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70 / 20 Jahre Rote Hilfe
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Die Idee, Kinderheime für die Familien der Opfer politischer Verfolgung zu errichten, entstand schon sehr früh. Schon beim
sogenannten Spartakusaufstand 1919 in Berlin kamen zahlreiche Frauen mit ihren Kindern in Existenznot, weil viele revolutionäre
ArbeiterInnen gefallen oder inhaftiert waren. Doch nicht nur infolge von ArbeiterInnenaufständen, wie z.B. beim Mitteldeutschen
Aufstand von 1921, wurden Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen gemacht. Die Verfolgung und Verhaftung von ArbeiterInnen,
insbesondere die von politisch organisierten, war in dieser Zeit keine Seltenheit. Da in einer Arbeiterfamilie zu dieser Zeit mehrere
Kinder lebten, und die Lebensbedingungen aufgrund der fortschreitenden Verelendung der arbeitenden Bevölkerung immer schlechter
wurden, herrschten für die Familien von Inhaftierten oder ermordeten ArbeiterInnen elende Bedingungen. An dieser Stelle sei
stellvertretend ein Bericht zitiert, der von der RHD aufgenommen wurde. Die Rote Hilfe sammelte Berichte dieser Art und
veröffentlichte diese auch in ihren Broschüren: »wie mein Vater erschossen wurde Ich bin aus München. Mit meiner Mutter sind wir
zu Haus vier Personen. Mein Vater ist schon fünf Jahre tot. Es geht uns nicht gut. Oft müssen wir zu Mittag schwarzen Kaffee trinken,
sonst bekommen wir gar nichts, sonst müssen wir verhungern. Mein Vater haben Weißgardisten erschossen.
Das kam so: Er hatte gerade Kaffee getrunken, da kam mein Onkel und sagte: Nun komm, wir müssen endlich gehen. Bleib doch
da, sagte meine Mutter, sonst kommst Du nicht wieder. Mein Vater ging aber doch fort und sagte: Ich komme schon wieder nach
Hause. Er ist aber nimmer wieder gekommen. Die Weißgardisten haben ihn gefangen und gefesselt. Dann haben sie gleich auf ihn
geschossen. Auch meinen Onkel haben sie erschossen. Sie haben Vater und Onkel auch die Uhren und Sachen fortgenommen.«
Sophie Beringer,
München (11 Jahre)[1]
Staatliche Hilfe hatten die Angehörigen politisch verfolgter Personen nicht zu erwarten, obwohl es in der Weimarer Republik
gesetzliche Grundlagen für die Unterstützung von Witwen und Waisen gab. In der Regel wurden Anträge auf materielle Hilfe von den
Behörden mit der Begründung abgelehnt, der Betroffene habe seinen Tod oder seine Verhaftung »selbst
verschuldet«.[2]
Belastend war für die Kinder in Familien politisch Verfolgter auch der psychische Terror, dem sie durch immer wieder
stattfindende behördliche Eingriffe ausgesetzt waren. Frau Giffey, die Tochter von Fiete Schulz, der 1923 maßgeblich an der
Organisation und Durchführung des Hamburger Aufstandes beteiligt war, erzählte, daß es oft Hausdurchsuchungen gab. Die
Sicherheitspolizei suchte ihren untergetauchten Vater.[3]
»Die Polizei hat unsere Einrichtung kaputtgeschlagen und die Betten aufgeschlitzt. Meine Mutter hat gezittert und geweint, und ich
war wütend(). Nachbarn haben dann geholfen, die Wohnung wieder in Ordnug zu bringen.(..) immer wieder hat die Polizei mich vor
der Schule aufgelauert, immer wollten sie wissen, wo mein Vater war. Mal haben sie mich geschlagen, mal haben sie mir Schokolade
gegeben. Aber ich habe nichts erzählt.« [4]
Vielen Familien, in denen ein Elternteil, oder beide, Opfer politischer Kämpfe wurden, gewährte die Rote Hilfe Geld- und
Sachleistungen.
Als eine der ersten Maßnahmen ihrer Solidaritätsarbeit errichtete die Rote Hilfe Deutschland Kinderheime, den Barkenhoff in
Worpswede bei Bremen und das Arbeiterkinderheim MOPR in
Elgersburg/Thüringen.[5]
Der Name MOPR ist die Abkürzung für die sowjetische Sektion der Roten Hilfe. Die MOPR hatte schon gute Erfahrungen in
Sowjetrußland mit Kinderheimen gemacht. Diese Heime spielten später für Kinder der Verfolgten des Hitlerfaschismus eine große
Rolle.[6]
Auf dem Barkenhoff trafen im Sommer 1923 die ersten Kinder ein, 1925 wurde das Haus in Elgersburg für das MOPR-
Kinderheim durch die Rote Hilfe erworben. Für den Erwerb beider Kinderheime fungierte jeweils ein bürgerlich getarnter Verein mit
dem Namen Quieta Erholungsstätten GmbH, der als Träger bei den Behörden keinen Verdacht erregte. Die Rote Hilfe konnte somit
die Häuser relativ problemlos erwerben. [7]
Ziel war es, so vielen Kindern wie möglich den Aufenthalt in diesen Erholungsheimen zu ermöglichen. Natürlich konnten diese
zwei Heime nicht den gesamten Bedarf an Erholungsmöglichkeit für ArbeiterInnenkinder abdecken. Vorrangig Kinder, deren Eltern
Opfer politischer Verfolgung wurden, und die eine Erholung am dringensten benötigten, kamen in die Kinderheime.
Bevor die Rote Hilfe den Barkenhoff am 23. Dezember 1924 käuflich durch ihren Tarnverein erwarb, diente der Barkenhoff
einem Projekt mit dem Namen Arbeitsschule, das von Heinrich Vogeler und einem sozialistischen Kollektiv von MitarbeiterInnen
geführt wurde. Vogeler hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine sozialistische Erziehung zu praktizieren, die den Anfang für eine
sozialistische Gesellschaft bilden sollte.[8]
Schon von Anfang an stand der Barkenhoff im Kreuzfeuer behördlicher und ministerialler Kriminalisierungsversuche. Der
zuständige Landrat Becker aus Osterholz verfaßte im Juli 1921 einen Bericht, in dem er sich gegen die Anerkennung dieser
staatsfeindlichen Kommune aussprach. Im August 1921 verweigerte eben jenes Ministerium die Anerkennung der Arbeitsschule. Die
Arbeitsschule kämpfte während der nächsten Jahre um ihren Erhalt, allerdings mit mäßigen Erfolg. Schließlich beschloß Heinrich
Vogeler, die Rote Hilfe Deutschland um Hilfe zu bitten, zumal sich die ArbeitInnenschule im Frühjahr 1923 in finanziellen
Schwierigkeiten befand. Noch im Frühjahr 1923 wurde Vogeler passives Mitglied in der Roten Hilfe und vereinbarte mit ihr
Kindersendungen für den Barkenhoff. Wie erwähnt, erwarb die Rote Hilfe den Barkenhoff im Dezember 24 vollständig. Der Verkauf
vollzog sich nicht reibunglos, da die Kommunenmitglieder der Arbeitsschule an ihrer Idee festhielten und deshalb gegen die
vollständige Übernahme des Barkenhoffs durch die Rote Hilfe waren.
Die MitarbeiterInnen der Arbeitsschule hätten lieber einen feste Gruppe von Kindern auf dem Barkenhoff gehabt, als die immer
nur für eine begrenzte Zeit auf dem Barkenhoff bleibende Gruppen. Daß der Barkenhoff letzten Endes vollständig an die Rote Hilfe
ging, lag daran, daß die Arbeitsschule vor dem finanziellen Aus stand, und Heinrich Vogeler inzwischen überzeugter Kommunist
geworden war. Vogeler lebte einige Zeit in der Sowjetunion und machte dort positive Erfahrungen, die ihn nachhaltig beeinflußten. Im
Oktober 1924 wurde Vogeler Mitglied der KPD. Er übertrug das Haus der Roten Hilfe. Die Rote Hilfe bekam das nötige Geld für den
Kauf des Barkenhoffs von amerikanischen Genossen zugeschossen.[9]
Der Alltag auf dem Barkenhoff
Die Kinder blieben für eine Zeit von 68 Wochen auf dem Barkenhoff, meist in 40er Gruppen. Die Kinder kamen aus ganz
Deutschland. Doch auch aus den anderen Ländern, in denen der Klassenterror wütete, kamen Kinder. 1927 kam u.a. eine Kindergruppe
aus Wien, und 1930 eine Kindergruppe aus Litauen auf den Barkenhoff.
[10]
Die Hauptaufgabe bestand darin, den Kindern körperliche Erholung zusammen mit einer guten Ernährung zu gewährleisten, da die
Kinder zuhause hungerten und oft krank waren.[11]
Daneben wurde Wert auf eine sozialistische Erziehung und Bildung gelegt. Das Risiko einer Schließung durch die Behörden, die ja
auf der Lauer lagen und nach Gründen für eine Schließung des Kinderheimes suchten, mußte dabei gering gehalten werden.
Systematischer Unterricht konnte deshalb nur in der Anfangszeit des Arbeiterkinderheimes durchgeführt werden, da es
Anschuldigungen der »politischen Indoktrination« gab.
[12]
Den Kindern wurde ein abwechslungsreiches Tagesprogramm geboten. Neben Basteln, Malen und Gartenbau standen auch Gesang
und Theater auf dem Programm. Gesang und Theater wurden insbesondere für die zahlreichen Feste vorbereitet, die es auf dem
Barkenhoff gab. Der Gedanke des Arbeitskollektivs spielte eine große Rolle bei der Erziehung der Kinder, so wurden notwendige
Arbeiten zusammen in Kollektiven durchgeführt. Auf dem Barkenhoff galt das Prinzip der Selbstverwaltung. Die Kinder wählten aus
ihren eigenen Reihen einen Heimrat, der jederzeit wieder abgewählt werden konnte. Abends gab es gemeinschaftliche
Gesprächsrunden und Spiele. Das Verhältnis zwischen Kindern, ErzieherInnen und Angestellten war ausgesprochen freundschaftlich
und solidarisch. Einen Kommandoton, wie in den bürgerlichen Kinderheimen, gab es auf dem Barkenhoff nicht. Es wurden auch
gemeinsame Exkursionen zu Bauernhöfen und Fabriken durchgeführt, um die verschiedenen Produktionstechniken im Vergleich durch
Anschauung zu erleben. In Gesprächen mit Bremer ArbeiterInnen sollten die Kinder die modernen Produktionstechniken kennenlernen,
aber auch die ähnliche Situation von ArbeiterInnen in einer für sie fremden Umgebung erleben. Außerdem wurden gute Kontakte mit
den Kindern der Jungspartakisten bzw. mit dem Jungspartakusbund gepflegt. Der Jungspartakusbund übernahm viele
Patenschaften für Kindergruppen und es wurden gemeinsam Feste durchgeführt. Ziel war es, den Kindern über den kurzen Aufenthalt
hinaus eine politische Perspektive für den Kampf um eine bessere Gesellschaft zu eröffnen. Viele Kinder schlossen sich aufgrund der
positiven Erlebnisse den Jungspartakisten nach der Rückkehr in ihren Heimatort an.
[13]
Wie bereits erwähnt, kam es während der gesamten Zeit des Barkenhoffs zu Kriminalisierungsversuchen der Behörden. Aus
diesem Grund wurde im Frühjahr 1926 ein Kuratorium zum Erhalt des Barkenhoffs und des MOPR-Heimes gegründet. Diesem
Kuratorium gehörten zahlreiche Personen aus dem öffentlichen Leben an. So waren z.B. Albert Einstein, Magnus Hirschfeld, Thomas
und Heinrich Mann und Paul Oestreich Mitglieder des Kuratoriums zum Erhalt der Kinderheime der Roten Hilfe. Durch Rote-Hilfe-
Tage, die auf dem Barkenhoff durchgeführt wurden, sowie durch den Besuch von Prominenten, z.B. Henri Barbusse, wurde die
Popularität des Barkenhoffs gesteigert, so daß durch die Arbeiterkinderheime auch die Rote Hilfe bekannter wurde. Die Kinderheime
hatten somit für die proletarische Selbsthilfe einen Wert, der über die Erholungsmöglichkeit der Kinder hinausging. Für die
Kinderheime bestand eine breite, klassenübergreifende Solidarität, wie das Kuratorium bewies.
[14]
Höhepunkt der Kriminalisierungsversuche war der Bildersturm durch die Polizei. Anlaß
dieser Aktion, welche selbst von der damaligen bürgerlichen Presse kritisiert wurde, waren Wandmalereien Heinrich Vogelers, die
angeblich zur politischen Indoktrination der Kinder führen würden. Die Behörden forderten Vogeler und seine Mitarbeiter auf, die
Bilder wieder zu übermalen.
Am 18. Januar 1927 war der Bildersturm auf dem Barkenhoff Thema einer Sitzung des Preußischen Landtages. Willhelm Pieck
verurteilte in einer Rede den Bildersturm und stellte ihn als Angriff gegen die Rote Hilfe heraus. Der Konflikt endete mit einem
Kompromiß, auf Grund dessen sich Vogeler dazu verpflichtete, die Bilder teilweise zu verhängen.
[15]
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß es die Rote Hilfe verstand, durch breit angelegte Kampagnen für den Erhalt der beiden
Kinderheime zu sorgen. Insbesondere die Rote Hilfe Tage auf dem
Barkenhoff, zu denen viele Gäste
kamen, stellten Höhepunkte der Solidaritätskampagnen dar.
Die Auseinandersetzungen in der Roten Hilfe Deutschland wirkten sich auch auf den Betrieb der beiden Kinderheime aus. Im
Zusammenhang mit dem Linienstreit in der KPD traten zahlreiche GenossInnen aus der Roten Hilfe aus oder wurden von ihr
ausgeschlossen. Vogeler trat aus, nachdem er gegen den Ausschluß von Walter Schlör protestiert hatte. Die Konflikte schwächten die
Arbeit der Kinderheime.
»War schon die Einrichtung und Eröffnung des Kindererholungsheimes durch bürgerliche Politiker beargwöhnt, behindert und
verzögert worden, bedeutete 1929 ein Verbot durch die Thüringer Landesregierung das vorläufige Ende des MOPR-Heimes als
Kindererholungsstätte der Roten Hilfe. Danach nutzte die KPD das Heim bis 1931 für Schulungs- und Erholungszwecke. Nach einem
erfolgreichen Prozeß der Roten Hilfe konnte das Heim ab 1931 wieder für seinen ursprünglichen Zweck, Kindern Erholung zu bieten,
betrieben werden, wobei es in den Jahren 1931/32 rund 15 mal von der Polizei durchsucht wurde.«
[16] Die Durchsuchungen wurden
unter anderem durch den nationalsozialistischen Innen- und Volksbildungsminister W. Frick (1930-31) veranlaßt.
[17]
Sein endgültiges Ende als
Arbeiterkinderheim fand der Barkenhoff durch das Verbot der Roten
Hilfe im März 1933 durch die
Faschisten.[18]
Das internationale Kinderheim der MOPR in Iwanowo/Rußland, welches nach Jelena Stassowa
[19]
benannt wurde, arbeitete noch 1991 im gleichen Sinne der internationalen Solidarität. Dieses Heim wurde bereits am 1. Mai 1933
fertiggestellt. In den 30er und 40er Jahren bot dieses Heim vielen deutschen Emigrantenkindern ein Zuhause. So auch der Tochter von
Wilma Giffey.
»Kinder aus vielen Teilen der
Erde, aus Chile, Nicaragua, aus Angola, Zimbabwe, Mosambique, Südafrika, aus Vietnam, Afganistan und vielen anderen Ländern
leben zur Zeit in diesem Heim. In Iwanowo hat sich die Idee der Kinderhilfe der Roten Hilfe bis heute fortgesetzt.«
[20]
Fußnoten:
- Aus einer Broschüre der RHD: Helft
den Kindern von 1925 , S.8.
- ebd. S.12/13
- Siegfried Bresler in: Der Barkenhhoff, Kinderheim der Roten Hilfe 1923-1932, Worpsweder Verlag, 1991, S.21 .
- Aus dem Gesprächsprotokoll des Interviews mit Frau Wilma Giffey, am 23.9.1988 in Hamburg. Frau Giffey war 1926 im MOPR-Heim in Elgersburg. Sie
ist die Tochter von Fiete Schulz, der nach dem Hamburger Aufstand (1923) von der Polizei gesucht wurde und untertauchte, bis er 1926 in die Sowjetunion
ging. 1932 kehrte er nach Hamburg zurück, wurde 1933 von den Nazis verhaftet und 1935 von ihnen ermordet.
- Siegfried Bresler in: Der Barkenhoff, Kinderheim der Roten Hilfe 1923-1932, Worpsweder Verlag, 1991, S. 20ff.
- ebd, S. 27
- ebd, S. 26
- ebd., S. 29
- ebd., S.40ff
- ebd, S. 24.
- Helft den Kindern /Kuratorium
für d. Kinderheime d. RHD; verantwortlich für d. Inhalt: J. Schlör, Berlin, 1928.
- Siegried Bresler,S. 40.
- vgl. ebd, S. 67ff.
- ebd, S. 44.
- vgl. ebd., S. 48 ff.
- Disput, Nr. 14, 1995, S.22
- vgl. Siegried Bresler, S.131
- vgl. ebd, S. 58 ff.
- Elena Stassowa war eine wichtige Funktionärin der IRH
- Siefried Bresler, S. 27.
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