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Tue Oct  7 23:10:45 1997
 

Ernst Albrecht

Der Staat - Idee und Wirklichkeit

...
b) nicht absolute Rechte erster Ordnung

Sie umfassen das Recht auf
- Leben
- Freiheit von grausamer, unmenschlicher Behandlung und insbesondere von Folter - physische Freiheit der Person
- Suche und Annahme von Arbeit zum Zwecke der Sicherung des Kulturminimums - freie Familiengründung (Kinder) und Leben in einer ehelichen bzw. Familiengemeinschaft.
Diese Rechte sind keine absoluten Rechte, sie stellen keine unüberschreitbare Grenze für den Staat dar. Das bedeutet nicht ohne weiteres, daß ihnen in sachlicher Hinsicht ein minderer Rang zukäme. Das Recht auf Leben hat einen höheren Rang als das Recht auf Eheschließung, und das Verbot der Folter ist nicht weniger wichtig als das Verbot der Leibeigenschaft. Es ist nicht der Rang, der die absoluten und die nicht absoluten Rechte erster Ordnung voneinander scheidet, sondern ihr Verhältnis zur Staatstätigkeit. Die absoluten Rechte sind nur deshalb absolut, weil keine Situationen denkbar sind, in denen ihre Verletzung unerläßlich wäre, um viel größere Werte zu bewahren, in denen also eine sittliche Pflicht bestünde, auf die genannten Rechte zu verzichten.
Bei den nicht absoluten Rechten ist die Sachlage anders. Es kann Situationen geben, in denen ein noch größeres Unheil nur durch den Eingriff in diese Rechte abgewandt werden kann.
Da ist zunächst das Recht auf Leben, dessen ungeheure Bedeutung sich aus der Eigenschaft des Lebens als eines fundierenden Grundwertes aller anderen Werte ergibt. Ohne Leben hört alles auf. Und doch erscheint es in extremis nicht ausgeschlossen, daß der Staat das Leben seiner eigenen Bürger oder auch fremder Menschen opfern muß, um noch größeres Unheil zu verhindern. Die schnelle Niederschlagung eines Aufstandes, der zu einem großen Blutbad zu führen droht, kann einen solchen Fall darstellen ... Es sind dies jedoch äußerste Grenzfälle, und die Frage, ob das Töten von Menschen in der konkreten Situation erlaubt - und das heißt bei der Struktur dieser Situationen dann immer auch geboten - ist oder nicht, kann nicht schematisch-kasuistisch, sondern nur in jeweils neuer Gewissensforschung und Prüfung aller Argumente für und wider sowie aller möglichen sonstigen Lösungen entschieden werden ...
An zweiter Stelle ist das Recht auf Freiheit von grausamer, unmenschlicher Behandlung und insbesondere von Folter genannt. Fälle, in denen der Staat dieses Recht verletzen darf, sind noch seltener als Fälle, in denen der Staat das Leben nehmen darf. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte von 1952 hat dieses Recht sogar unter die absoluten Rechte eingereiht, und in praktischer Hinsicht läßt sich viel zugunsten dieses Standpunktes anführen, da die Gefahr einer mißbräuchlichen Verletzung dieses Rechtes unvergleichlich viel größer ist als die Gefahr eines versäumten Eingriffs in Fällen, in denen er geboten gewesen wäre. Immerhin kann das Vorliegen eines solchen Falles theoretisch nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Wenn es z.B. etabliert wäre, daß ein bestimmter Kreis von Personen über moderne Massenvernichtungsmittel verfügt und entschlossen ist, diese Mittel innerhalb kürzester Zeit zu verbrecherischen Zwecken einzusetzen, und angenommen, dieses Vorhaben könnte nur vereitelt werden, wenn es gelingt, rechtzeitig den Aufenthaltsort dieser Personen zu erfahren, so kann es sittlich geboten sein, diese Information von einem Mitglied des betreffenden Personenkreises auch durch Folter zu erzwingen, sofern dies wirklich die einzige Möglichkeit wäre, ein namenloses Verbrechen zu verhindern ...

(Quelle: Nr. 11, S. 172ff)


aus: Ausgewählte Dokumente der Zeitgeschichte: Bundesrepublik Deutschland (BRD) - Rote Armee Fraktion (RAF), GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte, 1. Auflage Köln Oktober 1987

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