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Der letzte Brief seiner Mutter


CELIA DE LA SERNA: Buenos Aires, den 14. April 1965. Mein Liebster: Meine Briefe klingen also seltsam? Ich weiß nicht, ob wir die Natürlichkeit verloren haben, mit der wir einmal miteinander geredet haben, oder ob es sie nie gegeben hat und wir uns immer in diesem leicht ironischen Tonfall unterhalten haben, den wir an beiden Ufern des Río de la Plata kultivieren, überdies verschlimmert durch unseren eigenen, noch verschlosseneren familiären Umgangston. Die Sache ist die, daß mich immer eine große Sorge dazu gebracht hat, den ironischen Tonfall aufzugeben und direkt zu sein. Offenbar geschieht es dann, daß meine Briefe nicht mehr verständlich sind und seltsam und geheimnisvoll werden. In diesem diplomatischen Tonfall, den unser Briefwechsel angenommen hat, muß auch ich zwischen den Zeilen den geheimen Sinn herauslesen und interpretieren. Ich habe Deinen letzten Brief so gelesen, wie ich die Nachrichten in La Prensa oder La Nación aus Buenos Aires lese, ich entschlüssele, oder versuche es wenigstens, den wirklichen Sinn eines jeden Satzes und was er noch bedeuten mag. Das Ergebnis ist ein Meer von Verwirrungen gewesen und eine Unruhe und eine noch größere Bestürzung ... Ich werde keine diplomatischen Worte benutzen. Ich werde sehr direkt sein. Es scheint mir wirklich irrsinnig, daß in Kuba, wo es so wenig Köpfe mit organisatorischen Fähigkeit gibt, all diese für einen Monat zum Zuckerrohrschneiden gehen, dabei gibt es doch im Volk so viele und so gute »Macheteros«. Es als freiwillige Arbeit zu tun, in Zeiten, die normalerweise der Entspannung oder der Zerstreuung dienen, an einem Samstag oder Sonntag, ist etwas anderes. Und auch etwas anderes ist, es zu seiner Hauptaufgabe zu machen, wenn es darum geht, ein für allemal den Nutzen und die Notwendigkeit des Einsatzes von Erntemaschinen zu demonstrieren, wenn von der Ernte und von der Menge an Tonnen Zucker die Devisen abhängen, die Kuba braucht. Ein Monat ist eine lange Zeit. Es wird Gründe dafür geben, die ich nicht kenne. Was Deinen persönlichen Fall angeht, wenn Du Dich nach diesem Monat mit der Leitung eines Unternehmens beschäftigen willst, einer Arbeit, der sich Castellanos und Villegas mit gewissem Erfolg gewidmet haben, scheint mir der Wahnsinn ins Absurde überzuschlagen, vor allem, wenn diese Arbeit fünf Jahre dauern soll, nach denen Du ein vollwertiger Kader geworden sein willst. Weil ich die Beharrlichkeit kannte, mit der Du nicht einen Tag dem Ministerium fernbleiben wolltest, fragte ich mich, als ich sah, wie sich Deine Auslandsreise allzu sehr verlängerte: Wird Ernesto Industrieminister bleiben, wenn er nach Kuba zurückkehrt? Wer hat Recht oder den Vorzug bekommen im Streit um die Mittel zum Anreiz der Wirtschaft? Die Fragen sind jetzt halb beantwortet. Wenn Du ein Unternehmen leiten wirst, heißt das, daß Du nicht mehr Minister bist. Je nachdem, wer an Deiner Stelle ernannt wird, wird man sehen, ob der Streit auf eine salomonische Art beigelegt worden ist. Daß Du für fünf Jahre eine Fabrik leiten wirst, ist jedenfalls eine zu große Verschwendung Deiner Fähigkeiten. Und es ist jetzt nicht die Mama, die spricht, sondern eine alte Dame, die darauf hofft, die ganze Welt zum Sozialismus bekehrt zu sehen. Ich glaube, daß Du kein guter Diener des internationalen Sozialismus bist, wenn Du wirklich tust, was Du sagst. Wenn aus irgendeinem Grund in Kuba der Weg für Dich versperrt sein sollte, gibt es in Algerien einen Herrn Ben Bella, der Dir dankbar wäre, wenn Du ihm dort die Wirtschaft organisieren oder ihn dabei beraten würdest, oder einen Herrn Nkrumah in Ghana, dem es genauso ginge. Ja, Du wirst immer ein Fremder bleiben. Das scheint Dein ewiges Schicksal zu sein.

Was für ein Unding von einem Brief! Ich würde ihn am liebsten zerreißen, aber er wird abgeschickt, wie er ist. Ich war entzückt, als mich Deine Familienfotos erreichten. Sie sind alle wundervoll, obwohl mich keins Deiner Kinder an Dein Gesicht oder an Deinen Ausdruck erinnert. Ich bin froh, daß die Produktion eingestellt worden ist, denn ich war die ganze Zeit sehr in Sorge um Aleida während der letzten Schwangerschaft. Sowohl G. wie auch J. zerreißen sich schier den Mund, um die Schönheit Deiner geheimen Liebe herum zu erzählen. Ich hätte gern auch ein Foto von ihr gesehen. Sie hat einen so exotischen Typ und eine so orientalische Grazie und Sanftheit, daß ihre Schönheit es ohne weiteres mit der von Florencia aufnehmen könnte, der ältesten Tochter von Roberto, was, wie ich Dir versichern kann, einiges heißen will. J. erzählte mir, daß Du ihm eine Nachricht von mir ausrichten wolltest, und jetzt bist Du leer ausgegangen, weil er sie schon von mir erfahren hat: fünfzehn zu null. Er ist genau wie G. sehr beeindruckt von den großen organisatorischen Fortschritten in Kuba. Um zu einem anderen Thema zu kommen, ich glaube, ich habe Dir schon erzählt, daß Luis und Celia sich getrennt haben. Luis wollte nach Kuba gehen, um dort zu arbeiten. Er ist ein talentierter Mensch. Aber jetzt zögert er, weil er nicht weiß, wohin sich die Dinge in Zukunft bewegen werden. Juan Martín hat einen ganz neuen kleinen Jungen, der noch nicht einen Monat alt ist. Ja, es tut mir sehr leid, daß ich im Augenblick nicht nach Kuba fahren und an Deiner Seite sein kann, und sei es nur, um jeden Morgen »Guten Morgen, Alter« und »Chau, Alter« zu Dir zu sagen. Wenn man das Tag für Tag wiederholt, bekommt es eine gewisse Bedeutung. Ich hätte auch gern Celia und den kleinen Ernesto kennengelernt und Aliuchas Gebrabbel zugehört. Ein andermal.

Ich glaube nicht an den himmlischen Clown. Obwohl bei all dem, was diese Tiere von Amerikanern tun, für mich da noch gar kein Platz ist, Du weißt schon wo. Aber ich glaube, daß eine Menge Clowns übrigbleiben werden, und daß sie auf irgendeine Weise wieder eine gerechtere Gesellschaft aufbauen werden, und wenn sie wieder beim Knotenstock und den Stammesgruppen beginnen müssen. Ich umarme Dich, eine Riesenumarmung für Dich und die Deinigen.



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