Ernst Topitsch
Gegen Ende seines Lebens schrieb Siegmund Freud in einem Brief an Albert Einstein die nachdenklichen Bemerkungen: "Manchmal haben wir, wenn wir von den Greueltaten der Geschichte hören, den Eindruck, die ideellen Motive hätten den destruktiven Gelüsten nur als Vorwand gedient, andere Male, zum Beispiel bei den Grausamkeiten der heiligen Inquisition, meinen wir, die ideellen Motive hätten sich im Bewußtsein vorgedrängt, die destruktiven ihnen eine unbewußte Verstärkung gebracht. Beides ist möglich." 1 Die Möglichkeit, Grausamkeiten könnten allein um guter Zwecke willen und ohne alle anderen Gründe verübt werden, hat dieser profunde Kenner der menschlichen Seele nicht einmal in Betracht gezogen. So hat er mit der ihm eigenen rücksichtslosen Unbestechlichkeit einen hochbedeutsamen Tatsachenkomplex angepackt, der in unserer permissiven (2) Gesellschaft wohl noch gründlicher verdrängt wird als einst die Sexualität in der Zeit der viktorianischen Prüderie. Es ist dies die unbewußte oder auch bewußte Tarnung der Machtgier und Zerstörungslust hinter einem Schleier hochmoralischer Ideale und Utopien.
Dieser Sachverhalt ist so offenkundig, daß er sogar einzelnen selbständig denkenden Marxisten nicht entgehen konnte. Beispielsweise schrieb vor einigen Jahre der jugoslawische Philosoph Svetozar Stojanovic: "Es sieht so aus, als müsse man in Zukunft die Theorie des Unbewußten in stärkerem Maße auch auf die revolutionären Gruppen anwenden. Die Erscheinung der Inversion von Zielen und Mitteln erweckt den Verdacht, daß unter den bewußten Zielen von Beginn an andersartige unbewußte Ziele lagen. Die bewußten Ziele, deren Achse die klassenlose und staatslose Gesellschaft darstellt, dienen in solchen Fällen zur Verdeckung des unterbewußten Wunsches nach der Verabsolutierung der eigenen Macht." 3
Faßt der jugoslawische Denker vor allem die Machtgier ins Auge, so überwiegt in anderen Fällen die bloße Zerstörungslust. Wir haben es dann mit dem Typ des kriminellen Utopisten zu tun, den der Kriminalpsychologe Hans v. Hentig schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg folgendermaßen charakterisiert hat: "Hinter seiner Utopie steht ein heftiger destruktiver Zug. Nicht die Verwirklichung seiner Phantasiewelt ist die Hauptsache, sondern der Angriff auf alles Bestehende, der angeblich Vorbedingung für den erträumten Neuaufbau ist. Es ist kennzeichnend für den kriminellen Utopisten, daß er alles ausnahmslos schlecht findet, was ihm von den alten Gesellschaftsformen entgegentritt und daß er niemals aus der Periode des Hasses und Niederreißens herauskommt ... Wenn eine überirdische Macht seine Utopie plötzlich fertig herbeizauberte, würde er unglücklich und verzweifelt sein." 4
In vielen solchen Fällen liegt aber gar keine ausgeführte Utopie vor, keine inhaltlich bestimmte, diskutierbare und kritisierbare Vorstellung von der angeblich so viel besseren Zukunftsgesellschaft und dem Weg dorthin. Hier geht es eben in Wirklichkeit gar nicht darum, den Menschen zu helfen. Vielmehr beläßt man die hehren Ideen der Menschheitsbefreiung und Menschheitsbeglückung im beziehungsvollen Hell-Dunkel einer möglichst ungreifbaren und daher unangreifbaren Hintergrundideologie, denn so entsprechen sie dem in jenen Fällen tatsächlich maßgebenden Zweck weit besser - sie sollen nämlich bloß der Machtgier und Zerstörungslust, dem Geltungsbedürfnis und der Habgier, dem Haß, dem Neid und dem Ressentiment als Tarnung und Waffe dienen.
Daß es sich bei diesen Thesen nicht um perfide Unterstellungen böswilliger Reaktionäre handelt, geht keineswegs nur aus den eingangs angeführten Beobachtungen von Freud und Stojanovic hervor. Vielmehr war sich sogar Marx selbst sehr wohl einiger Motive bewußt, die hinter dem Kommunismus stehen - freilich nicht seinem eigenen, sondern nur dem sogenannten rohen Kommunismus. Der darin wirksame "allgemeine und als Macht sich konstituierende Neid ist nur die versteckte Form, in welcher die Habsucht sich herstellt und nur auf eine andere Weise sich befriedigt. Der Gedanke jedes Privateigentums als eines solchen ist wenigstens gegen das reichere Privateigentum als Neid und die Nivellierungssucht gekehrt ... Der rohe Kommunist ist nur die Vollendung dieses Neides und dieser Nivellierung von dem vorgestellten Minimum aus." 5 Ja, manchmal empfand der Vater des historischen Materialismus sogar etwas wie ein geheimes Grauen vor einer ressentimentgeladenen Gleichmacherei. In einem Gespräch fragte ihn eine Dame: "Ich kann mir Sie auch nicht in einer nivellierenden Zeit denken, da Sie durchaus aristokratische Neigungen und Gewohnheiten haben." - "Ich auch nicht", antwortete Marx. "Diese Zeiten werden kommen, aber wir müssen dann fort sein." (7)
Die verschiedenen Motive, von denen revolutionäre Bewegungen inspiriert sind, können miteinander bis zur Unterscheidbarkeit verschmelzen, aber auch in scharfen Konflikt geraten, wie sich besonders in dem Gegensatz zwischen Marxismus und Anarchismus gezeigt hat. Der erbitterte Kampf zwischen Marx und Bakunin war nicht nur auf rein persönliche Beweggründe zurückzuführen, und es ist kein Zufall, daß wir dem genialischen Anarchisten eine Reihe scharfsichtiger Beobachtungen verdanken, die den Willen zur totalen Macht als das entscheidende Motiv seines Gegners erkennbar werden lassen. Bakunin hat auch mit erstaunlicher Klarheit vorausgesehen, daß der Marxismus zum totalen Staat führen werde: "Die Ausdrücke wissenschaftlicher Sozialist und wissenschaftlicher Sozialismus, die unaufhörlich in den Schriften der Marxisten wiederkehren, beweisen durch sich selbst, daß der sogenannte Volksstaat nichts anderes sein wird als die despotische Regierung der proletarischen Massen durch eine neue und sehr beschränkte Autokratie von wahren und vorgeblichen Wissenschaftlern." 7 Doch so erbittert Marxisten und Anarchisten einander bis heute bekämpfen mögen, im Haß auf den demokratischen, liberalen und sozialen Rechtsstaat sind sie sich einig, und der Terrorismus wird aus beiden Quellen gespeist. Allerdings bevorzugt der Anarchismus die individuelle terroristische Aktion, während sich die Lehren von Karl Marx - oder richtiger: bestimmte ihrer Komponenten - mehr zum Aufbau und zur Rechtfertigung beständiger Herrschaftssysteme eignen.
Nicht von ungefähr werden also die Doktrinen des Karl Marx und vieler seiner Anhänger schon seit dem vorigen Jahrhundert von dem Vorwurf begleitet, sie verfolgten unter dem Deckmantel der Emanzipation des Proletariats und damit überhaupt der Menschheit völlig entgegengesetzte Ziele. Führende Köpfe der europäischen und zumal der deutschen Sozialwissenschaften haben diesen Einwand erhoben, etwa Vilfredo Pareto, Max Weber, Werner Sombart und sein Schüler Arthur Prinz, Alexander Rüstow. Deren Kritik wurde durch neuere Forschungen - vor allem die Werke von Arnold Künzli, Ernst Kux und Robert Payne - weiter untermauert und vertieft, und ich selbst habe mich in meinem Buch "Gottwerdung und Revolution" bemüht, diesen ganzen Tatsachenkomplex zu analysieren und in größerem Zusammenhang darzustellen.
Schon lange vor Marx hatten die meisten Revolutionäre und Utopisten in ihren Zukunftsvisionen für sich selbst eine, ja oftmals die schlechthin dominierende Rolle reserviert, und nur die wenigsten hatten die geistige Selbstdisziplin, in der künftigen Gesellschaft bloß eine bescheidene Stellung zu beanspruchen. Als künftige Herrscher oder Mentoren sahen sich etwa Bacon, Campanella und Milton. Der Frühsozialist Cabet betrachtete sich als Gesetzgeber seiner "Icaria" und Marxens Rivale Wilhelm Weitling als schwertbewehrten Messias eines weltweiten Communia. Und der deutsche Utopist Johannes Valentin Andreae erklärt schon auf den ersten Seiten seiner "Christianopolis" (1619) rundweg, er habe sich diese Stadt ersonnen, um dort die Diktatur ausüben zu können.
So entwaffnende Offenheit lag Marx fern. Doch die Forschung hat außer Zweifel gestellt, daß der spätere Begründer des Historischen Materialismus schon als Student von cäsarischen Machtansprüchen, messianischem Sendungsbewußtsein und unbändigen destruktiven Gelüsten erfüllt war. Um seine eigene Person und diese ihre Bedürfnisse hat er schon längst vor dem "Kommunistischen Manifest" aus dem über den deutschen Idealismus und wohl auch die Kabbala 8 tradierten Erbe der Selbstvergottungsmysterien eine Deutung der Weltgeschichte als eines Selbsterlösungsprozesses der Menschheit aufgebaut, wo ihm selbst die historisch einzigartige Rolle dessen vorbehalten ist, der diese Erlösung erst ermöglicht, indem er ihr Geheimnis entschlüsselt. Jeder Widerstand ist nicht nur sinnlos, weil er von der ehernen Notwendigkeit der Geschichte hinweggefegt werden wird, sondern er ist das schlechthin Unmenschliche und Unmoralische, weil er sich der wahren Menschwerdung des Menschen, der Menschheitsbefreiung und Menschheitsbeglückung entgegenstemmt.
Dabei sollte das Proletariat der Schwertarm sein, ja der Henker, der das von Marx im Namen der entsprechend präparierten "Geschichte" über die adelig-bürgerliche Welt gefällte Urteil zu vollstrecken hatte - jenes Proletariat, das der verhinderte Diktator im Grunde verachtete und bloß in ähnlicher Weise als Instrument seines Machtwillens benützen wollte wie Napoleon seine Armeen.
Für diese seine Geschichtskonstruktion hat der revolutionäre Prophet zwar den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhoben, aber er hat es geflissentlich vermieden, an entscheidenden Punkten für sie die Grundbedingung der Wissenschaftlichkeit zu erfüllen - nämlich sie so zu formulieren, daß sie an Tatsachen überprüft und daher auch durch solche widerlegt werden kann. Vielmehr hat er sich gerade über das Herzstück seiner Lehre, nämlich die zukünftige Gesellschaft der Freiheit und des Glücks sowie den Weg dorthin, gründlich ausgeschwiegen, um es auf diese Weise jeder kritischen Diskussion zu entziehen. Doch schirmt sich der Marxismus auch durch andere derartige Kunstgriffe oder Tricks - die Fachsprache nennt sie Immunisierungsstrategien - gegen Kritik und Kontrolle ab. Hierher zählt etwa der Versuch, jeden Zweifel oder Einwand von vorneherein als bloßen Ausdruck "bürgerlicher Ideologie" oder eines "falschen Bewußtseins" vom Tisch zu fegen oder die Berufung auf eine angeblich "höhere Logik", die Dialektik, die der gewöhnlichen, "bloß formalen" Logik weit überlegen sein soll, aber sich nicht in Regeln formulieren läßt, deren Einhaltung oder Verletzung überprüfbar wäre. Mit solchen und ähnlichen Mitteln erschleicht man sich den Anschein der Unfehlbarkeit.
Darüber darf allerdings nicht übersehen werden, daß Marx auch wichtige wissenschaftliche Einsichten erarbeitet und der Forschung wertvolle Anregungen gegeben hat. Das Pauschalurteil ist unzulässig, der Marxismus sei "nichts anderes als" eine durch Immunisierungsstrategien abgesicherte Heilslehre und Herrschaftsideologie. Doch eine solche Heilslehre und Herrschaftsideologie ist eine seiner wichtigsten Komponenten, und sie vor allem ist der Grund seiner praktisch-politischen Wirksamkeit. So wird man auf Alexander Rüstow zurückgreifen dürfen, einen der letzten großen Liberalen und Humanisten auf deutschem Boden, und auf sein bedeutendes Werk "Ortsbestimmung der Gegenwart", das heute leider fast vergessen ist. Dort findet sich eine hervorragend ausgewogene Würdigung des Vaters des Historischen Materialismus, die dessen wissenschaftlichen Leistungen durchaus gerecht wird, aber auch die unheilvollen Komponenten schonungslos aufdeckt. In höchstem Maße bedenklich erscheint dem Autor vor allem "die Diktatur des Proletariats (wenn auch nur als Mittel für einen extrem liberalen angeblichen Zweck), der Aufruf zum rücksichtslosen Machtkampf, die offene Entfesselung aller ihm dienenden Instinkte, des Neides, der Habsucht, des Hasses, endlich die ausgesprochen theologische, unverkennbar von der alttestamentlichen Prophetie beeinflußte Eschatologie, der Glaube an das große Wunder - »Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« -, wofür mangels jedes ernstlichen Versuches einer einsichtigen Begründung letzten Endes des sacrificium intellectus in Anspruch genommen wird: »Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.«" 9
Auch Lenin scheint sich zunächst kaum ernstliche Gedanken über die Zukunftsgesellschaft gemacht zu haben, und als nach dem Sieg der Revolution die ersten Krisen auftauchten, suchte er vergeblich in den Schriften von Marx nach Rat. Doch dieser hatte eben den Weg zu jener Gesellschaft selbst nicht gewußt. Welche Triebkräfte aber auch hier im Hintergrund standen, wird blitzlichtartig durch eine Passage aus der Zeitschrift "Rotes Schwert" erhellt, dem offiziellen Organ der "Tscheka". Dort heißt es in der Nummer vom 18. August 1919: "Unser ist ein neuer Moralkodex. Unsere Humanität ist absolut; denn sie gründet sich auf das glorreiche Ideal der Beseitigung von Tyrannei und Unterdrückung. Uns ist alles erlaubt; denn wir sind die Ersten in der Welt, die das Schwert nicht zu Zwecken der Versklavung und Unterdrückung ziehen, sondern im Namen der Freiheit und der Befreiung von der Knechtschaft." 10 Man mag Lenin und seinen Schwertträgern subjektiv guten Glauben zubilligen. Welche Bewandtnis es jedoch mit einer "Humanität" hat, in deren Namen "alles erlaubt" ist, kann nach den seither gemachten Erfahrungen kaum mehr zweifelhaft sein.
Doch ist die Verwendung humanitärer und emanzipatorischer Parolen als Instrument und Maske der Machtgier, des Hasses, der Grausamkeit und der Zerstörungslust seit den Tagen von Marx und Lenin ganz erheblich weiterentwickelt worden. Daran haben spätere Revolutionäre aus der Dritten Welt wie Mao Tse-tung, Ho Chi Minh, Ernesto "Che" Guevara und andere erheblichen Anteil. In zahlreichen ehemaligen Kolonien ist es machthungrigen linksradikalen Gruppen auch tatsächlich gelungen, die europäische Verwaltung zu beseitigen, um an deren Stelle ihre eigene totale Herrschaft zu errichten. Dabei bildete der Terror ein hervorragendes Mittel, um die Farbigen durch künstliche Erzeugung von Haß- und Rachegefühlen gegen die Kolonialmächte zu mobilisieren. Einerseits suchte man durch gezielte Gewaltakte die Europäer zu unüberlegten und überharten Gegenmaßnahmen herauszufordern, von denen möglichst viele Unbeteiligte betroffen werden sollten. Andererseits richtete sich der Terror gegen Farbige, die sich neutral verhielten und den angeblichen Befreiungsbewegungen die Gefolgschaft verweigerten. Diese wollte man einschüchtern und ihnen zeigen, daß die Kolonialverwaltung sie nicht schützen konnte. Hauptleidtragende sind dabei letzten Endes aber nicht die Weißen, die meist wenigstens das Land verlassen können, sondern die Einheimischen, die nun nach der Fremdherrschaft die oft noch viel schlimmere Unterdrückung durch ihre "Befreier" über sich ergehen lassen müssen.
Ideologie, Strategie und Taktik dieser Form der Machtergreifung ist wenigstens von einem Teil des Linksradikalismus in den Industrieländern, auch und vor allem in der Bundesrepublik, zum Angriff auf den demokratischen, liberalen und sozialen Rechtsstaat übernommen worden. Das war schon längst vor den koordinierten Aktionen deutscher und arabischer Terroristen klar. Bereits vor fast einem Jahrzehnt erschienen auf den Flugblättern und Schmierereien der Studentenrevolte immer wieder Fäuste mit Maschinenpistolen und Bomben, immer wieder wurde zur Solidarität mit den angeblichen "Befreiungsbewegungen" der Dritten Welt aufgerufen, und linke Verlage brachten einschlägige Literatur von Frantz Fanon bis Marighela. Doch die Troubadoure der permissiven Gesellschaft haben das alles verniedlicht, bis blutiger Ernst daraus wurde.
Eine solche Verniedlichung wirkt - auch dort, wo sie ohne Hintergedanken erfolgt - im Sinne eines Zangenangriffs, der durch das Zusammenwirken von ideologischer Propaganda und terroristischer Gewalt den demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat zerstören soll. Während dabei die Ideologen sich nach Möglichkeit der Schlüsselstellungen in den Massenmedien und im Erziehungswesen bemächtigen und aus diesen Positionen den psychologischen Krieg gegen die demokratische Ordnung führen, bilden die Terroristen den anderen Arm der Zange. Auf diese Weise soll die demokratische Regierung vor die Alternative gestellt werden, entweder die weiße Fahne zu hissen oder sich - im Falle der Gegenwehr - als angeblich "undemokratisch" zu kompromittieren. Dabei werden die Freiheiten und Garantien des demokratischen Rechtsstaates extensiv und systematisch zu dessen Zerstörung in Anspruch genommen. Wenn sich dieser etwa gegen die Unterwanderung zu schützen sucht, wird wegen angeblicher "Berufsverbote" eine Protest- und Solidarisierungskampagne vom Stapel gelassen, und wenn er Terroristen vor Gericht stellt, wird eine Welle der Empörung über einen solchen Akt "brutaler Unterdrückung" inszeniert. Genießen dann die Verbrecher im Gefängnis die unglaublichsten Privilegien, so kennt die Entrüstung über diese "Isolationsfolter" keine Grenzen. Dadurch will man nicht zuletzt jede wirkungsvolle Überwachung verhindern und hatte immerhin den Erfolg, daß die Banditen in der Haftanstalt ganze Kommunikationssysteme und Waffendepots anlegen konnten. So haben die jüngsten Ereignisse bestätigt, was Bertrand de Jouvenel bereits seinerzeit feststellen konnte: "Der Trick, die Verhaltensweisen des Gangsters mit den sittlichen Vorteilen des Märtyrers zu verbinden, ist das ganze 20. Jahrhundert hindurch entwickelt worden." 12 Ihren makabren, nicht einmal von de Jouvenel vorgesehenen Höhepunkt hat diese Strategie darin erreicht, daß die Gangster ihren eigenen Selbstmord als ein von der Hand "faschistischer Schergen" erlittenes Martyrium zu dramatisieren versuchten. War hier selbst noch der Tod zur bewußten Propagandalüge geworden, oder waren diese Leute so in ihre Hirngespinste verrannt, daß sie ihr Verhalten irgendwie als gerechtfertigt empfanden?
Dies hat nochmals gezeigt, wie hoffnungslos jeder Versuch ist, Terroristen durch rationale Diskussion zu beeindrucken oder gar zu überzeugen. Die so viel beredete "politische Auseinandersetzung" ist hier einfach sinnlos. Um so wichtiger ist eine solche Auseinandersetzung mit jenen Kräften, die gewissermaßen den anderen Arm der Zange bilden, nämlich den intellektuellen oder pseudointellektuellen Gruppen, welche durch ihre publizistische Tätigkeit den Gangstern die Gloriole von Märtyrern oder doch von unschuldigen Opfern einer unmenschlichen Gesellschaft verschaffen. Gewiß sind diese Leute angesichts der Erbitterung der Öffentlichkeit im Augenblick ein wenig kleinlaut geworden und distanzieren sich geflissentlich von den Verbrechen, doch bleibt offen, ob es sich um einen echten Gesinnungswandel oder bloß um ein taktisches Manöver handelt.
Damit eröffnet sich aber ein höchst schwieriges Kapitel, das mit dem verbreiteten Schlagwort vom Sympathisantentum nicht ganz zutreffend gekennzeichnet ist, nämlich das Problem der sogenannten kritischen Intelligenz. Dazu muß schon eingangs außer Zweifel gestellt werden: Kritik ist ein Lebensnerv der Freiheit und Demokratie, weshalb sie in den Diktaturen rechter und linker Observanz unterdrückt und bestraft wird. Doch ist sie leider auch dazu verwendbar, um unter dem Deckmantel freiheitlich-demokratischen und humanen Engagements völlig entgegengesetzten Entwicklungen Vorschub zu leisten.
So stellt sich die wichtige und schwierige Frage, wie man die legitimen, ja unerläßlichen Funktionen der Kritik von ihren bedenklichen oder gefährlichen unterscheiden und wie man auf die letzteren reagieren soll. Eine präzise Antwort, die eine klare und unbestreitbare Grenzziehung ermöglichen würde, gibt es leider nicht. Vielmehr finden sich breite Übergangs- und Grauzonen, und diese gestatten ja erst alle jene heimtückischen Tarnungen. Immerhin aber gibt es eine Reihe von Kriterien, die eine Abgrenzung wenigstens im Groben gestatten. Diese sind leider noch nicht folgerichtig geklärt und systematisch durchdacht worden, obwohl dies eine der faszinierendsten und praktisch bedeutsamsten Aufgaben politischer Theorie in der Gegenwart wäre. So müssen vorerst einige vorläufige, aber wichtige Hinweise genügen.
Einer der auffallendsten Kunstgriffe, deren sich die "linke Welle" - auch in ihren nichtterroristischen Ausprägungen - zur Rechtfertigung ihres Verhaltens und zur Tarnung ihrer Motive bedient hat, ist der selektive Humanismus oder Moralismus. Er wurde während des Krieges in Indochina in besonders auffallender und daher leicht durchschaubarer Weise zum Nachteil der westlichen Welt praktiziert. Gewiß war die Welle der Vietnam-Proteste aus verschiedenen Quellen gespeist, und die Ursachen des damals unter den jungen Menschen vieler Länder verbreiteten aggressiven Mißmutes sind bis heute nicht befriedigend geklärt. Eine deutliche, wenn auch zuerst noch außerhalb des politischen Bereiches verbleibende Emotionalisierung war schon in den frühen sechziger Jahren spürbar. Aus einer solchen Stimmung heraus haben offenbar Teile der amerikanischen Jugend den Einberufungsbefehl als höchst unerwünschte Störung ihres Komfortdaseins und als unerhörte Zumutung seitens der Staatsführung empfunden. Zwar waren die Studenten vom Kriegsdienst befreit, aber sie mußten fürchten, bei längerer Dauer und Verschärfung der Kämpfe dieses Privilegs verlustig zu gehen. In dieser Lage kamen sie auf den ingeniösen 13 Gedanken, den Krieg in Indochina für einen "ungerechten Krieg" zu erklären, um auf diese Weise nicht als Feiglinge und Drückeberger, sondern als moralische Helden dazustehen, und als solche wurden sie nicht nur von der Sowjetpropaganda gefeiert.
Freilich war auch dieser Gedanke nicht ganz neu. Max Weber hat ähnliches schon gegen Ende des Ersten Weltkrieges beobachtet und kritisiert. Er bezeichnete es als eine sittlich höchst fatale Berufung auf die Ethik, "wenn jemand unter den Fürchterlichkeiten des Krieges seelisch zusammenbricht und nun, anstatt schlicht zu sagen, es war eben zu viel, jetzt das Bedürfnis empfindet, seine Kriegsmüdigkeit vor sich selbst zu legitimieren, indem er die Empfindung substituiert: Ich konnte das deshalb nicht ertragen, weil ich für eine sittlich schlechte Sache fechten mußte." 14
Daß die moralischen Argumente des Vietnam-Protestes zum größten Teil nur vorgeschoben waren, um die ganz andersartigen tatsächlichen Motive zu verdecken und den Anschein der Respektabilität zu erschleichen, war bereits sehr früh zu vermuten und ist heute so gut wie sicher. Allein schon die Penetranz und Aggressivität, mit der sie vorgebracht wurden, mußte stutzig machen. Auch zeigte sich sehr bald, wie selektiv dieses angebliche Engagement für Moral und Humanität verfuhr. Während man die angeblichen oder wirklichen Missetaten, ja überhaupt das militärische Eingreifen der Amerikaner in wahren Ekstasen der Entrüstung als Verbrechen an der Menschheit brandmarkte, blieben vergleichbare oder noch schlimmere Vorgänge, in welche andere Mächte verwickelt waren, so gut wie unbeachtet. Worum es wirklich ging, wurde schon recht peinlich offenkundig, als die Vereinigten Staaten - nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser psychologischen Kampagne - die allgemeine Wehrpflicht abschafften und ihre Truppen zurückzogen: Zwar dauerte das Blutvergießen in Indochina an, schien aber plötzlich den größten Teil seiner Verwerflichkeit eingebüßt zu haben. Der tragische Abschluß des Kriegsgeschehens brachte dann die totale und endgültige Entlarvung. Amerika ließ seine Verbündeten fallen, und die Sieger errichteten erwartungsgemäß ihre Schreckensherrschaft. Besonders in Kambodscha kam es zu Orgien der Grausamkeit, welche die Taten eines Hitler oder Stalin womöglich noch in Schatten stellen. Doch von einem Aufschrei gequälter Gewissen war weit und breit keine Spur, und die selbsternannten Gralshüter der wahren Moral, Humanität und Demokratie brachten kein Sterbenswörtlein der Mißbilligung, geschweige denn des Protestes über die Lippen.
Aber diese ganz leicht durchschaubare Maskerade hätte nie ihren makabren Erfolg erzielt, wäre sie nur von Drückebergern, Radikalen und Sowjetagenten praktiziert worden. Ihre verblüffende Wirksamkeit verdankte sie vor allem einer Publizistik, die sich mit Hilfe eines angemaßten moralischen Zensorenamtes als Neben-, ja als Überregierung etablieren wollte, ohne jedoch die Verantwortung der Regierung zu übernehmen. Dazu kam das Heer der Opportunisten verschiedenster Schattierungen, welche nicht müde wurden, die angebliche "moralische Sensibilität der kritischen Jugend" usw. zu preisen und so dem Falschspiel in verhängnisvoller Weise Vorschub zu leisten. Schließlich gab es noch die Arglosen, welche die moralische Mimikry 15 für bare Münze nahmen und sich nicht vorstellen konnten, was hier wirklich gespielt wurde. Erst dadurch wurde weithin der Eindruck suggeriert, es handle sich bei jener Mimikry um echtes moralisches Engagement, und erst dadurch wurde der Erfolg einer Strategie ermöglicht, die den Selbstbehauptungswillen der westlichen durch ein eigens zu diesem Zweck erzeugtes schlechtes Gewissen lähmen sollte.
Man muß nicht nur deshalb länger bei dem Kapitel "Vietnam" verweilen, weil hier der selektive Moralismus besonders deutlich erkennbar und weil der Terrorismus zu erheblichem Teil aus der Mentalität der Protestbewegung hervorgegangen ist, sondern vor allem, weil diese Mentalität auch dort, wo sie nicht direkt zu Gewalttaten führt, außerordentlich folgenschwere Auswirkungen haben kann. Es muß nämlich jeden Aggressor ermutigen, ja geradezu herausfordern, wenn er damit rechnen darf, daß der Selbstbehauptungswille seines Opfers auf die eben geschilderte Weise gelähmt wird.
Diese Einsichten sind leider selbst bei den sogenannten bürgerlichen Kräften noch lange nicht zum Gemeingut geworden, obwohl inzwischen der Terror eine neue Stufe der Abgründigkeit erreicht hat. Sogar die Gewalttaten der Nationalsozialisten und Kommunisten richteten sich im wesentlichen gegen wirkliche oder vermeintliche Widersacher, nun aber sind auch völlig Unbeteiligte bedroht, die der politischen Erpressung als Geiseln dienen sollen. Dennoch kann eine gewisse Publizistik noch immer nicht davon lassen, die Verbrecher als Vorkämpfer wahrer Humanität und Emanzipation oder als Menschen hinzustellen, die von der Vision einer "besseren Welt" inspiriert sind und sich allenfalls in den Mitteln zur Verwirklichung ihrer Ideale vergriffen haben.
Eine vielhundertjährige Debatte hat sich um das Problem entzündet, ob und in welchem Ausmaße ein guter Zweck die Verwendung bedenklicher, gefährlicher oder verwerflicher Mittel rechtfertige, und dahinter mag noch die sibyllinische Frage lauern, was denn eigentlich das Gute sei. Völlig eindeutig wird jedoch die Situation, sobald es sich erweist, daß der angebliche edle Zweck nur vorgespiegelt wird, damit man sich fragwürdiger, ja verbrecherischer Mittel zur Erreichung eines ganz anderen tatsächlichen Zweckes bedienen kann. Dann hatten wir es mit einer Form des kriminellen Utopismus zu tun.
Um hier Klarheit zu schaffen, müssen einige Fragen beantwortet werden: Haben die Rebellen überhaupt einigermaßen faßbare Vorstellungen von der "besseren Welt", die anzustreben sie behaupten? Legen sie sich Rechenschaft ab, wie weit die von ihnen vorgesehenen Mittel zur Erreichung jenes erhabenen Zieles geeignet sind und mit welchen Nebenfolgen zu rechnen ist, die alles in Frage stellen könnten? Stehen die mit jeder Gewaltanwendung verbundenen Leiden in einem diskutablen Verhältnis zu dem angeblich bezweckten Glück, und ist dieses überhaupt erreichbar? Wird die Gewalt ohne Freude und nur in dem Ausmaß angewendet, das absolut notwendig ist?
Solange diese Fragen nicht mit entsprechender Klarheit beantwortet sind, muß auf Grund leidvoller geschichtlicher Erfahrungen angenommen werden, daß die vorgeblichen hehren Ziele der Menschheitsbefreiung und Menschheitsbeglückung nicht viel mehr sind als ein Instrument des Willens zur Macht und ein pseudo-ethisches Alibi für die Lust an Zerstörung und Gewalt. Damit soll nicht behauptet werden, jene Leute seien von Anbeginn nichts als Heuchler, die ihre verbrecherischen Gelüste mit bewußtem, eiskaltem Zynismus hinter einem Tarnschleier erhabener Ideale zu befriedigen suchen. Meist denken sie über die irritierende Problematik gar nicht nach und werden schließlich selbst zu Opfern der Dämonen, die Engelsmasken tragen. Für sie gilt eben, wie übrigens für uns alle, was Max Weber in seiner klassischen Rede "Politik als Beruf" formuliert hat: "Die alten Christen wußten sehr genau, daß die Welt von Dämonen regiert sei und daß, wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einläßt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt." 16
Die Bändigung dieser Dämonen, oder - ohne Bild gesprochen - die Ritualisierung oder Hegung der unter Menschen nun einmal unvermeidlichen Konflikte, ist aber die wahre humane Leistung der parlamentarischen Demokratie. Darin, nicht etwa in der Illusion einer Unfehlbarkeit jeweiliger Mehrheiten, liegt die Legitimation dieser Staatsform. Wer sie zerstören will, der muß wissen und von dem muß man wissen, welche Gewalten er entfesselt.
Doch sollte das spektakuläre Auftreten der Terroristen keinesfalls darüber hinwegtäuschen, daß die Gefahr einer Zerstörung der Demokratie nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie von dieser Seite droht. Vielmehr tritt diese neue Bedrohung zu drei älteren hinzu: dem Expansionsdrang des totalitären Kommunismus, der Feindseligkeit großer Teile der Dritten Welt und der inneren Zermürbungsarbeit jener intellektuellen Cliquen, welche moralisierende Argumente als Mittel zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche verwenden. Mit jeder einzelnen davon könnten die demokratischen Staaten fertig werden. Ob jedoch die westlichen Gesellschaften mit ihrer Atmosphäre der Freiheit und Unverkrampftheit einen gleichzeitig losbrechenden und aufeinander abgestimmten Angriff von diesen vier Seiten überleben können - also ob sie überleben können, wenn die ideologisch-politische Feindschaft der Kommunisten die Ressentiments der Dritten Welt als Mittel zur Einkreisung des Westens benützt und dieser noch von innen her durch den Terrorismus und die sogenannte "kritische Intelligenz" zermürbt wird, kann nur Gegenstand sorgenvoller Fragen sein.
Dennoch mag der durch den Terrorismus ausgelöste Schock auch positive Folgen haben. Er könnte in den Menschen des Westens und zumal der Bundesrepublik wieder das Bewußtsein wecken, wie bedrohlich ihre Lage ist. Viele Jahre hindurch hatte man ja bei uns in einem Trancezustand von Euphorie und Illusion nicht einmal mehr Niederlagen als solche empfunden. Man wollte die Schrift an der Wand nicht sehen. Eine schwer greifbare, aber alles durchdringende Kapitulationsatmosphäre schien die widerstandslose Selbstpreisgabe vorzubereiten. Wenn der Terrorismus mit seinen Schlägen den Selbstbehauptungswillen der demokratischen Welt wachpeitscht, dann ist er wohl ein Teil von jener Kraft, die das Böse will und das Gute schafft.
(Quelle: Nr. 14, S. 80ff)
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Anmerkungen der Redaktion:
1 F. Freud, Warum Krieg? Brief an Albert Einstein, Werke Bd. XVI, S. 21f
2 permissiv: die Einhaltung bestimmter Verhaltensnormen nur locker kontrollierend
3 S. Stojanvic, Kritik und Zukunft des Sozialismus, München 1970, S. 182
4 H.v. Hentig, Terror. Zur Psychologie der Machtergreifung, Ffm/Berlin 1970, S. 122
5 K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: K. Marx, Die Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut, Stuttgart 1953, S. 233
6 Zit. n. F.J. Raddatz, Karl Marx. Eine politische Biographie, Hamburg 1975, S. 417
7 M. Bakunin, Staatlichkeit und Anarchie, Berlin 1972, S. 234
8 Kabbala: jüdische Geheimlehre, die ihren Höhepunkt im Mittelalter hatte
9 A. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, 3. Bd., 1957, S. 310
10 Zit. nach B.D. Wolfe, Marx und die Marxisten, Berlin (West) 1968, S.324
11 Vgl. C. Schmitt, Theorie des Partisanen, Berlin 1963
12 B. de Jouvenel, Reine Theorie der Politik, Neuwied-Berlin 1967, S.215
13 ingeniös: scharfsinnig, erfinderisch
14 M. Weber, Ges.politische Schriften, Tübingen 1958, S. 536f
15 Mimikry: der Täuschung dienende Anpassung
16 M. Weber, Politik als Beruf, Berlin 1964, S. 60
17 E. Topitsch, Dr. phil., Professor für Philosophie und Soziologie, 1977 an der Universität zu Graz