Die Herausgabe des vorliegenden Materialienbands hat uns
weitaus mehr Schwierigkeiten bereitet, als wir uns zuvor gedacht hatten. Und
nicht nur das verspätete Erscheinen belegt diesen Umstand. Auf
Grundlage eines umfassenden, fast 200 Seiten starken Dossiers zu den
aktuellen Ereignissen in Jugoslawien, das eine chronologische
Zusammenstellung und thematische Auswertung deutschsprachiger Zeitschriften
und Tageszeitungs-artikel enthielt, haben wir in kurzer Zeit die Kernthemen
des Dossiers (Ökonomie des Krieges, Ethnisierung der sozialen Frage
etc.), die letztlich auch die Gliederung des vorliegenden Materialienbandes
mitbestimmt haben, systematisierend bearbeitet. So ist ein vielgliedriges
und vielstimmiges Buch entstanden, das ganz unterschiedliche Artikel
vereint, die spezifische Facetten und Zusammenhänge des jugoslawischen
Kriegs und seiner Entstehungs-geschichte untersucht.
Der vorliegende Band bietet von daher keinen monolithischen
Erklärungsansatz, sondern trägt Arbeiten zusammen, die manchmal
sowohl voneinander abweichende Interpretationen oder Gewichtungen, als auch
Spannungen in den Analysen selbst enthalten. Aber eine weitere Bearbeitung
auf eine kohärente Darstellung hin hätte einen erneuten
Diskussionsprozeß erfordert und die Herausgabe noch weiter
verzögert. Die Reihenfolge der Beiträge entspricht daher auch
weniger einer inhaltlichen Strukturierung als vielmehr einer
chronologischen, und so ist jeder Beitrag zunächst einmal auch für
sich zu lesen. So sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß die
aufgestellten vor-läufigen Thesen und analythischen Zugänge zum
Verstehen des Krieges in Jugoslawien beitragen können und haben uns zur
Veröffentlichung des Materials entschlossen.
Angesichts der Tatsache, daß aus der linksradikalen Bewegung - von
ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - der jugoslawische Krieg als Medium der
Neuordnung Südosteuropas hartnäckig ignoriert und die Bedeutung
für den metropolitanen Sozialprozeß kaum diskutiert wird, hoffen
wir, einen Anstoß dazu zu geben.
Zum Inhalt:
Die ersichtliche Systematik der kriegerischen Zerstörungen, der
Vertreibungen und Vernichtung der Zivilbevölkerung im jugoslawischen
Krieg versperrt, ja verbietet jeglichen Zugang zu der vielschichtigen
Konfliktualität, der die Deutungen und Annahmen eines
»irrationalen Nationalitätenkonflikts«, eines
»Rückfalls in die Barbarei« leichtfertig übernimmt und
gedankenlos wiederholt.
Vielmehr wäre die scheinbare Irrationalität und Unlogik des
Krieges in Jugoslawien, wie sie von den Medien transportiert werden, zu
durchdringen und der materielle und soziale Gehalt des Konflikts freizulegen
und darzustellen.
Sicherlich, die erschreckende und abstoßende Brutalität, mit der
dieser Krieg geführt wird, und die subjektiven Motivationen, der Logik
des Vernichtungs-kriegs und des Pogroms zu folgen und ehemalige
Nachbarschaften auszuloschen, gehen nicht in den sozial- und
bevölkerungspolitischen, den wirtschaftlichen und territorialexpansiven
Strategien und Projekten der den Krieg antreibenden nationalen Eliten aller
jugoslawischer Teilrepubliken auf. Aber nur sie können wir rational zu
begreifen versuchen; ebenso wie die historischen Bedingungen, aus denen
heraus sie entworfen werden. Nachgegangen wird daher der Frage, wie im
jugoslawischen Entwicklungsmodell die in Protesten, Streiks und Unruhen
aufbrechenden sozialen Ansprüche und Forderungen Ende der 80er Jahre in
ethnische und nationale Fragen und Deutungen eingefangen werden konnten. Wie
werden in der Krise ethnische Identitäten produziert? Wie
vielschichtige soziale Konfliktualitäten in nationalistische Prozesse
transformiert? Und weiter, wie wird die soziale Blockade der jugoslawischen
Industrieentwick-lung in einem noch subsistenzwirtschaftlichen Umfeld nach
dem Ende der Kalten-Kriegs-Ordnung aufgebrochen? Denn darin bestand zwischen
den kommunistischen jugoslawischen Eliten und dem internationalen
Finanzkapital Übereinstimmung, daß die blockierte Akkumulation
der jugoslawischen Ökonomie in einer gewaltsamen Unterwerfung des
Sozialprozesses reorganisiert und strukturiert werden mußte. Der
innerjugoslawische Krieg wird zum Medium, in dem die politischen und
sozialen Transformationen ablaufen und die sozialen und strukturellen
Blockierungen der Akkumulation zertrümmert werden; er ist
Durchsetzungsform für den Anpassungsprozeß an die transnationale
Akkumulation.
Die »Ökonomie des Krieges«: verstanden als die gewaltsame
Reorganisation und Modernisierung der Ausbeutungs- und
Verwertungs-bedingungen im jugoslawischen Raum, unter der
Repatriarchalisierung des sozialen Kommandos. Daß soziale
Radikalisierungen im Umbruchsprozeß in ethnisch-nationale Bewegungen
überführt, populäre Deutungen und soziale Praxen von unten
mit nationalistischen Inszenierungen von oben verknüpft werden, ist
kein spezifisch jugoslawisches Phänomen, es ist transnational, wie ein
Blick auf die sozialen Bewegungen und Krisenakteure weltweit im Umbruch der
Weltwirtschaft beweißt. Der Jugoslawienkonflikt stellt insofern nur
ein Paradigma der Sozialtechnik der Ethnisierung und der Transformation im
Krieg dar.
Wir mußten viele Fragen offen halten aus Unkenntnis der Fakten, auf
bestimmte Fragen sind wir bewußt nicht eingegangen. So wird aus den
Beiträgen ersichtlich, daß der medial inszenierte
Betroffenheitsdiskurs um das »Für und Wider« einer
militärischen Intervention, die dem Vernichtungskrieg in Bosnien
beendet, nicht nur das erklärte Ziel verfehlen müßte,
sondern ganz offensichtlich einer militärischen Neuordnung Ost- und
Südosteuropas im humanitären Gewand einer Weltinnenpolitik den Weg
bereitet, wie sie in den »Verteidigungs-politischen Richtlinien«
der Bundeswehr vom November 1992 ihren Ausdruck gefunden haben.
Ansatzpunkt für die metropolitane Linke müßte neben der
Entwicklung einer antikapitalistischen Handlungsperspektive gegen die
Neustrukturierung des europäischen Großraums die Bezugnahme auf
die sozialen Subjekte sein, die in diesem Konfrontationsprozeß um ihr
physisches und soziales Lebensrecht kämpfen - und das sind hier, in der
Metropole, vor allen die Flüchtlinge.