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Unterabschnitte

Kommuniqué #11

Ferienzeit-Extra-Essens-Schwulst: Schluß mit Lite!

Die Association for Ontological Anarchy ruft zum Boykott aller Produkte auf, die unter dem Schibboleth von LITE vermarktet werden - Bier, Fleisch, Süßigkeiten, Kosmetika, Musik, abgepackte »Lifestyles«, was auch immer.¶

Das Konzept von LITE (im Jargon der Situationisten) verweist auf eine Symbolik, mit der das Spektakel hofft, der Abscheu gegen die Warenförmigkeit, die es der Begierde aufzwingt, begegnen zu können. »Natürliche«, »organische«, »gesunde« Produkte sind für einen Marktsektor von leicht unzufriedenen Konsumenten bestimmt, die unter einem gelinden Zukunftsschock & einem zarten Verlangen nach lauer Authentizität leiden. Eine Nische wurde dir geschaffen, sanft erleuchtet durch die Illusion von Einfachheit, Sauberkeit, Schlankheit, und einen Schuß Askese & Selbstverleugnung. Natürlich kostet dies ein bißchen mehr ... aber ''LITEness'' wurde nicht für arme hungrige Primitivos erfunden, die immmer noch der Ansicht sind, Speise diene der Ernährung statt des Dekors. Sie muß mehr kosten - sonst würdest du sie nicht kaufen.¶

Die amerikanische Mittelklasse (keine Ausflüchte, du weißt, was ich meine) gliedert sich natürlicherweise in verschiedene aber komplementäre Fraktionen: Die Armeen der Anorexie & Bulimie. Die klinischen Fälle dieser Erkrankungen sind lediglich die psychosomatische Spitze des Eisberges kultureller Krankheit, schwer, weitverbreitet & weitgehend unbewußt. Die Freßsüchtigen gehören zu jener Yuppie-Sippschaft, die sich mit Margaritas & VCRs vollstopft, dann auf LITE-Food, Jogging oder (an)aerobisches Gehüpfe schwört. Die Anorexiker sind die »Lifestyle«-Rebellen, Ultra-Food-Liebhaber, Algenesser, traurig, mutlos & blaß - aber blasiert in ihrem puritanischen Eifer & in ihren härenen Designer-Hemden. Billiges Junk-Food ist lediglich die Kehrseite des greulichen »Health Food«: nichts schmeckt nach irgend etwas, bloß nach Holzspäne oder Zusatzstoffen - es ist entweder langweilig oder krebserregend - oder beides, - & es ist alles unglaublich dumm

Nahrung, gekocht oder roh, kann dem Symbolismus nicht entkommen. Sie ist & repräsentiert zugleich das, was sie ist. Jegliche Nahrung ist Soul Food, ein anderer Umgang damit führt zu chronischer & metaphysischer Verstopfung.¶

Aber in der luftlosen Gruft unserer Zivilisation, wo nahezu jede Erfahrung vermittelt ist, Realität durch das tödliche Netz der Konsensfindung gezwängt wird, verlieren wir das Gefühl für Nahrung als Nahrungsmittel; wir fangen an, uns aufgrund dessen, was wir konsumieren, Persönlichkeiten zu konstruieren, Produkte werden zu Projektionen unseres Wunsches nach dem Authentischen.¶

Die A.O.A. malt sich manchmal CHAOS als ein Füllhorn kontinuierlicher Schöpfung aus, als eine Art von Geysir kosmischer Generosität; deshalb enthalten wir uns jeglicher Verfechtung irgendeiner spezifischen Ernährungsweise, um nicht die Heilige Vielfältigkeit & Göttliche Subjektivität zu verletzen. Es ist uns nicht daran gelegen, dir ein weiteres New Age-Rezept für die vollkommene Gesundheit anzudrehen (nur die Toten sind absolut gesund), wir interessieren uns für das Leben, nicht für »Lifestyles«.¶

Wirkliche Leichtigkeit bewundern wir & reiche Schwere erfreut uns zur rechten Zeit. Der Exzess ist uns hochgradig angenehm, Mäßigung gefällt uns, & wir haben gelernt, daß Hunger das beste aller Gewürze sein kann. Alles ist leicht, & die üppigsten Blumen wachsen rund um den Abtritt. Wir träumen von Phalanstère-Tischen & Bolo'Bolo-Cafés, wo jedes fröhliche Kollektiv von Speisenden am individuellen Genius eines Brillat-Savarin (diesem Heiligen des Geschmacks) teilhaben wird.¶

Scheich Abu Sa'id hat nie Geld gespart oder gar über Nacht behalten - daher zelebrierten die Derwische stets ein Feinschmeckerfest, wenn ein Gönner seiner Herberge eine große Geldspende zukommen ließ, & an anderen Tagen litten alle Hunger. Es ging darum, beide Zustände zu genießen, voll & leer ... ¶

LITE parodiert spirituelle Leere & Erleuchtung, wie auch McDonald's die Vorstellung von Sattheit & Feier verzerrt. Der menschliche Geist (ganz zu schweigen vom Hunger) kann all diese Fetischismen überwinden & transzendieren - Freude kann auch bei Burger King ausbrechen, & selbst in LITE-Bier kann eine Dosis Dionysos verborgen sein. Aber warum sollten wir gegen diese Müllwelle von billigem Schnickschnack ankämpfen, wenn wir den Wein des Paradieses hier und jetzt unter unserem eigenen Weinstock & Feigenbaum trinken können?¶

Nahrung ist Teil des Alltags, der primären Arena für jegliche aufständische Selbstermächtigung, jegliche spirituelle Selbsterhöhung, jegliche Rückeroberung des Spaßes, jegliche Revolte gegen die universelle Arbeitsmaschinerie & ihre künstlichen Begierden. Das Dogmatisieren sei uns fern; der indianische Jäger kann sein Glück mit einem gegrillten Eichhörnchen steigern, der Anarcho-Taoist mit einer Handvoll Aprikosen. Milarepa, der Tibetaner, aß nach zehn Jahren Brennesselsuppe einen Butterkuchen & erlangte Erleuchtung. Der Einfaltspinsel sieht in feinem Champagner keinen eros; der Magier kann sich an einem Glas Wasser berauschen.¶

Unsere Kultur, auf ihren eigenen Verschmutzern kauend, ruft wie Goethe nach »More LITE!« - als könnten diese vielfach ungesättigten Ausflüsse unsere Misere irgendwie lindern, als könnte ihre milde, gewichtslose, geschmacklose Charakterlosigkeit uns vor der hereinbrechenden Dunkelheit schützen.¶

Nein! Diese letzte Illusion ist uns denn doch zu grausam. Wir sehen uns gezwungen, uns - entgegen unserer eigenen Neigung zur Trägheit - zu erheben & zu protestieren. Boykott! Boykott! SCHLUSS MIT LITE!¶

Anhang: Speisekarte für ein anarchistisches schwarzes Bankett
(vegatarisch & nicht-vegetarisch)

Kaviar & Blinis; hundert Jahre alte Eier; in Tinte gekochter Tintenfisch & Reis; in ihrer Schale und mit schwarz eingelegtem Knoblauch gekochte Auberginen; Wildreis mit schwarzen Walnüssen & schwarzen Pilzen; Trüffel in schwarzer Butter; Wild, mariniert in Portwein, auf Holzkohle gegrillt und serviert auf Pumpernickelscheiben & garniert mit gerösteten Kastanien. Black Russians; Guinness-&-Champagner, chinesischer schwarzer Tee; dunkle Mousse au Chocolat, türkischer Kaffee, schwarze Trauben, Pflaumen, Kirschen etc.¶

Saurier, 0.28k



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