Christian:
Es geht hier noch mal um '77, dazu einmal um den politischen Begriff der ersten Phase des bewaffneten Kampfes, in der diese Angriffe liefen, weiter darum, wie sich aus dieser Auseinandersetzung neue Bedingungen revolutionärer Politik entwickelt haben, und außerdem um ein paar Tatsachen dazu, was nach der Gefangennahme von Schleyer und der Forderung nach Austausch der Gefangenen gelaufen ist.
Nach den Verhaftungen '72 und nach der Aktion in Stockholm hatte der sozialdemokratische Staat jedesmal noch seine Bewältigungsversuche auf die Hoffnung ausgerichtet, diese vollständige Negation des Kapitalsystems durch die Guerilla und den Bruch, den sie aufriß, wieder zuzuschmieren. Es sollte eine Episode bleiben, die an ein paar Typen hängt, historisch gebunden an die Aktualität des Vietnam-Kriegs und vielleicht dem alten, sterilen Antifaschismus zum Fraß vorgeworfen - wie es die neueste Variante des Verrats will -, damit die Möglichkeit zu revolutionärem Kampf hier keine Orientierung wird. Wir sind '76 an dem Ziel zusammengekommen, das Guerilla-Projekt zu vertiefen und dem politisch bestimmten Bruch in der Metropole durch die Fortsetzung des Kampfs Kontinuität zu geben; diesen Bruch unumkehrbar zu machen, weil er die Bedingung dafür ist, den revolutionären Prozeß in Gang zu setzen. Dieses Ziel der Neuformierung der Guerilla '77 haben wir mit dem Kampf um die Gefangenen verbunden ...
Anfang '77 war hier die Frage, ob es weiter nach vorne oder wieder zurückgeht. Jeder, der sich damals nach der militärischen Lösung gegen das Kommando in Stockholm für den Kampf in der Guerilla entschied, hat sich daran entschieden, nicht zuzulassen, daß die Möglichkeit von revolutionärer Strategie im geschichtlichen Prozeß der Metropolenstaaten wieder zugeschüttet wird. Es war die Entscheidung gegen die strategische Absicht der Sozialdemokratie, die vernichten wollte, was hochgekommen war, durch Entpolitisierung, Hetze und repressiven Normalzustand mit den ganzen Potenzen von Massenkontrolle und modernem Faschismus. Brandt sagte, die Counterstrategie müsse wieder die "Immunisierung der Gesellschaft" bringen, ein Begriff, der für Sozialdemokratismus steht wie kaum ein anderer. Dabei war der SPD das wichtigste, was die US-Counterstrategen ihr zur Umkehrung der Entwicklung nahegelegt hatten: die Stammheimer Gefangenen so tief es geht zu vergraben, aber der offen liquidatorische Zug des Staates für dieses Ziel bestimmte dann das Tempo und die Schärfe, in der sich die Guerilla neu organisierte und die Offensive entwickelte.
Der Kampf um die Gefangenen hatte den politischen Zweck in sich. Es entstand daraus die Auseinandersetzung, in der sowohl die Bedingungen, unter denen hier eine Politik des Bruchs steht, als auch das Niveau, das sie erreichen kann, deutlich wurden. Gleichzeitig wurde '77 zum Schnittpunkt, an dem der Guerillakampf seine erste Phase beendete und dabei den politischen Zweck dieser Phase, den Bruch in der Metropole, durchsetzte.
Die Gefangennahme von Schleyer konfrontierte den BRD-Staat mit seinem Legitimationsproblem - durch diesen Funktionär des 3. Reichs und seines Nachfolgestaats, dessen Herrschaftsgrundlage lediglich von außen erbeutet und nach innen erzwungen wurde. Die Aktion konfrontierte die Bundesregierung mit diesem Legitimationsproblem weiter, weil die Lösung Verhandlungen erfordert hätte, mit denen ein System, das gegen die historische Reife zur Umwälzung politisch mit dem Rücken zur Wand steht, seinen Antagonisten offen anerkennen würde. Und die Aktion konfrontierte die Bundesregierung mit dem antifaschistischen Gefälle in Westeuropa, das nicht nur aus der Geschichte existiert, sondern sich in der Durchdringung Westeuropas mit dem neuen Machtanspruch der BRD reproduziert. Schmidt sagte im Bundestag: "Die Hoffnung, die Erinnerung an Auschwitz und Oradour werde im Ausland absinken, wird sich nicht erfüllen. Wenn bei uns Terroristen erschossen werden ... so werden uns Fragen gestellt, die andere Nationen nicht aushalten müssen."
Aber tatsächlich klappte der alte Antifaschismus ohne Widerstand zusammen. Hier, weil er von einer Linken getragen wird, die seit dreißig Jahren auf Strauß wartet, um Faschismus schreien zu können, und heute nicht tickt, daß alles, was die CDU auf die Beine bringt, das ist, was sie von der SPD gelernt hat. Und im westeuropäischen Ausland verlor der alte Antifaschismus seine Kraft in dem Maß, wie er zu den aufkommenden revolutionären Kämpfen im eigenen Land und zu ihrer Verallgemeinerung in Westeuropa Stellung nehmen mußte. Dieses Kräfteverhältnis, also die Schwäche des Alten und weil das Neue, das aus antiimperialistischem Widerstand entsteht, noch nicht da war, war die Grundlage dafür, daß sich die staatliche Sinngebung - "Zivilisation oder Barbarei", Superkriminalität - für den Krieg gegen den inneren Feind und die militärische Lösung der Aktion durchsetzen konnte. Entlang Schmidts Parole, zumindest für diese Wochen und erzwungen: Es dürfe in der Gesellschaft erst gar nicht zu einer Auseinandersetzung mit der Politik der Guerilla kommen.
Weil die Sozialdemokratie historisch aus dem Verrat an der Arbeiterbewegung kommt, ist ihr Gespür für das grundsätzliche Legitimationsproblem des Kapitalsystems besonders ausgeprägt. Das hat sich auch in den Auseinandersetzungen im Krisenstab abgebildet. Die SPD wollte auf der Basis von Ausnahmezustand handeln, ohne ihn zu propagieren. Wehner forderte, man solle aufhören, öffentlich von Staatskrise zu reden. Die CDU/CSU war drauf, diese Linie zu verlassen, z.B. im Vorschlag der CSU, die Gefangenen freizulassen, anschließend den Notstand auszurufen und alles, was sich daran mobilisiert, mit dem Instrumentarium des Notstands wieder niederzumachen. Oder Rebmanns Idee, gefangene Guerillas nach Standrecht zu erschießen. Gegen den traditionellen Faschismus setzte Schmidt auf die Effektivität des institutionalisierten. Auch er wollte die Gefangenen als Geiseln, aber gesetzlich geregelt durch das Kontaktsperregesetz. Auch er wollte die militärische Lösung gegen die Aktion, aber mit der Verpolizeilichung des Krieges und dem dazugehörigen ideologischen Überbau. Das Ziel war das gleiche. Dabei konzentrierte sich alles auf die Gefangenen, weil das Kommando der Guerilla nicht erreichbar war.
Am 8.9.77 läßt der Krisenstab "Die Welt" fordern, Rebmanns Vorstellung durchzuführen. Am 10.9. veröffentlicht die "SZ" die gleiche Sache als Diskussion der CSU-Landesgruppe, die die Erschießung der Gefangenen in halbstündigem Abstand wollte, bis Schleyer freigelassen wird. Einen Tag später fordert der "Frühschoppen" die Einführung der blutigen Folter, weil damit in Lateinamerika die Guerillagruppen besiegt worden seien. Noch mal einen Tag später ist "Der Spiegel" die Plattform für Becher und Zimmermann aus der CSU, die den Tod der Stammheimer Gefangenen verlangen. Am 13.9. kommt dann das gleiche aus der SPD durch Heinz Kühn, nur vornehmer ausgedrückt: "Die Terroristen müssen wissen, daß die Tötung Hanns Martin Schleyers auf das Schicksal der inhaftierten Gewalttäter, die sie mit ihrer schändlichen Tat befreien wollen, schwer zurückschlagen müßte." Nachdem die Vor- und Nachteile der Todesstrafe von katholischer Kirche bis "Stern" diskutiert wurden, fordert Strauß in der "SZ" das Pogrom gegen die Gefangenen, denn "dann bräuchten die Polizei und Justiz sich nicht mehr darum zu kümmern". Am 16.10. drückt das BKA noch mal die Linie der psychologischen Kriegsführung in alle gleichgeschalteten Medien, nach der die Aktion aus dem 7. Stock gesteuert würde. Am Tag darauf baut "Der Spiegel" mit Staatsschutzmaterial Andreas zum Drahtzieher der Aktion auf, und das mit Material, das für jeden Journalisten leicht als manipuliert erkennbar war. Am selben Abend fordert Golo Mann in "Panorama", die Gefangenen als Geiseln zu erschießen. Das war ausschnittsweise die öffentliche Dramaturgie des Krisenmanagements, die propagandistische Vorbereitung. Das Bindeglied zwischen der öffentlich lancierten Linie und den operativen Möglichkeiten im Vakuum der Kontaktsperre war Rebmann.
Die Entscheidung der Bundesregierung für die harte Haltung erklärt sich vor allem aus dem Zusammentreffen dieser Aktion mit der globalen Rekonstruktion der imperialistischen Politik für einen neuen konterrevolutionären Aufschwung und aus der Funktion der BRD darin, die Führung der reaktionären Formierung Westeuropas für einen kontinentalen Polizeistaat zu übernehmen. Deshalb wurde es für die Bundesregierung auch um den Preis des Zusammenbruchs der alten sozialdemokratischen Ideologie und Politik zwingend, die aufsteigende Entwicklung revolutionären Kampfs im westeuropäischen Machtzentrum zu verhindern. Das verband sich alles mit der Frage des Austauschs. Scheel sagte auf dem Staatsbegräbnis: Wenn die Flamme nicht rechtzeitig erstickt werde, werde sie sich wie ein Flächenbrand über die ganze Welt ausbreiten, und die Freilassung der Gefangenen wäre der Beginn davon gewesen. Für uns bedeutete das, daß wir um die neuen Möglichkeiten, die wir für die weitere Entwicklung zusammen mit diesen Gefangenen gesehen haben, in den Jahren danach auf der Basis einer Niederlage kämpfen mußten.
Die Voraussetzung für die Bundesregierung, die Entscheidung gegen den Austausch durchzusetzen, war die Mobilisierung aller Möglichkeiten des institutionellen Faschismus, der Putsch des BKA auf die Ebene der Politik - kurz, die Umwandlung der politischen Situation in eine militärische. Dazu gehörte die Manipulation von Parlament und Bundesverfassungsgericht genauso wie die Gleichschaltung der Medien zur Produktion einer offiziellen Öffentlichkeit und die Nachrichtensperre, die begründet wurde als Schutz für Schleyer, wozu der allerdings auf dem Video-Band vom 14.9. selbst meinte, daß er sich eben der Öffentlichkeit in dieser Situation zu seinem eigenen Schutz mitteilen möchte. Nachdem der Krisenstab sich gegen ihn entschieden hatte, ging es ihm vor allem darum, Verhandlungen zu verhindern und eine öffentliche Diskussion zu verhindern, die in der Lage sein könnte, gegen diese Lösung zu stehen. Immerhin gab es auch nach fünf Wochen pausenloser Hetze laut einer Umfrage in der Öffentlichkeit noch genauso viele Stimmen für den Austausch wie dagegen. Es durfte aber eben nur eine, die Nato-Lösung, aus der Krise geben, und das auch schnell, um den Zustand, daß die Bundesregierung nicht mehr handlungsfähig ist, zu beenden. Dem Krisenstab dieses Monopol zu sichern, war - neben dem Ziel, Rebmann alle Möglichkeiten zu geben - der Zweck der Kontaktsperre. Sie schützte nie Schleyer, sondern nur die Pläne des Krisenstabs.
'77 sind Inhalt und Form des BRD-Staats identisch geworden. Der politische Inhalt: Nazi-Nachfolgestaat und antikommunistisches Bollwerk im Rahmen der Nato. Die Form: der diktatorische Kern der Nato-Demokratie, der Staatsschutzstaat, der Staat, der die Menschen vernichtet, um sich vor ihnen zu schützen. Insofern ohne jede Vermittlung das Konzentrat der Struktur des Gebildes BRD, die von Anfang an proletarische Politik auf autonome, d.h. illegale Organisierung und bewaffneten Kampf verwiesen hat. Aber eben nicht die Struktur der alten Form, sondern der Faschismus hatte sich umgewälzt. Die SPD war mit seiner Institutionalisierung schon so weit, daß der offiziell verkündete Notstand zu einer altmodischen Kategorie wurde, entsprechend wie '75 in Stammheim eben nicht Hochverrat angeklagt wurde, weil das noch zuviel politische Substanz widergespiegelt hätte. Brandt sagte '74: "Seit die sozialliberale Koalition in Bonn regiert, sind die wesentlichen Voraussetzungen geschaffen, um den Staat auch im Innern zu sichern." Und er bezog sich dabei neben der Verrechtlichung der Counter-Insurgency auch auf diese Programmatik, die sein Parteigänger Herold schon 1968 entworfen hatte: den Faschismus im Zeitalter der Automation und Datenverarbeitung, der institutionellen Durchdringung der Gesellschaft - um sie zu paralysieren. Der Faschismus, der keine Massenmobilisierung, keine ideologisierten Faschisten mehr braucht, sondern nur noch den Funktionär und Technokraten im Dienst des imperialistischen Staates. In der Situation des Ernstfalls '77 wurde das ganze Potential mobilisiert. An die Stelle der Fiktion von Gewaltenteilung und parlamentarischer Politikbildung trat der Maßnahmestaat, in dem die wirklichen Machtstrukturen sichtbar werden und in dem die polizeilichen und militärischen Apparate über das Monopol der Analyse, dem "Erkenntnisprivileg" (Herold), die Politik strukturieren.
Der spektakuläre Teil der Krisenstruktur, also Krisenkabinett usw., wurde zwar nach der militärischen Lösung der Situation wieder aufgehoben, aber trotzdem war dieser Aufmarsch des Staats nicht nur eine repressive Konjunktur als Reaktion auf eine besonders zugespitzte Offensive der Guerilla. Sondern es ist das gelaufen, was Marighela schon aus der Erfahrung der Stadtguerilla in Lateinamerika herleitete. Daß der Staat gegen Widerstand, der ihn grundsätzlich in Frage stellt, die politische Situation in eine militärische verwandelt. Es ist das, was heute in internationalem Ausmaß die Situation ist. In dem Maß, wie der Imperialismus die Fähigkeit zu politischen Lösungen verliert, militarisiert sich seine Strategie. Nach innen, in die Gesellschaft rein, bedeutet das, daß der Staatsschutz, seine Zentren, seine Sonderabteilungen, seine psychologischen Kampagnen usw. zur tragenden Säule der Herrschaft werden. Damit verändert sich aber auch die Staatsideologie, und anstelle des Projekts des "inneren Friedens", für das die Sozialdemokratie im besonderen angetreten war, tritt die offensive Propagierung der Vernichtung aller politischen Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Antagonismus. Der Staat bestätigt den Bruch, um den die Guerilla hier als erstes gekämpft hat. Vogel beklagt Ende Oktober '77 die "irreparablen Brüche", weil das genau ihre Niederlage ist, denn ihre innen- und außenpolitische Selbstdarstellung wurde dabei in die Zersetzung getrieben und mit der Zersetzung der Ideologie die Möglichkeit für die Linke aufgemacht, von den Tatsachen auszugehen.
Diese Veränderung kam nicht allein aus '77. Sie kam als Prozeß, der sich aus den ersten Angriffen der RAF, an den Streiks der Gefangenen und dann noch über '77 raus entwickelte und sich an der Kontinuität des Kampfs entschieden hat. Dazu waren die Aktionen im Herbst '81 besonders wichtig. Es gab nach '77 und gibt bis heute immer wieder den Versuch, den entstandenen Bruch wieder zuzuschütten. Nachdem sich der alte staatskritische Liberalismus und Antifaschismus '77 desavouierte, hat diese Aufgabe heute eine neue staatstragende Linke, die ihren Standort "zwischen Guerilla und Staat" definierte und sich inzwischen den Parlamentarismus zu eigen macht. Aber diese Linke hat strategisch kein Gewicht. Nicht nur, weil der objektive Spielraum für Reformismus durch die politisch-ökonomische Krise noch geringer ist als Anfang der siebziger Jahre. Sondern weil hier ein Widerstand lebendig geworden ist, der damit nicht mehr zu erreichen ist, dessen Politisierung schon trägt, der den Zusammenstoß '77 begriffen hat und sich in den Bedingungen, die der Staat jeder grundsätzlichen Opposition gesetzt hat, zurechtfindet. Dieser Widerstand gründet gerade auf dem Selbstbewußtsein, daß der Reformismus hier nicht an der Grenze der Ökonomie aufgelaufen ist, sondern an der politischen Grenze, die ihm durch die revolutionäre Aktion gesetzt wurde.
Der Bruch in den Metropolen bleibt unumkehrbar. Von diesen in einem knappen Jahrzehnt veränderten Verhältnissen spricht auch Kissinger, dessen Parole im Zusammenhang mit dem Zweck der SPD '76 noch die "Idee des inneren Friedens" war und der Anfang '84 feststellte:
"Auf beiden Seiten des Atlantik sehen wir uns bedroht durch die Vorherrschaft der Innenpolitik über die weltweite Strategie." Das ist sein Reflex auf die Tatsache, daß der Imperialismus mit seinem globalen Projekt zur Verewigung des Kapitalsystems nicht mehr nur an die Grenze der Befreiungskämpfe im Süden stößt, sondern auch an die Front in seinem Inneren gefesselt wird.
Brigitte:
... Front in der Metropole ist internationalistisch aus ihrem Ziel:
Befreiung - soziale Revolution
und antiimperialistisch aus dem Begriff der Machtverhältnisse, deren Antagonist sie ist.
Die RAF hat ihren Angriff auf den beiden Linien Krieg entwikkelt: gegen die innere Machtstruktur, den imperialistischen Staat, und gegen die Klammer des Ganzen, den US-Militärapparat. Das war die grundlegende Erfahrung für uns, mit der wir angefangen haben: daß sich der revolutionäre Prozeß als antagonistische Kraft nur durchsetzen kann, wenn wir von der Einheit des imperialistischen Systems ausgehen und daraus unser eigenes strategisches Ziel bestimmen - die soziale Revolution als Weltrevolution. Denn solange das System nicht als Ganzes zerstört ist, kann sie sich an keinem Abschnitt nach ihren Bedürfnissen und Zielen entfalten. In den Metropolen selbst sowieso nicht. Hier zieht niemand ab.
Wir wollen das an '77 konkretisieren, weil es auch der Einschnitt war, an dem beide Linien praktisch in eine zusammengefallen sind und ihre strategische Identität sich direkt vermittelt hat. Zusammengekommen sind sie darin, daß die Machtfrage, die die Aktion dem BRD-Staat gestellt hatte, die Reaktion des Systems als Ganzes mobilisiert und erfordert hat. Sie haben damals zum erstenmal offen in der Dimension internationaler Klassenkrieg gehandelt und entschieden, weil mit diesem Staat gleichzeitig seine Funktion im imperialistischen Gesamtprojekt angegriffen war: hier in Westeuropa die Bedingungen für ihre globale Offensive durchzusetzen - und weil sie Aktionen auf der Ebene auch nur noch als Gesamtsystem auffangen können.
Sie haben als Bündnis gegen den Austausch entschieden, weil es um eine strategische Entscheidung ging, an der die Grundlage ihres militärischen Projekts hing: ob sie es hier durchbringen oder nicht. Es ging ihnen drum, die erste Stufe der Vereinheitlichung, die bis '77 in Westeuropa gelaufen war - polizeiliche Integration und Zentralisierung der Counterinsurgency - unbedingt zu halten, weil sie die innere Voraussetzung für die zweite war: Aufrüstung und Formierung der westeuropäischen Staaten zum Kriegszentrum.
Ein Sieg der Guerilla in der BRD, dem Land, das diesen Prozeß geführt und vorangetrieben hat, hätte das grundsätzlich in Frage gestellt. Er hätte das Kräfteverhältnis hier und insgesamt verändert. So hat Schmidt auch den Moment, wo der neue Metropolenfaschismus sich nach innen und außen präsentierte, ausgenutzt, auf die nächste Stufe anzusetzen. Am 28.10., zehn Tage nach Stammheim und Mogadischu, fordert er in London, die "Raketenlücke" zu schließen und die neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu stationieren.
Also aus der Gesamtsituation die Härte der Konfrontation '77 und ihre Dimension: die Koordinierung sämtlicher Schritte mit Carter, Giscard und Callaghan, worüber Schmidt nachher jedes Wort aus der offiziellen Dokumentation der Bundesregierung herausgestrichen hat; der Krisenstab im amerikanischen Außenministerium, der wie der in Bonn während der ganzen Zeit im Einsatz war; der Druck auf die Staaten, die die Gefangenen als mögliche Aufnahmeländer aufgeschrieben hatten; schließlich die integrierte imperialistische Aktion, um den GSG-Einsatz gegen das palästinensische Kommando in Mogadischu durchführen zu können.
Weil es um eine strategische Entscheidung auf der Ebene Gesamtsystem ging, war darin auch das Interesse der westdeutschen Wirtschaft, einen der Ihren wenn möglich wiederzubekommen, aufgehoben. Schmidts Job war, diese Priorität nach innen zu vermitteln, gegenüber Wirtschaft und Opposition. Seinen praktischen Ausdruck hat das darin gehabt, daß er Zahn und Brauchitsch (1) in den Krisenstab geholt hat, wo sie in die unmittelbare Entscheidungsebene einbezogen waren. Als solche konzertierte Aktion lief dann auch die Strauß-Reise nach Saudi-Arabien, wo er den Saudis offensichtlich Flicks Leopard versprochen hat, damit sie in Somalia ihre Beziehungen einsetzen. Somalia war ja das Land, das zu dem Zeitpunkt schon öffentlich die Aufnahme der Gefangenen zugesagt und Wischnewskis Lügen dementiert hatte. Erst als die Saudis viel später nachgefragt haben, wo der Leopard nun bleibt, und weder Schmidt noch Kohl sich damit gegen die pro-israelische Lobby im Bundestag durchsetzen konnten, kam das raus. Schleyer hat natürlich voll auf Brauchitsch gesetzt, wie seine Briefe zeigen. Das ist auch klar, nachdem mehr oder weniger alle wichtigeren Bonner Figuren am politischen Netz dieses Konzerns hingen, was er wußte. In der Situation waren das allerdings sekundäre Linien geworden, und so blieb das Engagement der Wirtschaft für ihn auch von vornherein ein Scheinengagement.
Daß in der Phase, in der wir jetzt sind, nicht mehr das Interesse einzelner Fraktionen, sondern das imperialistische Gesamtinteresse entscheidet, hat Friderichs, Pontos Nachfolger, deutlich gesagt: "Ein Problem wird es erst, wenn es an die Substanz geht" - also wenn nicht nur einer oder zwei ihrer wichtigsten Leute ein Loch reißen, sondern wenn das Funktionieren ihrer innersten Machtstruktur gefährdet ist. Weil davon die ganze Maschine berührt wird.
Genauso Schmidt vor dem Bundestag: "Wenn wir in diese Lage kämen, Sie, Herr Kohl, oder ich, würde jeder hier im Hause wissen, daß wir zu dem gleichen Opfer verurteilt wären." Schmidt hat ja auch gesagt: Das wird Normen setzen - und tatsächlich ist nach '77 kein Nato-Staat mehr hinter diese Linie zurückgegangen. Sie ist, nachdem Kissinger sie schon '74 angegeben hatte, mit '77 für Westeuropa zur Doktrin geworden. Mit Stärke hat das nichts zu tun. Die ganze harte Linie kommt aus der Notwendigkeit, mit allen Mitteln einen revolutionären Durchbruch in den Metropolen zu verhindern, und gegen diese Möglichkeit halten sie auch den offenen Ausnahmezustand gegen die Guerilla wie '77 hier, '78 und '82 in Italien zumindest kurzfristig für das kleinere Übel. Nicht die Freilassung der Gefangenen ist das wirkliche Problem, sondern daß mit ihr die Anerkennung des revolutionären Prozesses in der Metropole als politische Tatsache verbunden ist. Kuppermann, der bei der US-Abrüstungsbehörde Berater für Notstandsplanung und Terrorbekämpfung ist, hat das auf einer Anti-T-Konferenz in Hamburg kurz nach der Schleyer-Aktion so gesagt: "Was die Frage von Verhandlungen angeht und wie das auf einer politischen Ebene erfolgen kann, meine ich, daß wir zumindest in strategischer Hinsicht außerordentlich hart sein müssen. Regierungen können es sich nicht leisten, ihre Souveränität an einen Schwarm Bienen zu verlieren, denn das sind die Terroristen im Vergleich mit dem bewaffneten Staat."
Das ist aber auch alles relativ, weil es immer von den konkreten Bedingungen abhängt, also von der Relevanz einer Aktion und auch von ihrer Dauer: was ihr Angriff mobilisieren kann, welche Friktionen und langfristigen politischen Wirkungen er auslöst. Das Entscheidende an einer Aktion, die mit dem militärischen Angriff nicht abgeschlossen ist, sondern erst anfängt und aus ihm die Machtfrage entwickelt, ist auf der neuen Stufe, die damit aufgemacht wird, handlungsfähig zu sein. Also die nächsten Schritte schon aus der neuen politischen Qualität zu bestimmen - was nicht im militärischen Sinn gemeint ist, sondern insgesamt als Antizipation einer neuen Phase, und so kann auch nur der militärische Angriff politische Kraft haben. Das ist die wichtigste Erfahrung aus der Schleyer-Aktion für uns gewesen.
Weil die Militärstrategie zum Angelpunkt geworden ist, ist auch die Politik gestorben - bzw. darin kommt sie auf ihren "reinen Begriff". Stümper (2) sagt das schon: Sicherheitspolitik ist zur Existenzpolitik geworden für die imperialistischen Staaten. Die Form, die diese Existenzpolitik nach innen annimmt, ist der Staatsschutzstaat, und zwar als präventive Reaktion auf die globale Zuspitzung zwischen Imperialismus und Revolution, von der sie ausgehen - gegen die "nationalen und weltweiten Kämpfe in diesem Jahrzehnt" (Boge, 3), "den epochalen Umbruch" (Stümper), gegen die Perspektive eines "internationalen Bürgerkriegs" (Geißler).
Gegen den Horizont der Weltrevolution stellen sie ihr Konzept des reaktionären Weltstaats auf. Wenn Maihofer schon vor Jahren von der Weltinnenpolitik und der Weltgesellschaft geredet hat, in der es nur noch Kriminelle und keine Revolutionäre mehr gibt, und Rebmann vom kommenden Weltrecht spricht, wo er dann auch endlich zuständig für die Verfolgung der Befreiungsbewegungen ist, dann ist das nicht nur ihre Projektion vom tausendjährigen imperialistischen Reich, sondern hat auch einen knallharten und realen Boden. Westeuropäischer Rechtsraum, europäisches BKA, Nato-Außenpolitik "mit einer Stimme" sind die Beine, auf denen das laufen soll. Es ist Teil und Funktion der ganzen Offensive, deren Spitze die Militärstrategie ist.
Das ist auch das Elend der Reformisten: Sie bringen den imperialistischen Krieg auf die Ebene von Wahnsinn und Irrationalismus, um ihn auf eine unbegreifliche und unwirkliche Apokalypse runter zu entpolitisieren, weil sie zwar ihn nicht wollen, aber - um selbst nicht weggeblasen zu werden - noch viel weniger den Kampf dagegen. Irrational ist da gar nichts. Er hat das eine, elementare und präzise Ziel, weltweit den Antagonismus zu vernichten, um selbst zu überleben. Und ob das irreal ist, kann auch nur der Kampf beantworten. Er ist jedenfalls offen, und genau da bewegt sich die Auseinandersetzung jetzt.
Die Guerilla in Westeuropa hat in diesem Krieg gleichzeitig besonders komplexe strategische Möglichkeiten und besonders schwierige Bedingungen. Eine ungeheure Konzentration militärischer Präsenz und militärischer Mittel, einen hochgerüsteten Polizeiapparat, der sich über die ganze Gesellschaft zu stülpen versucht, integrierte Medien usw., und sie kämpft aus einer Geschichte von großen Opfern und Niederlagen in allen revolutionären Kämpfen, weil das Proletariat hier schon immer mit zwei Sorten Feind konfrontiert war: mit der Konterrevolution, Krieg, Faschismus und den differenzierten Methoden, Sozialdemokratie, Konsum, Staat. Aus dem Nichts kommt sie deswegen nicht, sondern genau aus dieser Geschichte und Erfahrung Metropole hat sie eine Schule, die ihr alles beigebracht hat, was sie wissen und kennen muß, um der Antagonist sein zu können.
Die Guerillagruppen in Westeuropa haben ihren Kampf unter verschiedenen Bedingungen angefangen und mit unterschiedlichen Vorstellungen. In den 15 Jahren hat er sich aufeinander zubewegt. Als praktischer Lernprozeß aus der Entwicklung und voneinander. "Die Identität in der Differenz" hat Jan das mal genannt, und das ist jetzt, wenn wir diese Phase als die zweite für die Metropolenguerilla bezeichnen wollen, die Metropolenstrategie als westeuropäische Strategie zu fassen und in jedem Schritt darauf zuzugehen.
(Quelle: Manuskript)
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