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Tue Oct  7 23:10:44 1997
 

Erklärung der Bundesregierung betr. Fragen der inneren Sicherheit

Genscher (FDP), Bundesminister des Innern:
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bombenanschläge in sechs deutschen Städten haben das Augenmerk der Öffentlichkeit verstärkt auf die Probleme der inneren Sicherheit in unserem Lande gelenkt ...
Die Konzeption der Bundesregierung für innere Sicherheit umfaßt vier Bereiche:
erstens die Verbesserung der Sicherheitseinrichtungen des Bundes durch personelle, finanzielle, technische und organisatorische Maßnahmen,
zweitens die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf allen Gebieten der inneren Sicherheit nach den Grundsätzen eines kooperativen Föderalismus, um angesichts der notwendigerweise föderalistischen Struktur des Aufbaus unserer Sicherheitsorgane Reibungsverluste zu vermeiden,
drittens die schnelle Verabschiedung schon im Parlament liegender Gesetzentwürfe, die uns in die Lage versetzen sollen, die erreichten personellen und technischen Kapazitäten voll einzusetzen, und die andererseits erkannte Lücken in einigen für die innere Sicherheit wichtigen Rechtsgebieten schließen sollen.
Viertens sind diese Maßnahmen eingebettet in eine umfassende gesellschaftspolitische Zielprojektion, die darauf abgestellt ist, das demokratische Engagement des einzelnen Bürgers zu fördern und die gesellschaftlichen Bedingungen zu erkennen und zu verändern, unter denen Kriminalität und politischer Radikalismus entstehen oder sich ausbreiten.
Dem ersten Ziel, Ausbau der Sicherheitsbehörden, dienten die im Sofortprogramm zur Modernisierung und Intensivierung der Verbrechensbekämpfung vom 29. Oktober 1970 dargestellten Maßnahmen und schließlich das am 22. März dieses Jahres vorgelegte, daran anknüpfende Schwerpunktprogramm Innere Sicherheit.
Ein Schwerpunkt der Maßnahmen liegt, der Rechtslage und der Verantwortung des Bundes im Bereich der Verbrechensbekämpfung entsprechend, beim personellen und technischen Ausbau des Bundeskriminalamts zu einer modernen Behörde wirksamer Verbrechensbekämpfung ...
Entsprechend ist der Ausbau des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
Ebenfalls ist der Bundesgrenzschutz im Rahmen unserer Bemühungen um eine Verbesserung der inneren Sicherheit wesentlich verstärkt worden ...
Von erheblichem Gewicht für die innere Sicherheit sind die Gesetzesvorlagen, die gegenwärtig dem Hohen Haus vorliegen. Es sind dies das von der Bundesregierung am 25. August 1971 beschlossene Gesetz für den Bundesgrenzschutz, der am 6. Mai 1970 von der Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes und die dazugehörigen Grundgesetzänderungen ... Das sind ferner der Entwurf eines Waffengesetzes und die Haftrechtsnovelle. Die Bundesregierung hat die dringende Bitte an das Hohe Haus, über diese Gesetze noch in diesem Monat in zweiter und dritter Lesung zu entscheiden.
Von Bedeutung für die innere Sicherheit sind noch die Novelle zur Reform des Strafverfahrensrechts, die sogenannte Beschleunigungsnovelle, sowie die beabsichtigte Pönalisierung der Verherrlichung oder Verharmlosung brutaler Gewalt in den Massenmedien und der von der Bundesregierung am 28. Mai 1971 beschlossene Entwurf eines Bundesmeldegesetzes.
Dem Bundesgrenzschutz sind neben seiner Hauptaufgabe, der polizeilichen Sicherung unserer Grenzen, in den vergangenen Jahren weitere Aufgaben zugewachsen. Die Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland und die zu erwartende Entwicklung erfordern die Bereithaltung eines zusätzlichen, jederzeit abrufbereiten Sicherheitspotentials beim Bund zur Unterstützung der Länder auf deren Anforderung. Der Bundesgrenzschutz als Polizei des Bundes, dem schon mit der Grundgesetzänderung des Jahres 1968 Aufgaben der inneren Sicherheit zugewiesen wurden, ist dieses zusätzliche Sicherheitspotential. Das Konzept des Reservepotentials Bundesgrenzschutz hat sich schon jetzt bewährt ...
Es gibt, meine Damen und Herren, in unserer Gesellschaft keinen kritikfreien Raum, auch nicht für die Organe der inneren und äußeren Sicherheit. Aber es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Kritik aus demokratischer Verantwortung und Herabsetzung und Zersetzung mit dem Ziel, die Funktionsunfähigkeit des Staates herbeizuführen ...
Das Verhalten der Gesellschaft wird besonders deutlich im Bereich des politischen Radikalismus. Kann es denn nicht sein, daß radikale Agitatoren unter anderem deshalb Wirkung erzielen, weil sie auf zu wenig Widerstand stoßen, und daß der Grund dafür nicht etwa darin liegt, daß ihnen viele zustimmen, sondern darin, daß viele die politische Auseinandersetzung mit diesen radikalen Kräften scheuen?! Deshalb ist die Stärkung des demokratischen Bewußtseins in unserem Lande und die Ermutigung für den einzelnen, sich auch im Alltag demokratisch verantwortlich zu verhalten, ein wichtiger Beitrag zur Eindämmung des Radikalismus.
Zu der notwendigen Wachsamkeit gegenüber jeder Form von Radikalismus gehört, daß Feinde unserer Verfassungsordnung vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden. Unser demokratischer Staat kann seine freiheitssichernde und freiheitsfördernde Funktion nur erfüllen, wenn er selbst freibleibt von den Gegnern der Freiheit. (Beifall) ...
Das zentrale Problem, mit dem wir uns auseinanderzusetzen haben, ist die vorbehaltlose und uneingeschränkte Ablehnung der Anwendung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. In dem aktuellen Fall der Baader-Meinhof-Bande haben wir es mit dem Ergebnis eines Prozesses zunehmender Enttabuisierung der Gewaltanwendung zu tun, mit einem Prozeß, der nicht nur die Täter selbst erfaßt, sondern vor allem auch jene Umgebung, in der sie sich bewegen, die ihnen hilft und die ihr Verhalten zu rechtfertigen, zumindest aber zu bagatellisieren versucht.
Die Bemühungen, der Anwendung von Gewalt unter bestimmten Voraussetzungen oder von bestimmter Seite den Schein der Rechtfertigung zu geben, haben jenes breite Sympathisantenfeld geschaffen, das die Arbeit der Polizei so sehr erschwert.
Deshalb geben die Namen der Bandenmitglieder allein nicht die ganze Breite und Schwere des Problems wieder. Die Terroristen legen es nicht zuletzt darauf an, unseren Staat und unsere Demokratie als "Papiertiger" bloßzustellen. Sie wollen beweisen, daß ein demokratischer Rechtsstaat nicht in der Lage ist, mit den Mitteln des Rechtsstaates den Terror einer kleinen Gruppe von Fanatikern zu brechen, ja, sie sähen es am liebsten, wir verließen bei ihrer Bekämpfung den Boden des Rechts, damit sie unter Hinweis darauf ihre Verbrechen noch im nachhinein mit dem Schein der Rechtfertigung versehen könnten.
Es wird ihnen weder das eine noch das andere gelingen ...
Meine Damen und Herren, der mutmaßliche Täterkreis der Bombenattentäter und auch die Absichten dieser Täter sind uns bekannt. Es handelt sich um eine, vielleicht auch mehrere untereinander lose verbundene Gruppen von Terroristen, die den "bewaffneten Kampf" gegen einen - wie sie sagen - "aggressiven Staat" aufgenommen haben. Kern dieses Täterkreises ist die Baader-Meinhof-Bande oder die Rote-Armee-Fraktion.
Ich habe am 28. Januar 1971 das Bundeskriminalamt mit der zentralen Fahndung beauftragt und diesen Fahndungsauftrag am 15. und 19. Mai dieses Jahres auf die Täter der Bombenanschläge erweitert. Mir scheint dieser Hinweis wichtig, daß die bundesweite Vorrangfahndung der Polizeien der Länder und des Bundeskriminalamtes nach den Terroristen nicht erst seit den Ereignissen von Frankfurt, Augsburg, München, Karlsruhe, Heidelberg oder Hamburg läuft.
Auch der Erfolg der Festnahme von Baader, Meins und Raspe war kein Zufallstreffer, sondern das Ergebnis polizeilicher Präzisionsarbeit. Die Fahndung der Länder und des Bundes war vor dieser Festnahme am letzten Donnerstag nicht ohne Erfolg, aber auch - wie Sie wissen - nicht ohne Opfer an Menschenleben verlaufen.
Nach unseren Ermittlungen bestand der harte Kern der Bande aus 23 Personen; davon befinden sich 15 in Haft. In vier Fällen haben die Gerichte Haftverschonung ausgesprochen. Vom ursprünglichen Kern der Bande werden noch drei Personen mit Haftbefehl gesucht. Aus der Umgebung der Baader-Meinhof-Bande befinden sich 13 Personen in Haft. In elf Fällen ist Haftverschonung ausgesprochen worden, und elf weitere Personen werden mit Haftbefehl gesucht. Außerdem sind 24 Strafverfahren wegen Begünstigung eingeleitet worden. Gegen die davon Betroffenen liegen keine Haftbefehle vor.
Das ist die Bilanz der bisherigen Fahndung, die mit unveränderter Intensität fortgesetzt wird. Ihr gegenüber steht die Bilanz der bisherigen Taten der Bande. Diese sind nicht - wie vor allem vor den Bombenanschlägen nicht selten zu hören war - Ausdruck der Verzweiflung einer Gruppe von Idealisten, die durch hysterische Reaktionen eines Teils der Öffentlichkeit und unangemessenen Einsatz polizeilicher Mittel in eine Notwehrsituation getrieben worden seien; nein, meine Damen und Herren, sie sind die Konsequenz eines planvollen Handelns, eines eiskalten revolutionären Kalküls, das auf die gewaltsame Beseitigung unserer Verfassungsordnung zielt.
Diese Bande hat sehr wohl erkannt, daß unsere Ordnung mit politischen Mitteln nicht beseitigt werden kann, weil - wie sie es nennt - eine revolutionäre Situation in der Bundesrepublik nicht gegeben ist. Sie handelt nach einer Strategie, die sie mit einem eigentümlichen Rechtfertigungsdrang, vor allem wohl gegenüber gesellschaftlichen oder politischen Gruppen, denen sie sich einmal verbunden gefühlt hat, immer wieder öffentlich bekanntgibt ...
Die Bande kann ohne Sympathisanten nicht existieren, was sie auch selber sagt: die Sympathisanten sind das Wasser, in dem diese Guerilla schwimmt. Sie darf kein solches Wasser mehr finden. Die Anarchisten haben sich mit ihren Aktionen außerhalb jeder denkbaren Form von Gesellschaft gestellt. Letztlich ist das der Ausdruck ihres Scheiterns. Sie sind auch in dem Lager, dem sie sich einmal verbunden gefühlt haben, politisch zunehmend isoliert. Der Griff zur Gewalt war zugleich das Eingeständnis jener Isolierung. Weder die Täter noch ihre Helfer und Sympathisanten stehen für irgendwen in unserem Land, außer für sich selbst.

(Quelle: Nr. 4, S. 10975ff)


aus: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF), GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte, 1. Auflage Köln Oktober 1987

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