»Ohne die Vereinigung mit Europa haben wir keine
Entwicklungschance. Das impliziert gleichzeitig die Standardisierung
ökonomischer Kriterien und auch die Übernahme der in der
europäischen Gemeinschaft üblichen Verhaltensmuster. Hier liegt
indes auch etwas anderes verborgen. Wenn wir uns den
»europäischen Stil« nicht aneignen, werden wir isoliert
bleiben, eignen wir ihn uns aber an, so werden wir Teil der
westeuropäischen Integration werden müssen. Die Frage ist jedoch,
inwieweit unsere innere Situation die Integration begünstigt. Deshalb
muß man annehmen, daß wir noch lange Zeit ein unterentwickeltes
Bauernland bleiben werden.«
Die Worte des Belgrader Politologen Dragan Veselinov von 1988 also am
Vorabend des Krieges, haben quasi programmatischen Charakter sowohl für
das Scheitern des jugoslawischen Entwicklungsmodells als auch für das
Verständnis des gewalttätigen Modernisierungsprozesses, der in
Ex-Jugoslawien momentan vollzogen wird. Das sozioökonomische
Entwicklungsgefälle Ex-Jugoslawiens ist geprägt von fast
kontinentalen Ausmaßen: Während sich im Norden im Laufe des
über 100jährigen Industrialisierungsprozesses eine
gesellschaftliche Infrastruktur entwickelt hat, die weitgehend
westeuropäischen Zuschnitt erreicht, verlief der nach dem 2.Weltkrieg
einsetzende Modernisierungsprozeß des Südens d.h., der bis Ende
des letzten Jahrhunderts unter osmanischer Herrschaft stehenden Regionen,
als ungleichzeitige Entwicklung, in der die Modernisierung des
ökonomischen Terrains punktuell blieb und nicht im gleichen Maße
eine Modernisierung der Gesellschaft bewirkte bzw. diese auch nicht im
gleichen Maße bewirken sollte, da in der Beibehaltung der Verbindungen
zum Dorf erst die Möglichkeit der Produktivierung der privaten
kleinbäuerlichen, am Eigenbedarf orientierten Bauernökonomie lag,
die nun quasi das Einkommen der mobilisierten und proletarisierten
Familienmitglieder subventionierte und damit helfen sollte, die
Reproduktionskosten in den neu entstandenen Industriezentren möglichst
niedrig zu halten. Ehedem wurde ein Großteil der Kosten der
Industrialisierung durch die staatlich verordneten Niedrigpreise für
landwirtschaftliche Erzeugnisse den privaten Kleinbauern abgepreßt.
Der immer wieder auftauchende Begriff der Ȇbersetzung
» der Landwirtschaft etc. des Südens bezeichnet hier die
entwicklungssoziologische Verschleierung der Verfestigung der
Kontinuität einer »moralischen Ökonomie«, deren
Konsumorientiertheit die Grenzen einer Inwertsetzung nach hinten verlagerte
und eine permanente Rationalisierungsblockade darstellte. Dieses
Entwicklungsgefälle, welches nicht nur ein sozioökonomisches war,
sondern, bedingt durch die historisch different entwickelte
Gesellschaftlichkeit der einzelnen Regionen, auch eine soziokulturelle
Ausformung fand, bildet nun den Hintergrund des Verständnisses der
gegenwärtigen Situation.
Neben dem Transfer aus dem agrarischen Wertraub war der
Nachkriegsmodernisierungsprozeß Jugoslawiens jedoch im wesentlichen
außenfinanziert, was nur möglich war durch die spezifische
geopolitische Lage Jugoslawiens an der Schnittstelle des Ost-West-Konflikts.
Dieser strategische Vorteil verschaffte dem Regime während des
»kalten Kriegs« sowohl vom Westen als auch vom Osten die
benötigten materiellen Ressourcen, um einerseits einen massiven
Modernisierungsprozeß einzuleiten und andererseits die sich daraus
ergebenden bzw. vorhandenen sozialen Konflikte abzudämpfen. Die
Geschichte des gescheiterten jugoslawischen Entwicklungsmodells liest sich
dementsprechend, bis in die 80er Jahre, wie eine Geschichte des
Zurückweichens vor den sozialen Spannungen.
Und dennoch gelang in den verschiedenen Modernisierungsphasen eine
Zerlegung des sozialen Raums, die zwar im produktivistischen Sinne
dysfunktional war, die aber eine Zerstörung von Gesellschaftlichkeit
zur Folge hatte, die seit den 80ern und besonders mit Kriegsbeginn zum
Ansatzpunkt der kriegsmäßigen Deregulierung wird. Im wesentlichen
ging es dabei um die ungelöste Agrarfrage, die im Laufe des
Modernisierungsprozesses immer mehr, im doppelten Sinne, in die Zange
genommen wird. Zum einen geschah dies durch die Industrialisierungs- und
Modernisierungsprogramme selbst, die eine deutliche Präferenz in
Richtung eines Ausbaus der industriellen Infrastruktur der Gesellschaft
besassen, und zum anderen kam es innerhalb dieses Entwicklungsprozesses zu
einer »Revolution der Erwartungen« besonders der jungen
Generation, die v.a. im Süden den Migrationsprozeß enorm antrieb
und die Absorbtionsmöglichkeiten des industriellen bzw. des modernen
Sektors bei weitem überstieg.
Die räumliche Fluktuation, in Jugoslawien schon immer ziemlich
hoch, steigerte sich seit den 70ern weiter und führte besonders im
Norden und in den neuen Industriezentren zu einem Zustrom von in der Regel
unqualifizierten jungen Männern aus dem Süden, die meist der
Plackerei der Landwirtschaft entflohen sind, aber noch stark von den sich
auflösenden dörflichen Strukturen geprägt sind, oft
Sprachschwierigkeiten haben, in Barackenlagern oder Wohnheimen wohnen, wo
sie häufig von vor ihnen migrierten EinwohnerInnen ihres Herkunftsortes
aufgenommen werden und zumeist schwere körperliche Arbeit verrichten
müssen, sofern sie überhaupt einen Job finden. Während die
Frauen, Alten und Kinder häufig auf dem Land zurückbleiben und die
Landwirtschaft mehr und mehr zur Domäne der Frauen wird, sind die
jungen Migranten »Gastarbeiter im eigenen Land«, räumlich
und sozial von der eingesessenen Bevölkerung getrennt. Sie sind im
Norden der sichtbare Ausdruck des jugoslawischen Nord-Süd-Konflikts,
des Hereindrängens der Peripherie in die Metropole.
Im Zuge der Kontraktion der jugoslawischen Ökonomie im Gefolge der
globalen Deregulierung, des Verlusts der strategischen Besonderheit durch
den Wegfall des Ost-West-Konflikts und des damit einhergehenden Ausbleibens
der politischen Kreditierung des maroden jugoslawischen Entwicklungsmodells
kommt es nicht nur zu einer Zuspitzung der sozialen Kämpfe, sondern
auch zu einer Politisierung des Nord-Süd-Konflikts, der die Lösung
der »ungelösten Agrarfrage« zur jeweils spezifischen
Integration der nunmehr zu Nationalstaaten mutierten Republiken in den
europäischen Wirtschaftsraum bewerkstelligen soll. Und diese
Politisierung des Nord-Süd-Konflikts transformiert nun auch die
sozialen Kämpfe in einen neuen nationalistischen Korporatismus und
verbindet die sozialen Aspirationen mit einer Teilnahme an den Vertreibungs-
und Vernichtungsszenarien gegen die nunmehr als
»Überbevölkerung« definierten Roma, Albaner,
Muslime...
Doch dieser Transformationsprozeß erwies sich zunächst als
sehr fragil, immer wieder durchbrach der soziale Prozeß die engen
nationalistischen Grenzen, so daß sich letztlich nur im Medium des
Krieges die Modernisierung der Sozialstruktur durchsetzen ließ. Im
Zentrum des Kriegs steht dieser ungelöste jugoslawische
Nord-Süd-Konflikt, die »ungelöste Agrarfrage«, die nun
im Krieg ethnisch zerlegt wird, bevölkerungspolitisch modernisiert
durch Vernichtung und Vertreibung der
»Überschußbevölkerung«, die erst im Krieg
freigesetzt und geschaffen wird und durch Umsiedlungen produktiv neu
zusammengesetzt werden soll. Während in den nördlichen Republiken
dieser Prozeß geradezu klassisch metropolitan als Loslösung von
den südlichen »Hungerleiderrepubliken« und durch die
Ethnisierung des Arbeits- und Wohnungsmarktes vollzogen wird, entfaltet sich
dieser kriegsmäßige Ethnisierungsprozeß der sozialen Frage
in den südlichen Republiken mit geballter Kraft und in den
unterschiedlichsten Facetten.
Die Problematik der Darstellung der Ethnisierungsprozesse im ehemaligen
Jugoslawien bestand nun u.a. darin, daß die Begrifflichkeit oft die
Differenzierungslinien der Ethnisierung nachzuzeichnen scheint, indem mit
den Begriffen, z.B. »die Albaner
«, eine ethnische Homogenität reproduziert wird. Daß
diese Gesellschaften natürlich in sich überaus differenziert sind,
ändert aber nichts daran, daß sie als gesamte angegriffen werden.
Die Ethnisierung bestand genau darin, die politische Differenzierung des
jugoslawischen Sozialraums, die sich in der Unterscheidung der verschiedenen
Nationalitäten ausdrückte, was ganz sicherlich einen
entwicklungsrassistischen Hintergrund ausdrückte, aber mitnichten einer
Ethnisierung des Ausbeutungsgefälles und der gesellschaftlichen
Beziehungen entsprach, im Sinne einer Konstruktion ethnischer Differenz
umzudeuten. Dafür ließen sich aber keine neuen Begriffe finden,
was sicherlich auch der fehlenden Diskussion und daher der eigenen
Unfähigkeit geschuldet ist.
Im folgenden soll nun dieser Ethnisierungsprozeß exemplarisch am
Beispiel des Kosovo, Serbiens und Bosnien-Herzegowinas nachgezeichnet
werden, um anschließend wieder zu einer Gesamtbetrachtung
zusammengefügt zu werden.
I. Kosovo
Der Konflikt im Kosovo hat für den Ethnisierungsprozeß in
Jugoslawien paradigmatische Bedeutung und ist gleichzeitig die
Initialzündung des gesamten kriegerischen Deregulierungsprozesses in
Jugoslawien gewesen, der sich dann allerdings in seiner ganzen
Brutalität im Krieg um Bosnien-Herzegowina entfaltet.
Der Kosovo (ca.2 Mio. Einwohner, davon über 80% AlbanerInnen)
zählt mit einer Bevölkerungsdichte von 147 Menschen pro qkm zu den
am dichtesten besiedelten Teilen des ehemaligen Jugoslawien
(durchschnittlich ca. 80 Menschen pro qkm). Ihr Auskommen fanden die
Menschen bisher v.a. in der stark übersetzten Landwirtschaft, die wenig
technisiert, subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet, auf kleinen privaten
Höfen durch die mehrere Generationen umfassende Großfamilie
organisiert war, und im städtischen Handwerk und Kleinhandel. Auch hier
ist die vorherrschende Produktionsform die in einem Haus wohnende mehrere
Generationen umfassende Großfamilie. Handel und Handwerk gelten
ebenfalls als stark übersetzt. Daneben gibt es einen stark
kapitalintensiven und extrem monostrukturell ausgerichteten Industriesektor
(v.a. Energiewirtschaft und Metallurgie) und natürlich, wie
überall, nicht nur in Jugoslawien, einen aufgeblähten Verwaltungs-
und Parteiapparat. Zumindest bis zum Prozeß der kriegsbedingten
Mobilisierung bzw. Vertreibung der albanischen Bevölkerung hat sich die
stark patriarchal strukturierte Großfamilie aufgrund ihrer zentralen
ökonomischen Bedeutung über die Jahrzehnte hinweg relativ stabil
halten können.
Geschichte
Nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht im Herbst 1944
übernahmen keineswegs die Tito-Partisanen die Macht im Kosovo, sondern
die albanischen Nationalisten der »Balli kombetar«, die einen
starken Rückhalt in der Bevölkerung hatten, wie selbst Tito
eingestehen mußte. Mit militärischer Unterstützung Albaniens
zwangen die jugoslawischen Kommunisten den Kosovo im Februar 1945 unter eine
Militärverwaltung. Nach einem mehrere Monate dauernden Kampf waren die
Kräfte der Balli kombetar im Juli 1945 besiegt und die
Militärverwaltung wurde aufgehoben. Ruhe herrschte damit noch lange
nicht im »gefährlichsten Teil des Landes«, wie der Kosovo
schon damals genannt wurde, und noch lange gab es in den Bergen und
Wäldern einen Partisanenkrieg gegen das kommunistische Regime.
Nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin 1948 begann eine Phase des
Terrors gegen die jetzt als »konterrevolutionär«
abgestempelte albanische Bevölkerung, die sich bis Anfang der 60er
Jahre hinziehen sollte.
Zwar flossen seit Ende der 50er Jahre Investitionen in die
wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo, im Vergleich mit den anderen
Regionen Jugoslawiens waren diese aber dermaßen gering, daß sich
der Abstand des Kosovo, als ärmster Region Jugoslawiens, zu den anderen
Republiken noch weiter vergrößerte. Die Errichtung sogenannter
»politischer Fabriken« zielte allerdings auch keineswegs auf
eine wirtschaftliche Entwicklung des Kosovo - die Fabriken waren wohl zu
einem Teil als Verlustbetriebe konzipiert - sondern waren der erste Versuch
der materiellen Einbindung einzelner Teile der Bevölkerung und damit
der Versuch der Zersetzung der widerständischen Sozialität.
Der Zerfall des Zentralismus seit Ende der 50er machte sich für die
AlbanerInnen des Kosovo positiv bemerkbar. Seit Anfang der 60er Jahre nimmt
der repressive Druck deutlich ab (die Polizei bestand überwiegend aus
Serben), und mit dem Brioni-Plenum 1966 beginnt nun im Kosovo eine Epoche
der Modernisierung die bis 1981 dauern und gravierende ökonomische,
politische, soziale und kulturelle Veränderungen mit sich bringen
sollte - und dies nicht nur für den Kosovo.
Ein gewaltiges Investitionsprogramm setzte ein, was allerdings v.a. dem
Ausbau der vorhandenen kapitalintensiven Basisindustrie im Bergbau und dem
Energiesektor zugute kam und nur wenige Arbeitsplätze schuf. Die neuen
industriellen Arbeitsplätze in der entstehenden verarbeitenden
Industrie schufen aber einen Anreiz zur Landflucht ebenso wie die
Öffnung der Beschäftigungsmöglichkeiten für AlbanerInnen
in Polizei und Verwaltung. Der Abbau der Beschäftigungsprivilegien
für Serben führte zu einer starken Abwanderung von Serben aus dem
Kosovo, was weitere Arbeitsmöglichkeiten für die Albaner
freisetzte(bei der Vergabe von Arbeitsplätzen wurde nun die Kenntnis
der albanischen Sprache verlangt). Schrittweise kam es zu einer
»Albanisierung« des wirtschaftlichen Lebens im Kosovo. Die
Landflucht und die partielle Modernisierung der Landwirtschaft (von 1948 bis
1981 verringerte sich der Anteil der landwirtschaftlich Tätigen an der
Gesamtbeschäftigungszahl von 80,9% auf immerhin noch 54,6%)
führten auch erstmals zu einer geringen Steigerung der
Agrarproduktivität.
Das Modernisierungsprojekt war aber so konzipiert, daß damit die
sozialen Probleme des Kosovo nicht zu lösen waren. Im Gegenteil: die
Struktur der Modernisierung (Modernisierung und Beschäftigungsabbau in
der Landwirtschaft, Bevorzugung der kapitalintensiven und nicht
beschäftigungsintensiven Industrie) verschärfte die
ökonomische und soziale Situation in der Region, die die höchste
Geburtenrate Europas aufweist, hin zu trikontinentalen Verhältnissen.
Die Schere zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung des Kosovo und den
anderen Republiken, auch der übrigen Entwicklungsgebiete,
vergrößerte sich immer weiter. Die Arbeitslosigkeit nahm
drastisch zu, da nun auch die »versteckte Arbeitslosigkeit« des
Agrarsektors durch die Migration ein Stück weit sichtbar wurde. V.a.
Jugendliche unter 19 Jahren, die über 50% der Kosovo-AlbanerInnen
ausmachen, waren arbeitslos. Auch die Aufblähung des Bildungssektors,
die Universität Pristina wurde in den 70ern die größte
Jugoslawiens, konnte diesen Zustand nur wenig kaschieren. Die
Universität wurde zudem zu dem Ort, an dem sich der albanische
Nationalismus seit den 60ern entwickelt.
Der Kosovo war ein soziales Pulverfass, und es schien nur eine Frage der
Zeit, wann es explodieren würde.
1981
Am 11.3.1981 kam es mittags zu einem Protest von StudentenInnen der
Universität Pristina wegen der schlechten Qualität des Mensaessens
und gegen die schlechten Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Der
zunächst friedliche Verlauf der Demonstration von ein paar hundert
StudentInnen ins Stadtzentrum schlug um, als ein Gerücht in Umlauf kam,
daß es Verhaftungen gegeben habe. Darauhin bildete sich ein weiterer
Zug, der mit Parolen die Freilassung der Gefangenen forderte, bis
schließlich die gesamte Demo in eine Demonstration gegen die
Parteiführung des Kosovo umschlug. Die Miliz ging mit Tränengas
gegen die mittlerweile mehrere tausend Menschen umfassende Menge vor, und es
entwickelte sich eine Straßenschlacht, bei der 2 Milizionäre
schwer verletzt wurden. Über die Ereignisse wurde eine
Nachrichtensperre verhängt - erst 14 Tage später erfuhr die
jugoslawische Öffentlichkeit, was geschehen war. Die Parteiführung
suchte das Gespräch mit den StudentInnen, um die Explosivität der
Stimmung abzubauen und eine weitere Ausweitung auf die Bevölkerung zu
verhindern.
Am 26.3. kam es erneut zu einer Demonstration, da sich seit dem 11.3.
nichts verändert hatte. Neben den sozialen Forderungen tauchten nun
auch erstmals nationalistische Parolen auf: »Kosovo den
Kosovaren«, »Wir sind Albaner, nicht Jugoslawen«. Die
Parteiführung des Kosovo hatte nun den Innenminister um
»Hilfe« gebeten, und so gingen diesmal nicht lokale
Polizeieinheiten gegen die StudentInnen vor, sondern Spezialeinheiten. Sie
zerschlugen die Demonstration mit ungewohnter Brutalität und verfolgten
und verprügelten die StudentInnen bis in die Wohnheime hinein.
In den folgenden Tagen kam es im gesamten Kosovo zu Auseinandersetzungen
mit der Polizei. Doch jetzt waren es nicht mehr die StudentInnen allein,
sondern auch die ArbeiterInnen, die ihre Fabriken verließen, um gegen
ihre miesen Lebensbedingungen zu demonstrieren. Die ganze Region schien zu
explodieren: Die Situation war eskaliert. Am 2.4. wurde über die
gesamte Region der Ausnahmezustand verhängt und das Militär zur
Niederschlagung des Aufstandes eingesetzt. Nach 100 Toten war die
Friedhofsruhe wieder hergestellt.
Die Niederschlagung des Aufstandes beendete die 15jährige
Modernisierungsphase des Kosovo. Das Konzept der nachholenden Entwicklung
des Kosovo war genauso gescheitert wie sein großes Vorbild, die
Entwicklungsdekade der UN. Weder konnten die Strukturen auf dem Land
modernisiert werden noch konnte die Industrialisierung Schritt halten mit
dem Bedarf an Einkommensmöglichkeiten außerhalb der
Landwirtschaft. Die Landflucht verwandelte Pristina dagegen in einen Vorhof
des Landes: Selten migrierten ganze Familien, so daß zumindest ein
Standbein weiter auf dem Land blieb und die Zirkulation von Erfahrungen von
der Stadt auf das Land enorm beschleunigt wurde, was die rasche Ausbreitung
des Aufstandes enorm begünstigte. Pristina wuchs nach dem 2.Weltkrieg
von 14.000 Einwohnern auf heute ca. 140.000, was zu einem rapiden Verfall
und zur Verslumung führte.
Die Initiation moderner Sozialstrukturen war in einem solchen Chaos
nicht möglich, so daß die Großfamilie, obwohl
ökonomisch und sozial in ihrer traditionellen Funktion schon stark
eingeschränkt, als Residualgröße weiterhin der wesentliche
Bezugsrahmen blieb. Die Großfamilie in ihrer neuen intermediären
und intermittierenden Funktion, zwischen Stadt und Land, zwischen Moderne
und Tradition, ist nun auch der soziale Ort, an dem der albanische
Nationalismus neu entsteht: und zwar in dem städtischen intellektuellen
Bereich, welcher durch die Ausweitung des Bildungssektors einem
Modernisierungsprozeß unterworfen war, in dem sich der traditionelle
Bezugsrahmen auf die Großfamilie in ein nationales Projekt
transformierte, in welchem die modernisierten städtischen Eliten die
legitimen nationalen Führer der neugeschaffenen unterdrückten und
nach Befreiung strebenden »Nation« sind. Bis 1981 ist der
Nationalismus jedoch im wesentlichen noch ein hochkopiertes
Großfamilienprojekt, und nirgendwo scheint die Dominanz der sozialen
Frage durch nationalistische Forderungen konterkariert zu werden. Und doch
ist der Nationalismus der AlbanerInnen ein Zeichen der Zersetzung der
sozialen Frage.
1981-1990
Das jugoslawische Regime war 1981 schon am Rande des wirtschaftlichen
Kollapses und besaß nun nicht mehr, wie noch 1968, die Ressourcen, um
mit Hilfe einer selektiven materiellen Einbindung die Sozialbewegung in
ihrer Feindlichkeit gegenüber dem Regime aufweichen zu können.
Auch war die Massivität und Breite des Aufstands ein Zeichen
dafür, daß es hier nicht mehr mit neuen
Umverteilungsmodalitäten allein getan war, sondern eine soziale
Revolution sich von ganz unten zu entwickeln drohte, deren Aspirationen
durchaus auf andere Regionen überspringen konnten und einen nicht mehr
zu stoppenden Flächenbrand revolutionärer Bewegungen aulösen
könnten. Derart in der Klemme, einerseits der drohende ökonomische
Kollaps und die Dringlichkeit einer Deregulierungsstrategie und auf der
anderen Seite die Drohung einer sozialen Revolution, blieb dem Regime als
letzte Option der Angriff auf die sozialen Strukturen des Kosovo. Der
Aufstand bedrohte die Überlebensmöglichkeiten des Regimes und war
daher nur als »Konterrevolution« wahrnehmbar.
Die erste Reaktion des Regimes war eine Säuberungswelle in der
Partei und im Staatsapparat, »Differenzierung« genannt, die
nicht nur Funktionäre traf, sondern ebenso hunderte einfacher
Parteimitglieder ausschloß (Die Parteimitgliedschaft war, wie
überall im Sozialismus, mit gewissen Privilegien, z.B. bei der
Wohnungs- und Arbeitssuche, verbunden).
Nach Säuberungen in den Fabriken verloren tausende AlbanerInnen
ihren Arbeitsplatz. Investitionen flossen kaum noch in den Kosovo, und es
begann ein Deindustrialisierungsprozeß, der von einer massiven
Migrationsbewegung begleitet war(es wird geschätzt, daß in den
80ern ca. 200.000 AlbanerInnen und 40.000 SerbInnen den Kosovo
verließen).
Die Gefangenen des Aufstands, zumeist junge Männer, wurden als
Konterrevolutionäre zu extrem hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Die
Kriminalisierung der politischen und sozialen Opposition und ihre
Verurteilung zu langjährigen Zuchthausstrafen bereits für kleinste
»Vergehen« bzw. geplante und nicht ausgeführte
»Delikte« (wie z.B. Flugblattverteilen und Parolenmalen) ist die
einzige Form des administrativen Umgangs mit der sozialen und politischen
Krise des Kosovo. Schon 1983 sind über 40% der politischen Gefangenen
Jugoslawiens AlbanerInnen, und die meisten sind noch keine 25 Jahre
alt.
Am einschneidensten aber ist die Ethnisierung des sozialen Konflikts.
Sie ist die Klammer zwischen der sozioökonomischen Deklassierung und
Entrechtung der AlbanerInnen und der serbischen Neuordnungspolitik, die ein
bevölkerungspolitisches Programm durchsetzt, welches sich in den 90ern
zum drohenden Genozid an den AlbanerInnen zuspitzen soll.
Unmittelbar nach der Liquidierung des Aufstandes setzte in
sämtlichen serbischen Medien eine gezielte Kampagne gegen die
AlbanerInnen des Kosovo ein. Im Mittelpunkt steht dabei der angebliche
Genozid an den Serben im Kosovo, d.h. das reale Faktum der Abwanderung von
Serben aus dem Kosovo während der bis 1981 laufenden
Modernisierungsperiode wird dahingehend umgedeutet, daß die Serben im
Kosovo von den Albanern gedemütigt, beleidigt, verfolgt und von
Vertreibung und Vernichtung bedroht würden. Tatsächlich ist es die
mediale Inszenierung einer serbischen Opfergemeinschaft, die mithilfe der
Kolportage von Vergewaltigungen serbischer Frauen, der Schändung
serbischer Kirchen und Friedhöfe, des Abbrennens der Felder serbischer
Bauern etc. durch »die Albaner« einen Vernichtungsangriff auf
die geistige, kulturelle und materielle Identität »der
Serben« suggeriert, der einem Genozid gleichkomme.
Für die nationalistischen Serben war der Kosovo seit eh und je
serbisches Kernland (die serbische Bezeichnung für den Kosovo, die bis
1968 und seit 1989 wieder die offizielle ist, ist
»Kosovo-Metohija«. Metohija leitet sich ab vom griechischen
Begriff »metoh«, der soviel wie »Kirchengut«
bedeutet. Kirchen und Klöster sind im Kosovo im wesentlichen Stiftungen
der serbischen Könige aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Es ist
einleuchtend, daß dieser Begriff von den Albanern abgelehnt wird,
zumal die Bedeutung der Kirche für die Albaner im wesentlichen in der
Opposition gegen das kommunistische Regime bestand. Wichtig für den
serbischen Nationalismus ist sicherlich auch die Revitalisierung des Mythos
der Schlacht vom Amselfeld, welcher geradezu klassisch die Inszenierung
einer Opfergemeinschaft als Identitätsstiftung darstellt.). Die
Kosovo-Problematik nimmt nun auch im Memorandum der »Serbischen
Akademie der Wissenschaften und Künste«, welches als
programmatisches Grundsatzprogramm des serbischen Nationalismus gilt, eine
herausragende Bedeutung ein. Damit kündigt sich an, was kurze Zeit
später im Kosovo bittere Realität werden sollte: Der Beginn der
projektierten Liquidierung der Kosovo-Frage. Ein Jahr nach
Veröffentlichung des Memorandums, auf dem Höhepunkt der sozialen
Krise Jugoslawiens und dem endgültigen Scheitern der
Modernisiererfraktion der Jugoperestroika, übernimmt eben jener
nationalistische Flügel um Milosevic die Parteiführung.
Schon vor der Machtübernahme im September 1987 demonstriert
Milosevic, welche neue Qualität der serbische Nationalismus in den
nächsten Jahren erreichen wird: Im Mai 1987 kommt es in Kosovo Polje,
einem mehrheitlich von Serben bewohnten Ort in der Nähe von Pristina,
zum ersten organisierten nationalistischen Massenmeeting, einem
»mitinsi« der Serben gegen ihre »gewaltsame
Vertreibung« aus dem Kosovo.
Die nationalistischen Massenmeetings der Serben im Kosovo hatten ihre
Funktion in der populistischen Flankierung der Serbisierungspolitik der
Milosevic-Fraktion. Die Angriffe auf die ökonomischen, politischen und
kulturellen Überlebensmöglichkeiten der AlbanerInnen verwandelten
sich im Konzert von administrativer Serbisierungspolitik, ökonomischem
Aushungern, nationalistischen Massenmeetings und anti-albanischen Pogromen
zu einer vollständigen Einkreisung, die jetzt auch mehr und mehr dem
Nationalismus bei den Albaner, als ideologischer Restgröße des
Anspruchs auf Überleben, zur Durchsetzung verhalf. Nur aus diesem
Zusammenhang ist es zu verstehen, daß die Initialzündung des
erneuten Aufbegehrens der AlbanerInnen die Serbisierung der KP-Führung
des Kosovo war, gegen die sie noch 1981 gekämpft hatten.
Aus Protest gegen die Ablösung der albanischen KP-Führer
Jashari und Vllasi brachen am Morgen des 17.11.1988 ca. 3000 Bergarbeiter
des Bergwerks »Stari Trg« zu einem Protestzug, dem »Marsch
des Zorns«, ins 52 km entfernte Pristina auf. Im Laufe des Tages
schlossen sich immer mehr Menschen dem Zug an. Die Stimmung wurde immer
brisanter und konnte auch nicht durch das Auftreten von Vllasi beruhigt
werden. Aus allen Teilen des Landes kamen immer mehr Menschen nach Pristina,
und am nächsten Tag waren es schon 70.000. Am 19.11. demonstrierten
schließlich 250.000 Menschen in Pristina für das
Selbstbestimmungsrecht der Kosovo-Albaner. Erst als die Parteiführung
zusagte, die Absetzung der beiden Politiker erneut zu
»prüfen«, löste sich die Demonstration wieder
auf.
Die Serbisierungspolitik ging jedoch unverändert weiter ebenso wie
der ökonomische und repressive Druck auf die AlbanerInnen, und in der
Folgezeit kam es immer wieder zu kleineren Streiks und Demonstrationen im
gesamten Kosovo.
Als nun Rahman Morina, der »Lakai Belgrads«, zum neuen
Parteichef des Kosovo bestimmt wurde, eskalierte die Stimmung aufs Neue. Am
20.2.1989 weigerten sich 1300 Bergleute von »Stari Trg« aus
Protest gegen die Serbisierungspolitik, die Untertageschächte zu
verlassen. Die Welle der Solidaritätsstreiks erfaßte
zunächst fast alle Bergleute des Kosovo, und am 23.2. befand sich der
gesamte Kosovo in einem nicht erklärten Generalstreik, dem sich auch
mehr und mehr die lokalen Partei- und Verwaltungsinstitutionen anschlossen.
Die Sicherheitskräfte hielten sich total zurück, während das
Staatspräsidium mit der Einführung des Ausnahmezustands drohte.
Schließlich begab sich Azem Vllasi zu den Bergleuten und versuchte sie
zum Abbruch des Streiks zu bewegen. Dies gelang aber erst, als Morina
zurückgetreten war.
Noch während der Generalstreik lief, wurde am 23.2. in Belgrad die
Verfassungsänderung beschlossen, die die Autonomie des Kosovo
aufhob.
Als das Provinzparlament des Kosovo am 23.3. die
Verfassungsänderung annahm, eskalierte der Konflikt endgültig. Es
kam zu tagelangen militanten Auseinandersetzungen, und erstmals wurde von
Seiten der Demonstranten zurückgeschossen.
»Sondermaßnahmen«, d.h. der erste Schritt zur
Einführung des Ausnahmezustands, und die paramilitärische
Unterdrückung des Aufstands führten zu massiven Verhaftungswellen,
und tausende wurden in Schnellverfahren zu Haftstrafen verurteilt. Allein
1032 Arbeiter aus Urosevac wurden verurteilt, weil sie nach Einführung
der »Sondermaßnahmen« nicht zur Arbeit erschienen waren.
Mindestens 2oo Menschen wurden getötet.
Die Serbisierung aber ging weiter ebenso wie die Massenmeetings, die
gerade jetzt auch immer größer wurden: Allein am 28.6.1989, dem
6oo. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, mobilisierten die serbischen
Nationalisten 1 Million Menschen.
Ende Januar 1990 kam es bei einem Sonderparteitag des BdJK, dem letzten
gemeinsamen in der Geschichte Jugoslawiens, zur Ablehnung aller
Liberalisierungsforderungen, u.a. derjenigen, die die Situation im Kosovo
entschärfen sollten. Im Kosovo setzte daraufhin eine erneute
Streikwelle ein, die das ganze Land erfaßte. Der sich
anschließende Aufstand konnte erst nach Tagen heftigster
Auseinandersetzungen von den paramilitärischen Polizeieinheiten
zerschlagen werden. Erstmals wurde zur Unterstützung der Polizei die
JNA aufgefahren, ohne jedoch vorerst direkt in die Kämpfe einzugreifen.
Ab Anfang Februar übernahm aber das Militär sukzessive die
Verwaltung des Kosovo, und am 2.6. kam es, nach der Absetzung des
Provinzparlaments, zur Einsetzung eines serbischen Ausnahmeregimes im
Kosovo. Die Militärdiktatur war damit auch de jure
eingeführt.
Als erstes wurde die Reisefreiheit der AlbanerInnen innerhalb des Kosovo
eingeschränkt sowie den außerhalb des Kosovo arbeitenden
AlbanerInnen die Rückreise zu ihren Familien verboten. Der Streik hielt
jedoch weiter an und konnte erst unter den Bedingungen des Ausnahmeregimes
langsam zerschlagen werden.
Die Systematik der Unterdrückung der AlbanerInnen nahm unter dem
Kriegsrecht die Form des strukturiert geplanten drohenden Genozid an.
Sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens im Kosovo wurden einer
ethnischen Säuberung unterzogen. Schulen, Betriebe, Kleingewerbe,
Gesundheitswesen, Wohnungssektor...., überall wurden die AlbanerInnen
per Gesetz oder direkt gewalttätig »herausgesäubert«
und durch SerbInnen ersetzt, die zumeist direkt aus dem »Engeren
Serbien« umgesiedelt wurden. Die Energieversorgung, das
ökonomische Herzstück des Kosovo, wurde umgehend unter direkte
Militärverwaltung gestellt: Damit war erstmals ein Organ der
Arbeiterselbstverwaltung in einem großen Betrieb militärisch
weggeputscht. Aber nicht allein im städtischen und industriellen Sektor
wurde ethnisch gesäubert. Auch auf dem Land wurden die AlbanerInnen von
ihren Höfen vertrieben und durch serbische Neusiedler ersetzt. Dies
erfüllte gleichzeitig den Zweck der Rationalisierung der
Landwirtschaft, indem der personelle Besatz gesenkt und der technologische
erhöht wurde.
Vertreibung
Den AlbanerInnen blieb nichts als die Verteidigung ihrer nackten
Existenz und die Flucht. Der Krieg im Kosovo ist entgegen den
Beschönigungen in Presse und Politik längst im Gange, ein Ende
nicht abzusehen und damit auch nicht das Ende der Umsiedlungen und der
ethnischen Säuberungen, d.h. der Vernichtung und Vertreibung der
AlbanerInnen. Es kommt zwar ständig und überall im Kosovo zu mehr
und mehr auch bewaffneten Auseinandersetzungen, angesichts der
militärischen Lage erscheint dies momentan aber aussichtslos. Wieviele
AlbanerInnen im Kosovo noch leben und wieviele schließlich
überleben werden ist nicht voraussehbar.
Der drohende Genozid an den AlbanerInnen hat ganz sicherlich zu einer
Verfestigung des Nationalismus bei ihnen geführt und die radikalen
Nationalisten um Cosja gestärkt, was auch im Interesse des serbischen
Regimes ist, lassen sich doch nationalistische Eliten besser
funktionalisieren als soziale Ansprüche einer
»überflüssigen« Bevölkerung. Allein die Dimension
der Flucht und das Fehlen einer bewaffneten nationalen Befreiungsbewegung
weisen darauf hin, daß die sozialen Aspirationen noch nicht komplett
das Opfer nationaler Selbstvergessenheit geworden sind. Noch immer scheinen
das Überleben und die Emanzipation der Menschen das Hauptmotiv der
Kämpfe der AlbanerInnen zu sein und nicht die Opferbereitschaft
für eine mythisch bestimmte nationale Befreiung des Landes.
II. Serbien
Anders als der Prozeß der Zwangsethnisierung der AlbanerInnen des
Kosovo, in dem diese auf den Status einer trikontinentalen
»Überschußbevölkerung« reduziert und ihrer
Überlebensmöglichkeiten beraubt werden (Ethnisierung als
Bestandteil eines bevölkerungspolitischen Programms von
»Oben«), ist die Entwicklung des Nationalismus in Serbien ein
korporatistisches Konzept der Transformation sozialer Aspirationen von
»Unten« in einem Modernisierungsprozeß, der als
Prozeß von »Oben« nur unzulänglich beschrieben ist
und in dem wesentlich die »freiwillige« und auch die
»unfreiwillige« Selbstethnisierung einen Teilhabeanspruch von
»Unten« formuliert, der nun innerhalb einer serbischen
»Volksgemeinschaft« direkt aus der Partizipation , d.h., der
Verbindung von Raub- und Vernichtungsstrategie mit den sozialen
Aspirationen, an der Durchsetzung der serbischen Okkupations- und
Vertreibungspolitik seinen Anteil vom Kuchen einlösen will. Der
Ethnisierungsprozeß in Serbien mündet direkt in ein
Modernisierungsprojekt, welches die spezifischen Bedingungen des Scheiterns
des jugoslawischen Entwicklungsmodells in Serbien aufnimmt und in ein
geradezu klassisches faschistisches Projekt überführt. Die
Spezifik dieser serbischen Entwicklung liegt in dem rapiden und
unvollkommenen Prozeß der Transformation einer überwiegend
agrarischen Gesellschaftlichkeit in eine moderne industrielle
Arbeitsgesellschaft. Zusätzlichen Anschub erhält der neue
serbische Nationalismus dadurch, daß neben dem »engeren
Serbien« zwei autonome Regionen, die Vojvodina und der Kosovo,
Bestandteil der Republik Serbien sind. Diese liegen nun auch im ersten
Zugriff der serbischen Neuordnungspolitik, und der jeweilige spezifische
Zugriff dokumentiert gleichzeitig die beiden Entwicklungspole des serbischen
Nationalismus.
Deagrarisierug
Noch nach dem 2.Weltkrieg war Serbien mit einem Anteil von 70%
Agrarbevölkerung ein wenig industrialisiertes Agrarland. DIe
nachholende Entwicklung führte zu einer Mobilisierung der
Landbevölkerung, die in eine rapide und unkoordinierte
Verstädterung mündete. Bei einem 30%igen Zuwachs der
Gesamtbevölkerung leben aber immer noch über 30% der Serben auf
dem Land und verdienen ihren Lebensunterhalt im Agrarsektor. Die Abwendung
von der Landwirtschaft betrifft v.a. die junge Generation und erfaßt
sowohl die unfruchtbaren Bergregionen als auch die fruchtbaren
Beckenregionen. Als erstes wanderten junge Männer aus den fruchtbaren
Regionen in infrastruktureller Nähe zu den Städten und neuen
Industriezonen in die Städte, v.a. nach Belgrad. Die mittleren
Jahrgänge und die jungen Frauen schloßen sich an, und als
nächstes folgte die Migration aus den Bergregionen. Diese wanderten
aber zunächst nicht in die Städte, sondern im ersten Schritt
vorzugsweise in die Beckenregionen, wodurch der hier durch die Migration der
ansäßigen aktiven Bevölkerung in die Städte entstandene
Abwanderungsverlust zusätzlich zum generativen
Bevölkerungswachstum ausgeglichen werden konnte. Die Bergregionen
werden entvölkert, und in der Regel bestehen die Dörfer nur noch
aus Restfamilien, ohne erwachsene Kinder und Männer oder gar nur noch
aus alten Menschen, sofern überhaupt noch jemand dort lebt. Die
Landwirtschaft in den Ebenen wird hauptsächlich von privaten
Kleinbauern betrieben, Agrokombinate gibt es kaum. Der
Bevölkerungsaustausch bewirkte aber insgesamt ein Aufbrechen der
traditionellen, entwicklungsfeindlichen Gesellschaftlichkeit der
Bevölkerung der Beckenregionen und führte zu einer wachsenden
Marktorientierung der Landwirtschaft und auch zu einer langsamen
Intensivierung der Agrarproduktion.
Gesamtgesellschaftlich kam es aber durch den Modernisierungsprozeß
und den damit einhergehenden besseren Informationsfluß zur Ausbreitung
und Ausbildung neuer, am urbanen Zuschnitt orientierter Wertvorstellungen
auf dem Land, die eine Sogwirkung besonders auf die aktiven Teile der
ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung in die
großen Städte ausübten, die ursächlich aus der
Unzufriedenheit und Beschwerlichkeit im ländlichen Herkunftsbereich
resultiert und getragen wird von der Hoffnung auf ein besseres Leben, ohne
die Plackerei in der Landwirtschaft und der Eintönigkeit des
ländlichen Lebens. Diese optimistische Einschätzung der
großstädtischen Sphäre kontrastiert aber scharf mit den
tatsächlich vorgefundenen Existenzbedingungen und -möglichkeiten
in den Städten.
Industrialisierung
Die Industrialisierung verlief, nach der politischen Vorgabe der
Umwandlung der Agrargesellschaft in eine sozialistische
Industriegesellschaft, im wesentlichen initiiert über die Errichtung
von Großunternehmen oder zumindest mittelgroßen Betrieben v.a.
der Grundstoff- und Investitionsgüterindustrie an allen zentralen
Punkten der Beckenregion. Die Standorte sind aber in der Regel so weit
voneinander entfernt, daß es trotz eines relativ starken
Industriebesatzes nirgendwo zu Verdichtungen oder gar Ballungen kommt. Der
Inselcharakter wird noch dadurch gestärkt, daß selbst dort, wo
einzelne Branchen eine herausragende Bedeutung besitzen, die industrielle
Ausstattung meist relativ breit über viele Branchen gestreut ist und
ein Verbund unter den Zentren relativ unterentwickelt ist. Das Wachstum
dieser zentralen Orte war und ist rapide, und die durch die Migration
induzierte durchschnittliche Verdreifachung der Einwohnerzahl der
Städte seit Kriegsende führte dazu, daß der Anteil der
Zugezogenen heute überall den Anteil der autochthonen Einwohnerschaft
übersteigt. Zentrale Orte im Sinne einer Urbanisierung, d.h. der
Ausweitung städtischer Verhaltensweisen auf das Land, sind sie
allerdings nicht. Die Städte funktionieren hauptsächlich als in
sich geschlossene Sozialräume, und es gibt nur einen sehr begrenzten,
äußerlich bleibenden, unstrukturierten Kontakt und Impuls zum
Umland: Stadt und Land existieren nebeneinander und sind nicht funktional
aufeinander bezogen.
Der enorme Bevölkerungszuwachs führte dazu, daß weder
ausreichend Wohnraum noch genügend Arbeitsplätze in den
Städten zur Verfügung stand. Dies führte zu einer starken
Überbelegung des begrenzten Wohnraums (bis zu drei Generationen in
einer 3-Zimmer-Wohnung) sowie zum Wildwuchs der Stadtentwicklung, der v.a.
im Zentrum und den Randzonen bemerkbar ist. Während die Stadtzentren zu
Dienstleistungszentren modernisiert wurden, verblieb der
innerstädtische Wohnbereich am Rande der Zentren unverändert. Am
Stadtrand entstanden die bekannten Betonsiedlungen, und ihnen vorgelagert
umschließt die Städte ein Kranz illegaler, in Eigenarbeit
gebauter Behelfsbauten, in denen oftmals über 10% der
Stadtbevölkerung leben. Andererseits führt das nicht ausreichende
Arbeitsplatzangebot zur Sichtbarwerdung der vormals verdeckten
ländlichen Arbeitslosigkeit, und dies wird damit zu einem gravierenden
sozialen Problem.
Belgrad
»Aus Sehnsucht nach der Stadt, eher aber wohl aus
Verzweiflung, strömen in diesem Augenblick ganze lokale
`Völkerwanderungen' in die großen - reichen, weniger reichen und
armen - städtischen Siedlungsräume. Jede dieser `Wanderungen'
scheint mir demographisch folgenreicher zu sein als jene, die in
protogriechischen Zeiten, in den sogenannten `dunklen Jahrhunderten', die
Achäer bis nach Kleinasien vordringen ließen. Aber schon in
allernächster Zukunft werden diese `Völkerwanderungen', noch immer
verdeckt und unsichtbar, größer und gewaltiger sein als jene
Wanderung, die, zwei Millennien nach der Zerstörung Trojas, Rom
vernichtete und die mediterrane Welt ins Chaos stürzte...
Es ist freilich wenig wahrscheinlich, daß die Menschenmassen,
die jetzt in die Städte strömen, diese Städte anzünden
und in Ruinen verwandeln werden. Und doch, die Bevölkerungsimplosion
zerstört die Städte oder trägt doch zumindest zu ihrer
Selbstzerstörung bei: Die Städte wuchern in anormale,
bösartige Dimensionen aus; vor uns liegt eine schon weithin sichtbare
oder zumindest ganz leicht vorstellbare Welt aufgeblähter, fiebernder
Städte, ein unumkehrbar vergiftetes architektonisches Magma in
ständigem Verfall, in zeitweiliger Erneuerung, eine ganze Welt
eingezwängt in einen aschgrauen Betonpanzer! Aber das ist nur der
Anfang, nicht das Ende des Prozesses.« (Bogdan Bogdanovic, ehemaliger
Bürgermeister von Belgrad)
Die Wirkungen, die der Industrialisierungsprozeß auf die
Modernisierung der Gesellschaftsstruktur Serbiens ausübte, waren
begrenzter Natur. Die Industrialisierung blieb merkwürdig lokal
zentriert und wirkte nicht als Impuls einer Verbreiterung moderner
Verhaltensmodi. Die damit einhergehende rapide Verstädterung
führte nicht zur Urbanisierung der Gesellschaft - Stadt und Land
blieben wesentlich voneinander getrennt. Die Zerstörungskraft, die der
Modernisierungsprozeß auf die traditionelle Gesellschaftlichkeit
ausübte, war zwar enorm, die begrenzten und zeitweise bewußt
begrenzt gehaltenen Integrationskapazitäten des modernen Sektors
verhinderten aber die Herausbildung einer modernen produktiven
Gesellschaftlichkeit. Stattdessen entwickelte sich eine Gemengelage von
Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Verhaltensmodi, die eine
Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit beinhalten und einen stetigen,
blockierten Transformationsprozeß zwischen Tradition und Moderne
darstellen. Am Beispiel Belgrads soll dies nun im folgenden exemplarisch
expliziert werden.
Die Bevölkerungszahl von Belgrad hat sich seit dem Ende des 2.
Weltkriegs von 300.000 auf heute ca. 1,6 Mio erhöht. V.a. ist dies
Resultat von Zuwanderungsgewinnen durch den rapiden Ausbau der Industrie und
durch den Reiz, den Belgrad als Hauptstadt ausübt. Das Areal der Stadt
hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt. Seit 1977 übertrifft
die Zahl der industriellen Arbeitsplätze diejenige Zagrebs und ist
damit die höchste in Jugoslawien. Jedoch sind nur etwa 20% der
Beschäftigten Belgrads in der Industrie tätig und weitere 20% in
der Bauwirtschaft, so daß Belgrad nur schlecht als Industriestadt
charakterisiert ist. Daß Belgrad, v.a. im industrialisierten und
urbanen Norden, abwertend als »großes Dorf« oder
»das Dorf« bezeichnet wird, ist aber v.a. der Ausdruck der
soziokulturellen Entwicklungsdifferenz, der Spezifik der Herausbildung von
Gesellschaftlichkeit in Serbien und speziell in Belgrad im Zuge des durch
Industrialisierung und Migration in Gang gesetzten Transformationsprozesses,
im Gegensatz zu der im Norden.
Die Migration nach Belgrad verläuft einerseits in Etappen und
andererseits als direkter Zuzug vom Land. In der Regel sind es
Einzelpersonen, v.a. Männer, die ihre Familien, soweit vorhanden, oft
erst nach Jahren nachkommen lassen. Und doch ist der Migrationsprozeß
keine Individualangelegenheit, sondern vollzieht sich als Kettenmigration,
in deren Verlauf sich regelrechte Communitystrukturen in Belgrad
herausgebildet haben. Meist kommen die neuen Migranten zunächst bei
Verwandten und Nachbarn aus ihrem Herkunftsort unter, die vor ihnen nach
Belgrad migriert sind. Hier erfahren sie sowohl in materieller als auch in
psychosozialer Hinsicht erste Hilfen, um sich in der neuen Umgebung
zurechtzufinden.
Da das Ausmaß der Zuwanderung den Bestand an zur Verfügung
stehenden industriellen Arbeitsplätzen bei weitem übersteigt und
die Zuwanderer zumeist unqualifiziert sind, gestaltet sich die Suche nach
einem Arbeitsplatz als ungemein schwer, und in der Regel müssen sie
sich die erste Zeit, die oftmals Jahre dauern kann, mit Gelegenheitsarbeiten
über Wasser halten.
Noch schwieriger ist allerdings die Suche nach geeignetem Wohnraum.
Sofern sie nicht bei Bekannten oder Verwandten unterkommen, sind sie
gezwungen, in Notunterkünften oder sogenannten Kolonien, d.h.
Barackenlagern, unterzukommen, oder sie müssen auf die umliegenden
Dörfer ausweichen. Da es auf dem privaten Wohnungsmarkt in Belgrad
keine Preisbindungen gibt, sind diese Wohnungen für Zuwanderer
unerschwinglich; eine kommunale Wohnung zugewiesen zu bekommen dauert Jahre
und kommt somit auch nicht in Betracht. Die einzige
»realistische« Möglichkeit, legal an Wohnraum zu kommen,
der nicht in abbruchreifem Zustand ist, ist eine Werkswohnung zu bekommen,
wozu allerdings eine Festanstellung im jeweiligen Betrieb erforderlich ist.
Und auch bei einer Festanstellung ist die Wartezeit auf eine solche Wohnung
immer noch sehr lang, da deren Vergabe nach Maßgabe der
Werkszugehörigkeit und der Qualifikation erfolgt.
Aufgrunddessen sind die ersten Jahre in Belgrad für die Migranten
von Interimslösungen geprägt, und es dauert lange, bis der
gewünschte bzw. benötigte Wohnraum gefunden wird. Der
Migrationsprozeß ist also in der Regel nicht mit der Ankunft in
Belgrad abgeschlossen, sondern verlängert sich hier als
innerstädtische Mobilität, die in Belgrad enorm ausgeprägt
ist.
Die reale materielle Situation vieler Migranten in Belgrad ist also
keineswegs besser als auf dem Land. Die Unsicherheit und Instabilität
des städtischen Lebens führt nun dazu, daß die Verbindungen
zum Land bzw. zum Herkunftsort außerordentlich stark bleiben und sich
diese materielle und soziokulturelle Rückbezüglichkeit auch ins
städtische Leben transformiert. So ist die Verbindung zum angestammten
Dorf und den zurückgebliebenen Familienmitgliedern noch Jahre nach dem
Wegzug geprägt von häufigen Besuchen im Urlaub, zur Ernte, etc.,
verbunden einerseits mit Konsumgeschenken und andererseits mit
Nahrungsmittelzuwendungen. Zurückgelassener Grundbesitz wird im Dorf
verbleibenden Familienmitgliedern zur Nutzung überlassen oder, wo diese
nicht vorhanden sind, für einen bestimmten Anteil an der Ernte
verpachtet, aber selten verkauft.
Die starke Verbindung zum Land und der kontinuierliche Austausch
führen dazu, daß sich trotz fortschreitender Eingliederung ins
städtisch-industrielle Leben der Akkulturationsprozeß vieler
MigrantInnen verzögert und sie sich eher als eine Art urbane
Erweiterung der ländlichen Familie, gewissermaßen als deren
städtischen Außenposten, empfinden. Die Migration erscheint somit
häufig eher als räumliche und berufliche Veränderung mit der
Herausbildung einer im Transformationsprozeß steckengebliebenen
intermediären Stadt-Land-Identität denn als abgeschlossener
soziokultureller Standortwechsel im Sinne der Herausbildung einer urbanen
Identität.
Dieses gebrochene Hereindrängen des »Dorfes«
kennzeichnet nun wesentlich weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in
Belgrad. Zum einen durch die schon eingangs erwähnte Herausbildung von
Migrantencommunities: Für die Aufnahme sozialer Kontakte ist, neben dem
Arbeitsplatz und dem Wohnort, v.a. die Herkunft aus demselben Dorf oder
derselben Region maßgeblich, wobei dem zugute kommt, daß die
Herkunftsgebiete der Neubelgrader fast ausschließlich im
»Engeren Serbien« oder den serbischen Enklaven in anderen
Republiken liegen. Zum anderen ist es das Hereintragen traditioneller
ländlicher Verhaltensmodi, die am offensichtlichsten in den
traditionellen Hochzeitsfesten und der »Slava«, einem Fest zum
Namenstag des »Hausheiligen«, deutlich werden. Eine
Transformation, nicht aber die Aufgabe der ländlichen Traditionen
findet in dem Maße statt, wie diese Traditionen mit den Anforderungen
der Moderne konfrontiert werden, wie das Beispiel des
»Totenkults« zeigt: Während die Beerdigungszeremonie noch
relativ traditionell, mit üppigem Leichenschmaus und bezahlten
»Klageweibern«, abläuft, ist die Erlangung eines
Begräbnisplatzes entsprechend der städtischen Platznot, die eben
auch die Friedhöfe betrifft, äußerst schwierig. Da
Gräber Mangelware sind und in der Regel alle verfügbaren
Plätze vergeben sind, ist ein Begräbnisplatz oftmals nur durch ein
Tauschgeschäft mit Verwandten oder Bekannten zu bekommen. Die
Totenfeiern sind meist ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem nicht nur
die Verwandten, sondern Freunde, Nachbarn bis hin zu Arbeitskollegen und
-kolleginnen teilnehmen. Nach 40 Tagen, 6 Monaten und nach 1 Jahr wird die
Zeremonie nochmals, mit denselben Beteiligten, wiederholt. Entsprechend den
materiellen Möglichkeiten werden die Gräber ausgestaltet, vom
Holzkreuz bis hin zu den »vikendice«, kleinen Bungalows, die auf
die Gräber gebaut werden und mit allerlei Gebrauchs- und
Konsumgegenständen der Toten bestückt sind. Eine besondere Form
der Totenehrung sind auch die »krajputasi«, Steinsäulen,
die an Straßen und Wegen rund um Belgrad aufgestellt werden und mit
gemeißelten Reliefs über Charakter, Beruf und die Todesart des
Verstorbenen Auskunft geben sollen.
Ein weiteres Merkmal ist die relativ starre Trennung der Geschlechter,
die oft selbst dann noch anhält, wenn die Frau einer Lohnarbeit
nachgeht, und die auch weitgehend bei hoher beruflicher Qualifikation der
Beteiligten andauert. So ist das Haus weitgehend der Bereich der Frau, auch
um sich mit anderen Frauen zu treffen und auszutauschen, während die
Männer in der Regel in Kneipen, mit anderen Männern zusammen, den
öffentlichen Raum bestimmen.
Der unstrukturierte Zusammenprall von Tradition und Moderne zeigt sich
nicht zuletzt auch in der städtebaulichen Physiognomie Belgrads und in
dem Ausufern Belgrads in das Umland. Im Schatten moderner Hochhäuser
finden sich nicht selten verslumte Altbauten mit Hinterhöfen und
diversen Anbauten, die auf ihren Abriß warten und bis dahin zumeist
von neuangekommenen Migranten bewohnt werden. Die Ausweitung der
Wohnbebauung geht weit über die ursprünglichen Randbereiche
hinaus, überrollt Dörfer und überformt sie zu semiruralen
Inseln. Die ursprünglichen Bebauungslücken sind mittlerweile durch
ein Netz illegal errichteter Behelfsbauten verschwunden. Die Ausstrahlung
Belgrads geht aber noch weit darüber hinaus, und die tägliche
Pendelreichweite des Zustroms nach Belgrad reicht bis zu 70 km von Belgrad
weg.
Die Durchsetzung des Nationalismus
Die geopolitische Sonderstellung, die es Jugoslawien bis dahin erlaubt
hatte, die Unproduktivität der Gesellschaft durch eine steigende
Außenverschuldung zu kompensieren, ist durch das Ende des
Ost-West-Konflikts quasi »über Nacht« verschwunden. Der
faktische Staatsbankrott Jugoslawiens machte eine Deregulierungspolitik im
Konzert mit den internationalen Finanzinstitutionen zur Überlebensfrage
des Regimes. Für Serbien, die am höchsten verschuldete
Teilrepublik, gilt dies im besonderen Maße. Der Deregulierungsbedarf
beschränkt sich bei weitem nicht nur auf den produktiven Bereich,
sondern dessen Unproduktivität ist, wie wir oben gesehen haben, nur der
ökonomische Ausdruck einer Unproduktivität der gesamten
Gesellschaftsstruktur, die im Prozeß der Modernisierung in allen
Bereichen der Gesellschaft zu einer Blockade der Inwertsetzungsstrategie
geführt hat. Die Besonderheit Serbiens liegt nun aber darin, daß
es das herausragende Machtzentrum des Landes ist und das serbische Regime
aufgrunddessen bemüht ist, einen Weg zu finden, der einerseits dem
Deregulierungsbedarf genügt und andererseits in der Lage ist, den
Erosionsprozeß des politisch-ökonomischen Kommandos
aufzuhalten.
Im Kosovo-Kapitel haben wir gesehen, daß der ökonomische
Zusammenbruch und der Aufstand der Peripherie einen untrennbaren
Zusammenhang bilden, der in den globalen Neuordnungsprozeß eingebettet
ist. Die nationalistische Aufladung des sozioökonomischen
Entwicklungsgefälles zwischen Serbien und dem Kosovo, der Teil der
Republik Serbien ist, durch die medial inszenierte Konstruktion einer
»zivilisatorischen Differenz«, die Revitalisierung des alten
»Genozid-Traumas« der Serben sowie die Polemik einer nationalen
Unterdrückung der Serben durch die Herauslösung der zwei autonomen
Republiken Kosovo und Vojvodina aus dem »urserbischen« Anspruch
sind vorerst nur die Begleitmusik der Umlenkung der Investitionen aus dem
Kosovo zur Minderung des Deregulierungsdrucks in Serbien. Zugute kommt
diesem Prozeß zum einen das historisch entwickelte spannungsgeladene
Verhältnis zwischen Serbien und den AlbanerInnen und zum anderen die
räumliche und soziale Separierung der albanischen
MigrationsarbeiterInnen in Serbien, für die die Bezeichnung
»Siptaren« allgemein ist - als Synonym für Drecks- und
Gelegenheitsarbeit verrichtende Menschen, die in primitivsten
Massenquartieren »hausen«. Deren Situation unterscheidet sich
zwar nicht wesentlich von der vieler serbischer MigrantenInnen die neu in
die Städte kommen, die jedoch ideologisch geschickt durch die
anti-albanische Hetze der Nationalisten ein Gefühl vermittelt bekommen,
tatsächlich zum modernen städtischen Bereich zu gehören und
somit einen berechtigten Anspruch auf dessen erhoffte Vorteile zu haben,
während die »rückständigen« und
»unzivilisierten« »Eindringlinge« aus dem Kosovo als
»Schmarotzer« erscheinen, die sich unberechtigterweise einen
Anteil am serbischen Reichtum erschleichen. Daß diese Meinung sich
umso stärker verallgemeinert je jünger die Menschen sind, stellt
einen entscheidenden Anknüpfungspunkt des serbischen Nationalismus an
die soziale Bewegung der Jugendlichen dar, die in besonderem Maße von
Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot und dem Verlust von Lebensperspektiven im
Krisenprozeß betroffen sind. Die mediale Aufarbeitung des 81er
Aufstandes im Kosovo und die ausschließlich repressive Verarbeitung
der sozialen Spannungen des Kosovo unterstützen diese Kolportage, indem
sie eine »zivilisatorische Differenz« suggerieren und damit eine
sukzessive Faschisierung der serbischen Gesellschaft und besonders der
deklassierten oder von Deklassierung bedrohten Jugendlichen und Neumigranten
befördern.