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Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 6

Die Ethnisierung des Sozialen

Die Transformation der jugoslawischen Gesellschaft im Medium des Krieges

Vorwort


Verlag der Buchläden Schwarze Risse - Rote Strasse
Berlin Göttingen 1993
Kontakt zur Redaktion: Buchladen Schwarze Risse,
Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
Tel. 040-692 87 79 Fax 691 94 63
e-mail: schwarze_risse@t-online.de

Vorwort
Jugoslawien im Kontext des ost- und südosteuropäischen Umbruchs
Bemerkungen zur Kampfgeschichte der moralischen Ökonomie
Zur Kampfsituation 1987
Nationalismus und Ethnisierung
Krieg als Transformationsmechanismus
Die EG-Migrationspolitik und die Flüchtlinge aus Südosteuropa
Zur Rolle des Imperialismus in der jugoslawischen Krisen- und Kriegsdynamik
Anhang

Vorwort

Die Herausgabe des vorliegenden Materialienbands hat uns weitaus mehr Schwierigkeiten bereitet, als wir uns zuvor gedacht hatten. Und nicht nur das verspätete Erscheinen belegt diesen Umstand. Auf Grundlage eines umfassenden, fast 200 Seiten starken Dossiers zu den aktuellen Ereignissen in Jugoslawien, das eine chronologische Zusammenstellung und thematische Auswertung deutschsprachiger Zeitschriften und Tageszeitungs-artikel enthielt, haben wir in kurzer Zeit die Kernthemen des Dossiers (Ökonomie des Krieges, Ethnisierung der sozialen Frage etc.), die letztlich auch die Gliederung des vorliegenden Materialienbandes mitbestimmt haben, systematisierend bearbeitet. So ist ein vielgliedriges und vielstimmiges Buch entstanden, das ganz unterschiedliche Artikel vereint, die spezifische Facetten und Zusammenhänge des jugoslawischen Kriegs und seiner Entstehungs-geschichte untersucht.
Der vorliegende Band bietet von daher keinen monolithischen Erklärungsansatz, sondern trägt Arbeiten zusammen, die manchmal sowohl voneinander abweichende Interpretationen oder Gewichtungen, als auch Spannungen in den Analysen selbst enthalten. Aber eine weitere Bearbeitung auf eine kohärente Darstellung hin hätte einen erneuten Diskussionsprozeß erfordert und die Herausgabe noch weiter verzögert. Die Reihenfolge der Beiträge entspricht daher auch weniger einer inhaltlichen Strukturierung als vielmehr einer chronologischen, und so ist jeder Beitrag zunächst einmal auch für sich zu lesen. So sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß die aufgestellten vor-läufigen Thesen und analythischen Zugänge zum Verstehen des Krieges in Jugoslawien beitragen können und haben uns zur Veröffentlichung des Materials entschlossen.
Angesichts der Tatsache, daß aus der linksradikalen Bewegung - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - der jugoslawische Krieg als Medium der Neuordnung Südosteuropas hartnäckig ignoriert und die Bedeutung für den metropolitanen Sozialprozeß kaum diskutiert wird, hoffen wir, einen Anstoß dazu zu geben.


Zum Inhalt:
Die ersichtliche Systematik der kriegerischen Zerstörungen, der Vertreibungen und Vernichtung der Zivilbevölkerung im jugoslawischen Krieg versperrt, ja verbietet jeglichen Zugang zu der vielschichtigen Konfliktualität, der die Deutungen und Annahmen eines »irrationalen Nationalitätenkonflikts«, eines »Rückfalls in die Barbarei« leichtfertig übernimmt und gedankenlos wiederholt.
Vielmehr wäre die scheinbare Irrationalität und Unlogik des Krieges in Jugoslawien, wie sie von den Medien transportiert werden, zu durchdringen und der materielle und soziale Gehalt des Konflikts freizulegen und darzustellen.
Sicherlich, die erschreckende und abstoßende Brutalität, mit der dieser Krieg geführt wird, und die subjektiven Motivationen, der Logik des Vernichtungs-kriegs und des Pogroms zu folgen und ehemalige Nachbarschaften auszuloschen, gehen nicht in den sozial- und bevölkerungspolitischen, den wirtschaftlichen und territorialexpansiven Strategien und Projekten der den Krieg antreibenden nationalen Eliten aller jugoslawischer Teilrepubliken auf. Aber nur sie können wir rational zu begreifen versuchen; ebenso wie die historischen Bedingungen, aus denen heraus sie entworfen werden. Nachgegangen wird daher der Frage, wie im jugoslawischen Entwicklungsmodell die in Protesten, Streiks und Unruhen aufbrechenden sozialen Ansprüche und Forderungen Ende der 80er Jahre in ethnische und nationale Fragen und Deutungen eingefangen werden konnten. Wie werden in der Krise ethnische Identitäten produziert? Wie vielschichtige soziale Konfliktualitäten in nationalistische Prozesse transformiert? Und weiter, wie wird die soziale Blockade der jugoslawischen Industrieentwick-lung in einem noch subsistenzwirtschaftlichen Umfeld nach dem Ende der Kalten-Kriegs-Ordnung aufgebrochen? Denn darin bestand zwischen den kommunistischen jugoslawischen Eliten und dem internationalen Finanzkapital Übereinstimmung, daß die blockierte Akkumulation der jugoslawischen Ökonomie in einer gewaltsamen Unterwerfung des Sozialprozesses reorganisiert und strukturiert werden mußte. Der innerjugoslawische Krieg wird zum Medium, in dem die politischen und sozialen Transformationen ablaufen und die sozialen und strukturellen Blockierungen der Akkumulation zertrümmert werden; er ist Durchsetzungsform für den Anpassungsprozeß an die transnationale Akkumulation.
Die »Ökonomie des Krieges«: verstanden als die gewaltsame Reorganisation und Modernisierung der Ausbeutungs- und Verwertungs-bedingungen im jugoslawischen Raum, unter der Repatriarchalisierung des sozialen Kommandos. Daß soziale Radikalisierungen im Umbruchsprozeß in ethnisch-nationale Bewegungen überführt, populäre Deutungen und soziale Praxen von unten mit nationalistischen Inszenierungen von oben verknüpft werden, ist kein spezifisch jugoslawisches Phänomen, es ist transnational, wie ein Blick auf die sozialen Bewegungen und Krisenakteure weltweit im Umbruch der Weltwirtschaft beweißt. Der Jugoslawienkonflikt stellt insofern nur ein Paradigma der Sozialtechnik der Ethnisierung und der Transformation im Krieg dar.
Wir mußten viele Fragen offen halten aus Unkenntnis der Fakten, auf bestimmte Fragen sind wir bewußt nicht eingegangen. So wird aus den Beiträgen ersichtlich, daß der medial inszenierte Betroffenheitsdiskurs um das »Für und Wider« einer militärischen Intervention, die dem Vernichtungskrieg in Bosnien beendet, nicht nur das erklärte Ziel verfehlen müßte, sondern ganz offensichtlich einer militärischen Neuordnung Ost- und Südosteuropas im humanitären Gewand einer Weltinnenpolitik den Weg bereitet, wie sie in den »Verteidigungs-politischen Richtlinien« der Bundeswehr vom November 1992 ihren Ausdruck gefunden haben.
Ansatzpunkt für die metropolitane Linke müßte neben der Entwicklung einer antikapitalistischen Handlungsperspektive gegen die Neustrukturierung des europäischen Großraums die Bezugnahme auf die sozialen Subjekte sein, die in diesem Konfrontationsprozeß um ihr physisches und soziales Lebensrecht kämpfen - und das sind hier, in der Metropole, vor allen die Flüchtlinge.


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