos abzuwenden.


DREKE: Wir stießen mit drei Schnellbooten in See. Es war sehr kalt. Man konnte Mobutus Patrouillenboote hören. Um diese Zeit war noch keine Luftwaffe unterwegs. Solange sie nicht schossen, würden wir auch nicht schießen. Aber wenn sie angriffen, hatte ich beschlossen, mit allem zurückzufeuern und dem zweiten Boot Deckung zu geben, während meines und das von Aly sich ihnen entgegenstellten. Der Che war gegen diesen Plan. Er wollte der letzte sein, der an Bord ging. Wir befürchteten, daß er dort bleiben wollte, so wie er nun einmal war ... wir sagten ihm, bevor er nicht an Bord ginge, würden wir es auch nicht tun. Er ging an Bord, M'bili an seiner Seite.

GENGE: Wir machten uns auf den Weg nach Kigoma. Die feindliche Luftwaffe begleitete uns bis Kigoma, aber ohne uns zu attackieren, weil wir Kubaner bis an die Zähne bewaffnet waren: Kanonen, Maschinengewehre. An einer dieser Kanonen befand sich Tatu. Wir waren bereit zu sterben, doch die Luftwaffe beschoß uns nicht. Was machte die Luftwaffe? Sie feuerten auf die Motumbos und Boote, die uns nach Kigoma hinterher fuhren. Diese kamen völlig zersiebt und durchlöchert an, mit einem Stapel Leichen obendrauf. Es war ihnen lieber, daß wir gingen, deshalb schossen sie nicht auf uns. Sie wagten es anscheinend nicht, aus Angst, wir könnten es uns noch einmal anders überlegen.

VIDEAUX: Wir fuhren in Gefechtsbereitschaft, mit den Gewehren an die Bootswände gepreßt, um von dort aus zu feuern, sollte es nötig werden. Die Boote hatten jeweils Raum für etwa vierzig Personen, aber wir waren zu über siebzig. Bei uns an Bord waren insgesamt sieben Kongolesen und Ruander. Bei Tagesanbruch waren wir ungefähr auf der Mitte des Sees. In der Ferne waren einige Schiffchen zu erkennen, aber sie kamen nicht näher. Um 7 Uhr morgens waren wir immer noch ein Stück vom Land entfernt. Ein paar belgische Flugzeuge flogen über uns hinweg, in Schleifen, aber ohne sich mit uns anzulegen.

NANE: Die Boote lagen tief im Wasser.

DREKE: Man konnte die Lichter der feindlichen Schiffe sehen. Die Überfahrt dauerte lange, bis es ganz hell geworden war. Alle Welt mit dem Gewehr in der Hand. Ein erstes Flugzeug kam in Sicht. Gegen sechs Uhr morgens hob sich der Nebel. Da sahen wir die Schiffe wie hinter einem Vorhang hervorkommen. Ich dachte, sie würden uns auf dem See an die Gurgel gehen. Aber sie kamen nicht näher. Sie fuhren bis nach Kigoma im Geleit neben uns her. Wenn die Gefahr groß ist, mußt du ihr entweder trotzen oder weglaufen. Als man die Häuser von Kigoma sah, näherte sich ein kleines Boot, und wir machten halt. Der Che stand auf dem Boot. Er sprach über die Niederlage.

CHE: [nach Drekes Version] Compañeros, aus Gründen, die ihr kennt, ist jetzt der Moment der Trennung gekommen. Ich werde nicht mit euch an Land gehen. Wir müssen jede Art von Provokation vermeiden. Der hinter uns liegende Kampf hat uns zu vielen Erfahrungen verholfen; ich hoffe, daß einige von euch trotz aller Schwierigkeiten, die wir durchgemacht haben, falls Fidel eines Tages eine andere Mission dieser Art anordnen sollte, antworten werden: Presente! Ich hoffe auch, daß ihr, wenn ihr rechtzeitig zum 24. Dezember zurück seid und es das Spanferkel gibt, nach dem sich einige so gesehnt haben, an dieses einfache Volk denken werdet und an die Compañeros, die wir im Kongo zurückgelassen haben. Man ist nur Revolutionär, wenn man bereit ist, alle Bequemlichkeiten hinter sich zu lassen und in ein anderes Land zu gehen, um zu kämpfen, vielleicht werden wir uns in Kuba oder in einem anderen Teil der Welt wiedersehen. Siki ist ab sofort Chef der Gruppe, Moja Stellvertreter und Tembo zuständig für politische Angelegenheiten.

DREKE: Er blickte auf die Erfahrungen zurück und sagte, die Entscheidung der kongolesischen Führung, den Kampf aufzugeben, hätte uns zum Rückzug gezwungen. Er nannte die Namen der gefallenen Compañeros, die wir nicht vergessen dürften. Er sagte, womöglich würden wir eines Tages zurückkehren, die Mission ...

VIDEAUX: Und am Ende sagte er zu uns, wir würden uns irgendwo wiedersehen.

KUMI: Dann fuhr er mit Papi und Coello, seinen Assistenten, in einem Bötchen davon.

CHE: Wir überquerten den See trotz der Langsamkeit der Boote ohne Probleme und trafen am hellichten Tag in Kigoma ein, in trauter Eintracht mit dem Lastschiff, das auf der Route zwischen Albertville und diesem Hafen pendelte.

Es schien, als habe jemand einen Damm geöffnet, und wie eine kochende Flüssigkeit barst aus den Bötchen die Begeisterung von Kubanern und Kongolesen hervor, die mich mehr verletzte als ansteckte. Während dieser letzten Stunden im Kongo fühlte ich mich einsamer als je zuvor, in Kuba oder irgendwo sonst auf meinen Irrfahrten durch die Welt. Nun war ich wie Odysseus zurückgekehrt von all meinen Irrfahrten und ganz und gar allein.



Voherige Seite 20. November: Das Ende des Rückzugs In Kigoma Nächste Seite

Inhaltsverzeichnis Inhalt Das Jahr, in dem wir nirgendwo Aufwärts

Kontakt: nadir@mail.nadir.org