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Die Inflation des Völkermords

So einfach wie das in Gut und Böse unterteilte moralische Weltbild der Intellektuellen ist der jugoslawische Konflikt jedoch nicht gestrickt. Vergessen und mit keinem Wort erwähnt wird, daß vor allem die BRD durch die vehemente Anerkennungspolitik Genschers für den Bürgerkrieg verantwortlich war, obwohl es keiner großen Voraussicht bedurfte, daß damit die Voraussetzung für einen Bürgerkrieg geschaffen wurde. Kein Staat der Welt akzeptiert freiwillig die Sezession einer Provinz, die ideale Ausgangsbedingung für einen territorialen Krieg. In einem von Kroaten, Muslimen und Serben besiedelten Gebiet kann dieser Krieg für die Bevölkerung nur Vertreibung und Massaker heißen. Für die neuen Staaten heißt Krieg Sieg oder Niederlage, Eroberung oder Verlust von Gebieten.

Was aber hat das alles mit dem spanischen Bürgerkrieg und dem Faschismus zu tun, mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto, mit Auschwitz und Treblinka? Roy Gutmans Berichte über »Völkermord« und »Todeslager« (»Wie Auschwitz« ist ein Artikel seines Buches betitelt) sind einseitig, und sie als tendenziös zu bezeichnen, wäre noch ein Understatement. Kein Wort verliert er über bosnische Gefangenenlager, die es nachweislich gegeben hat. Aus den Kriegsgefangenenlager der Serben macht Gutman »Todeslager«. So grausam es jedoch in solchen Lagern zugegangen sein mag, so sind sie nur die logische Folge eines Bürgerkriegs, und »Todeslager« sind sie in Anspielung auf Auschwitz nur dann, wenn sie systematisch und ausschließlich dem Zweck der Menschenvernichtung dienen. Eine solche Todesfabrik, die nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Auschwitz oder Treblinka gehabt hätte, gab es nicht, und Journalisten hätten wohl kaum Zugang zu solchen »Todeslagern« erhalten. Kriegsgefangenenlager hingegen sind keine Erfindung der Nazis, und daß es dort wie in Auschwitz zugegangen wäre, kann nur jemand behaupten, der keine Ahnung von Auschwitz hat oder der mit der Konnotation solcher Begriffe ein bestimmtes Kriegsziel verfolgt.

Auch was der jugoslawische Bürgerkrieg mit dem spanischen von 1936 zu tun hat, bleibt das Geheimnis von CohnBendit und Lévy, es sei denn, sie wollen behaupten, in Spanien hätten »Völkermord und ethnische Säuberungen« stattgefunden. Nun ist es kein Völkermord, wenn Spanier Spanier ermorden. Oder wollten sie behaupten, daß die bosnische Republik den gleichen heroischen Freiheitskampf führt wie 1936 bis 1939 die republikanischen Spanier es taten? In diesem Fall muß man jedoch die spanischen Anarchisten in Schutz nehmen, die von Freiheit etwas andere Vorstellungen hatten als IŠzetbegovi´c, der seine fundamentalistischen, nicht sehr demokratischen Ideen in der »Islamischen Deklaration« dargelegt hat, derzufolge »der Islam eine integrale Lebensform sei und sich mit keiner anderen politischen und sozialen Ordnung vertrage« (Die Woche vom 26.5.94). Solche bzw. ähnliche Vorstellungen ließen sich wiederum bei den spanischen Kommunisten finden, von denen man wissen sollte, welche Rolle sie bei der Verteidigung der spanischen Republik gespielt haben, als sie die Opposition der Linkskommunisten und Anarchisten über die Klinge springen ließen. Daß sie nun ausgerechnet von jenen als Vorbild gepriesen werden, die sich die Bekämpfung des Kommunismus zur Lebensaufgabe gemacht haben, darin besteht eben manchmal der Witz der Geschichte.

Nicht weniger unsinnig ist der Vergleich der Verteidigung Sarajevos durch muslimische Truppen mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto. Weder haben sich die Nazis darauf beschränkt, das Ghetto aus kilometerweiter Distanz mit Granaten zu beschießen, noch ließen sie sich auf Waffenstillstandsverhandlungen ein, noch akzeptierten sie es, daß die Bevölkerung über den Luftweg, zum Teil sogar über den Landweg versorgt wurde. Wäre die Geschichte des Nationalsozialismus so glimpflich verlaufen, niemand wüßte heute mehr, daß es in Warschau einen Aufstand gegeben hat.

Überhaupt geht man mit dem Begriff Völkermord heute sehr großzügig um. Und vielleicht deshalb, weil man weiß, daß ein Massaker noch kein Völkermord ist, und weil es die bosnischen Muslime immer noch gibt, obwohl schon unzählige Völkermorde an ihnen begangen wurden, werden die Maßstäbe immer weiter heruntergeschraubt. Als Völkermord gilt bereits »der gezielte Versuch, den Lebenswillen des bosnischen Volkes zu vernichten«, schreibt etwas einfältig der Tagesspiegel (vom 29.5.94). Und niemand der protestbereiten Mahnwachenapostel fand es »zynisch und menschenverachtend«, als es weiter hieß, Völkermord »zeigt sich nicht nur an dem Ausmaß des Mordens auf dem Balkan, sondern auch an der Zielgerichtetheit, mit der die jahrhundertealte Kultur des bosnischen Volkes - und vor allem die Religion und ihre Repräsentanten - vernichtet werden soll«. Nun sind der Dehnbarkeit eines Begriffs jedoch Grenzen gesetzt. Wenn der Verlust von Menschen bloß unter anderem beklagt wird, das Verschwinden einer »jahrhundertealten Kultur« hingegen als besonders abscheulich und verwerflich empfunden wird, dann haben diejenigen nichts zu lachen, die nur ihr nacktes Leben besitzen und keine unter Denkmalschutz stehenden Kulturgüter vorzuweisen haben, diejenigen armen Teufel also, die in den derzeit 43 Kriegen auf der Welt ihr Leben lassen, während die Medien erschüttert darüber sind, daß Europa, die Zivilisation und die Kultur in Sarajevo stirbt.



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