Sjef Teuns
Isolation wird in der Allgemeinmedizin angewandt sowohl in der Prävention, z.B. bei Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Pocken, als auch zur Unterstützung von Genesungsprozessen, z.B. bei der kurzfristigen Isolation nach einem schweren Unfall oder bei einer komplizierten Operation. Sie wird in diesen Fällen stets als notwendiges Übel von möglichst kurzer Dauer betrachtet, und moderne Techniken werden in zunehmendem Maße eingesetzt, um den Patienten zu helfen, Krankenhaus oder Quarantänestation auf schnellstem Wege zu verlassen.
Nicht so in der Psychiatrie und bei der Justiz. Es fällt auf, welche Vielzahl von Methoden die Wissenschaft, die man Psychiatrie nennt, entwickelt hat, um Menschen in verschiedenen Bereichen ihrer Existenz zu isolieren. So ist in psychiatrischen Krankenhäusern das Verbot oder die Zensur des brieflichen Verkehrs und des Lesestoffs eine normale Erscheinung, die Beschränkung oder das Verbot von Besuchen allgemein üblich. Schlaf- und Insulin-Kuren sind künstliche Methoden, um Menschen längerfristig zu isolieren, unter dem Vorwand, sie zu "beruhigen"; aber häufig werden die Patienten damit so konditioniert, daß sie ihre Isolierung nicht mehr verlassen wollen, weil das Vakuum, in das sie zurückkehren sollen, ihnen nun bewußt unerträglich erscheint. Und jede psychiatrische Abteilung hat ihre Isolierzellen. Der Elektroschock ist eine kurze, aber sehr intensive Form von Isolation, ähnlich der des epileptischen Anfalls. Die Branche der Psychiatrie, die sich mit der körperlichen Behandlung von Patienten beschäftigt, beschäftigt sich hauptsächlich mit der wissenschaftlichen Erforschung immer perfekterer Isolationsmethoden. In der Psychiatrie wird denn auch Heilung stets identischer mit der Unterdrückung menschlichen Handelns.
In der Justiz werden - in dem Maße, wie die Todesstrafe und körperliche Züchtigung in den Hintergrund treten - alle Formen von Isolation gebraucht als Prävention, als Untersuchungsmethoden und als Strafe. Diese Zwecke überschneiden einander. Strafe dient der speziellen und generellen Prävention, soll einschüchtern, Angst und Schrecken einjagen und verbreiten; Angst und Schrecken wiederum dienen der Erzwingung von Geständnissen oder auch nur der Erzwingung eines konventionellen Rollenverhaltens in der Gerichtsverhandlung. Unter dem Vorwand von Untersuchung und Verhör werden in zunehmendem Maße Menschen in die Isolation gebracht, die dazu führen kann, daß sie aufgrund einer drastischen Einschränkung ihrer sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten ihre selbständige Denkfähigkeit einbüßen. Die Vergewaltigung der unmittelbaren Umgebung des Gefangenen erfolgt auf eine äußerst subtile und perfektionierte Weise, die wissenschaftlich gründlich untersucht worden ist.
Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen steht der Begriff der sensorischen Deprivation, den ich mit einigen allgemeinen Bemerkungen erläutern möchte.
Unter sensorischer Deprivation verstehen wir eine drastische Einschränkung - Deprivation - der sinnlichen Wahrnehmung - des Sensoriums -, durch die der Mensch sich in seiner Umgebung orientiert, also Isolation von der Umwelt durch Aushungerung der Seh-, Hör-, Riech-, Geschmacks- und Tast-Organe.
Die menschlichen Sinnesorgane nehmen in erster Linie Veränderungen in der Umwelt wahr. Ihre Nahrung besteht aus einer ständigen Aufeinanderfolge von Veränderungen. Die Wahrnehmung, Registrierung und Weitergabe von Umweltveränderungen an das Gehirn ist die physiologische Funktion unserer Sinnesorgane im Wachzustand. Im Schlaf hingegen müssen die Sinneseindrücke viel intensiver sein, um von den ruhenden Wahrnehmungsorganen registriert und verarbeitet werden zu können, womit aber stets auch eine Überstrapazierung des Sensoriums verbunden ist.
Menschliche Lebensfunktionen im Sinne der Selbststeuerung und Entwicklung des menschlichen Organismus in seiner jeweiligen Umgebung werden in erster Instanz von der sinnlichen Wahrnehmung dieser veränderlichen Umgebung gespeist.
Die Herstellung und Aufrechterhaltung einer künstlichen Umgebung, die sich einerseits durch ihre Konstanz und Unveränderlichkeit und andererseits durch willkürlich dosierte Reize - auch im Schlaf - auszeichnet, legt im Laufe der Zeit die Sinnesorgane lahm und führt zu einer Desintegration und extremen Desorientierung des so isolierten Individuums, so wie etwa lang andauernde, erzwungene Bewegungslosigkeit zu einer Erschlaffung der Muskulatur, zu Gelenkversteifungen und Knochenverformungen führen kann. Wir haben das in jüngster Zeit in Bildern und Berichten von Gefangenen aus den südvietnamesischen Tigerkäfigen gesehen. Durch die Lahmlegung der motorischen Funktionen wurde hier - nach klassischen Vorbildern - erreicht, was durch die Ausschaltung sensorischer Funktionen, die ja stets Quelle und Grundlage aktiver (motorischer) Umweltveränderungen sind, gründlicher und subtiler zuwege gebracht werden kann.
Andererseits werden die ihrer Nahrung beraubten - deprivierten - Sinnesorgane besonders empfindlich gegenüber auch geringfügigen Veränderungen in der Umwelt und geben diese als überproportionale Signale an das Gehirn weiter. Das kann sich äußern in unverhältnismäßigen Reaktionen der Angst oder der Freude oder der Wut. Jedenfalls führt die künstlich herbeigeführte Desorientierung des Individuums durch sensorische Deprivation nach kürzerer oder längerer Zeit mit Sicherheit zu unverhältnismäßigen Reaktionen auf Umweltreize.
Es wäre aber verfehlt, aus derartigen Reaktionen auf so etwas wie den "Kern einer Persönlichkeit", der im Zustand der sensorischen Deprivation freiliegen soll, zu schließen, denn solche Reaktionen sind nachweislich eindeutig das Produkt einer Persönlichkeitsdeformation durch sensorische Deprivation. Während gewöhnlich Umweltreize als Teile eines kontinuierlichen Flusses von Umweltveränderungen wahrgenommen, erfahren und in einen systematischen Zusammenhang eingegliedert und verarbeitet werden können, ist dies in der durch sensorische Deprivation herbeigeführten Persönlichkeitsverfassung nicht mehr möglich. Diese Situation ist nur vergleichbar mit den Reaktionen des unvorbereiteten Individuums auf gewaltsame Übergriffe des Staatsapparates, auch Kriegshandlungen, die sich ja gerade durch ihren völlig chaotischen Ablauf auszeichnen, der dem unvorbereiteten Menschen eine sinnvolle Orientierung in einer total von der Willkür anderer bestimmten Umwelt unmöglich macht.
Der gesteigerten und deformierten Sensibilität für jede geringfügige Umweltveränderung, gepaart mit einem stark herabgesetzten Wahrnehmungsvermögen für Qualitätsunterschiede in diesen Umweltveränderungen, entspricht eine überintensive Beschäftigung mit der eigenen Individualität. Als weitergehende Effekte sensorischer Deprivation können Halluzinationen, auch und gerade autoskopische Symptome, ebenso auftreten wie Störungen der vegetativen körperlichen Funktionen.
Das alles sind Manifestationen der mit der sensorischen Deprivation einhergehenden fortschreitenden Desorientierung des Individuums in seiner künstlichen, total fremdbestimmten Umgebung.
Im Zusammenwirken von progressiver Desorientierung, halluzinatorischen Tendenzen und Störungen vegetativer körperlicher Funktionen (Verstärkung des Hunger- und Durst-Gefühls, des Schlafbedürfnisses, des Urindranges usw.) manifestiert sich die Zerstörung der Identität des der sensorischen Deprivation ausgesetzten Individuums.
Der menschliche Organismus ist der künstlich herbeigeführten sensorischen Deprivation nicht gewachsen.
In der Natur ist höchstens die Situation eines in die Wüste verirrten Menschen, der Fata-Morgana-Erscheinungen halluziniert, mit der Situation des total sensorisch Deprivierten vergleichbar. Aber in der Wüste finden zumindest noch die naturgesetzlich ablaufenden Veränderungen von Tag und Nacht mit ihren wahrnehmbaren und voraussehbaren Licht- und Temperaturschwankungen statt, die der Verirrte mit seinen Sinnesorganen registriert und auf die er sich einstellen kann und muß. Derartige Orientierungshilfen fehlen dem künstlich und gewaltsam sensorisch Deprivierten völlig. Vielmehr ist er einem für ihn undurchschaubaren und aus seiner Situation heraus unveränderlichen Willkürregime ausgesetzt, das selbst die Naturgesetze des Wechsels von Tag und Nacht, warm und kalt, Geräusch und Stille außer Kraft zu setzen scheint. Vor allem eine fast totale Geräuschisolation, höchstens unterbrochen durch gelegentliche seltene Schalleruptionen, hat hier wohl eine Schlüsselfunktion: Veränderungen oder eine Strukturierung des Geräuschpegels sind in der Natur entweder Indizien für den Ablauf von Wettergeschehnissen (Wind, Regen, Donner usw.) oder aber für die Anwesenheit anderer Lebewesen. Gerade das letztere ist für Menschen als soziale Lebewesen der erste und letzte Anker oder Strohhalm, in dem sich ihre Verbindung, ihr Zusammenhang mit ihrer sozialen Umwelt manifestiert. Nicht umsonst ist die Sprache - und die Musik - als akustisches Kommunikationsmittel die älteste und am weitesten entwickelte Form des Informationsaustausches der Menschen untereinander. Menschliches Zusammenleben, menschliche Zusammenarbeit und akustische Kommunikation sind weder historisch noch technisch voneinander zu trennen. Das gilt sowohl in bezug auf die Menschheitsgeschichte als auch bezüglich der individuellen Entwicklung des Menschen von Geburt an. Das vollständige vitale Funktionieren des Organismus eines Neugeborenen ändert sich für seine Umwelt zuallererst akustisch: Das Baby schreit. Und Eltern oder Arzt oder Hebamme nehmen das neue Leben unmittelbar akustisch wahr. Nicht zu vergessen, daß das Hören - auch anatomisch - eng verbunden ist mit dem Gleichgewichtsgefühl, einer äußerst wichtigen Grundlage der Orientierung, und daß eine Beeinträchtigung des Orientierungsvermögens eines der Hauptsymptome sowohl des epileptischen Anfalls als auch des akuten Elektroschocks ist.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sensorische Deprivation durch das Versetzen Einzelner in eine total künstliche, gleichbleibende Umgebung wohl das zur Zeit geeignetste Mittel zur Zerstörung spezifisch menschlicher Vitalsubstanz ist. Durch Aushungerung im herkömmlichen Sinne kann man ebenso wie durch Erschießen oder Vergasen sowohl menschliches als auch tierisches Leben vernichten. Sensorische Deprivation hingegen ist eine speziell auf den menschlichen Organismus zugeschnittene Methode der Zerstörung von Lebenssubstanz - in gewissem Sinne ein Gegenstück zu den neuzeitlichen Methoden bei der Mästung von Schlachtvieh.
Sensorische Deprivation ist - weil sie nur unter von Menschen arbeitsteilig produzierten Bedingungen durchgeführt werden kann - zugleich die menschlichste und unmenschlichste Methode der verzögerten Auslöschung von Leben. Über Monate und Jahre angewendet, ist sie der sprichwörtliche "perfekte Mord", für den keiner - oder alle, außer den Opfern - verantwortlich ist ...
Die rein wissenschaftliche Erforschung der Auswirkungen der sensorischen Deprivation wurde erst vor etwa 20 Jahren systematisch in Angriff genommen. Wie so häufig, wurden Forschungs- und Experimentiermethoden entwickelt aus intuitiv gewonnenen Erkenntnissen, die bereits lange zuvor angewandt worden waren. Vorläufer der Isolierzellen, in denen sensorische Deprivation durchgeführt wird, sind nicht nur die Tigerkäfige, die Isolierabteilungen psychiatrischer Krankenhäuser, Gefängnisse und Konzentrationslager, sondern schon viel früher die Felsenhöhlen und Kellerräume, in denen Menschen eingemauert wurden, die sogenannten "oubliettes". Aus dem vorigen Jahrhundert stammt ein reiches Arsenal von Zellen-Einrichtungen, auf dem unser heutiges Gefängniswesen noch immer aufbaut. In diesen Zellen-Gefängnissen gibt es gewöhnlich einige Zellen, die vom übrigen Gebäude vollständig getrennt sind und in denen besondere Gefangene bewacht werden. Die Indikation für eine solche Sonderbehandlung in einer dieser Zellen, die in Holland "Dovencel" - etwa: Dampfkessel - heißt, wird meist nicht durch Gerichtsbeschluß festgestellt, sondern dem Gefängnispersonal überlassen. So habe ich einen sechzehnjährigen Jungen erlebt, der, weil er eines Verbrechens beschuldigt, seit seinem elften Lebensjahr in einer vollständig isolierten Zelle einer staatlichen Erziehungsanstalt eingesperrt war. Jahrelang waren weder Sonnenlicht noch Außengeräusche zu ihm durchgedrungen. Kontakt hatte er nur mit seinen Bewachern. Kunstlicht erhielt er nur, wenn und solange es ihnen gefiel. Geräusche drangen selbst dann nicht zu ihm durch, wenn man seine Zellentür aufschloß, dafür lag die Zelle zu tief unter der Erdoberfläche. Als ich ihn kennenlernte, war der Junge durch die abnormale Umgebung schwer deformiert.
In derartigen Zellen wurden zu Beginn der fünfziger Jahre mit Menschen in Absonderungssituationen Beobachtungen angestellt und Versuche durchgeführt. Gegen Ende der fünfziger Jahre wurden für diese Zwecke besondere Experimentierzellen gebaut, vor allem in den USA und in Kanada, die sogenannten "silent rooms" (Heron, Bexton, Scott, Salomons und viele andere).
Viel später erst wurden derartige Forschungen in Deutschland aufgenommen, wo sich momentan die am meisten perfektionierte "stille Zelle" befindet: im "Laboratorium für klinische Verhaltensforschung" an der Universität Hamburg. Hier werden nicht nur die körperlichen Reaktionen von Versuchspersonen beobachtet und gemessen, sondern auch psychologische Testmaßstäbe erarbeitet an Versuchspersonen, die sich für einige Zeit in die "camera silenta" begeben.
Aufgrund solcher Untersuchungen klassifiziert man die Reaktionen von Menschen in verschiedenen Kategorien. Immer wieder zeigt sich dann, daß unter dem intensiven oder lang andauernden Druck der sensorischen Deprivation neben Angst und panischen Reaktionen meistens folgende konstante Begleiterscheinungen zum Vorschein kommen: Störungen der Wahrnehmung und der Erkenntnis (Halluzinationen, Autoskopie, illusionäre Verfälschungen) und vegetative körperliche Störungen wie etwa deformiertes (verstärktes) Hungergefühl, Schlaf-Rhythmus-Störungen, funktionelle Herzleiden, motorische Desequilibrierung (intensives Zittern, Zuckungen wie beim Elektroschock usw.).
In dem Hamburger Experiment (J. Gross u.a.) hat man aufgrund dieser Beobachtungen und der Testprotokolle eine vereinfachte Form der Klassifizierung menschlicher Persönlichkeitstypen durchgeführt. Die Reaktionen auf die Experimente werden dort in drei Kategorien eingeteilt:
A. die Kategorie der animalischen Reaktionen
B. die Kategorie der basalen Persönlichkeitsstrukturen, wie sie durch Anlage und Frühentwicklung geformt und ziemlich stabilisiert sind und die unter dem Druck der Streßsituationen länger überdauern als die Reaktionen der Kategorie C.
C. die Kategorie der Reaktionen, die einen response auf Stimulationen der Umwelt, sowohl der sozialen und kulturellen als auch der physischen Umwelt, bedeuten.
Die durch planmäßig angelegte Experimentalsituationen herbeigeführten Persönlichkeitsdeformationen werden als dem menschlichen Organismus inhärente Persönlichkeitsmerkmale ausgegeben.
Das Willkürliche an den Schlußfolgerungen aus diesen Experimenten ist also, daß das, was allenfalls als Arbeitshypothese für weitere Untersuchungen dienen könnte, umgeformt wird zu dogmatischen Aussagen über menschliche Persönlichkeitsstrukturen überhaupt. So wird behauptet, daß die Reaktionen von Menschen, die sich in Situation B befinden, die Indikation des "wesentlichen Kerns der Persönlichkeit" seien.
Dem Richter wird so ein Freibrief ausgestellt, die verhafteten, "ihm anvertrauten" Personen unter den Folterdruck der sensorischen Deprivation zu setzen, um mit der "eigentlichen" Person sprechen zu können, obwohl er in Wirklichkeit eine durch die Haftbedingungen schwer verkrüppelte Person vor sich hat.
Bemerkenswert an diesen Hamburger Experimenten ist noch, daß nicht nur die Auswirkungen untersucht werden, die eine Einschließung in eine solche Zelle und die Unterwerfung unter sensorische Deprivation auf die Versuchspersonen haben, sondern daß auch geprüft wird, wie man bei Menschen, die nicht in eine so perfekte Isolierzelle gesperrt werden, dieselben Wirkungen durch chemo-pharmazeutische Mittel erreichen kann. Durch die Anwendung sehr spezifischer Präparate hofft man, die komplizierte Struktur der "camera silentia", der modernen "oubliette", überflüssig zu machen und dieselben Resultate mit einer Tablette zu erreichen, die die Industrie ohne weiteres massenhaft herstellen kann. Die Anwendungsmöglichkeiten einer solchen Droge kann man sich leicht ausmalen.
(Quelle: Nr. 10, S. 118ff)
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