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Kultur und Beschwörung

Lange hatte man also im linksalternativen Spektrum die Identität begutachtet, zergliedert, erforscht und untersucht. Herausgekommen war eine patriotische Wiedererweckungsbewegung, die nur noch Deutsche kannte und das arme bedrohte Deutschland vor der Vernichtung durch die Supermächte retten wollte. Die von den Großveranstaltungen der Friedensbewegung ausstrahlende vaterländische Gesinnung breitete sich unter dem Namen »Mutter Erde« gleichzeitig im alternativen Milieu der Grünen und der Ökologiebewegung aus.

Nicht nur, weil seit Gründung der Grünen alles nur eine Frage der richtigen Identität war und viele Linke damit große Fortschritte und gute Ergebnisse erzielt hatten, sondern auch, weil sich mit dem Gerede von der Identität Nationalbewußtsein herauskitzeln ließ, gelangte sie als erfolgverheißendes Konzept schließlich auch in den Verlautbarungswortschatz der Politiker und in die Spalten des Feuilletons. Die Protagonisten der inzwischen zerfallenen ML-Linken profitierten von dieser Entwicklung, mit nationaler Identität Karriere zu machen, sie mußten sich nicht einmal neu orientieren, denn Volk, Vaterland und Patriotismus waren ihnen seit jeher geläufige Begriffe aus den Traditionsbeständen der kommunistischen Partei.

Als Beschwörungsformel erhielt die nationale und deutsche Identität, die in keiner Sonntagsrede Weizsäckers fehlte, nun Schützenhilfe von links und war deshalb ein idealer Ersatz für den anrüchigen Begriff Nationalismus, der seine zweifelhafte Herkunft nicht leugnen konnte. Ein Terminus, der harmlos und dennoch bedeutend klingt, vor allem wenn er mit Kultur verrührt wird, und der es - ohne unangenehme Assoziationen zu wecken - Weizsäcker ermöglichte, von Kultur als »prägende Rolle für Selbstbewußtsein und Identität der Deutschen« zu schwafeln, von der »geachteten Kulturnation« Deutschland, »die unsere Identität stärkt«. Seitdem vergeht kein feierlicher Anlaß, auf dem es nicht mindestens einen Beitrag gibt, der »Kultur stiftet Identität über Grenzen hinweg« heißt.

Weil jenseits der schwammigen und schwabbelnden Rede Identität nur negativ einen Sinn ergibt und deshalb alles beinhaltet, was sich als das Fremde oder das Andere ausschließen läßt, Abgrenzung also die einzige konkrete begriffliche Bestimmung von Identität ist, wurde Weizsäckers Bildungsbürgerprosa keinesfalls etwa mißverstanden, als Bernd Gockel von Musikexpress, der seinem Namen alle Ehre machte, in der taz (vom 27.10.94) über das US-Musikmagazin Rolling Stone seinen antiamerikanischen Ressentiments freien Auslauf gab: »Wir haben uns vorgenommen, eine deutsche Identität zu bekommen, denn wir wollten nicht wie der verlängerte kulturimperialistische Arm der Amerikaner wirken.« Gockel sagte dies nicht etwa als neidischer Konkurrent, sondern als Lizenznehmer von Rolling Stone, an dem niemand in der Branche vorbeikommt und der deshalb nun auch auf deutsch erscheint. Was aber könnte gockelhafter sein, als ein US-Produkt zu imitieren und es gleichzeitig als »kulturimperialistischen Arm der Amerikaner« zu verteufeln?

Auch der Deutsche Musikverlegerverband (DMV) sah »die kulturelle Identität der Europäer gefährdet. Der DMV wirbt mit einem Deutschen Tag in Cannes um Unterstützung im Kampf gegen die US-Dominanz«, berichtete das Berliner Volksblatt im Januar 1988. Als »Geheimwaffen gegen den US-Rock« wurden Grönemeyer, Falko und Nena gehandelt, und an diesen ebenso rührenden wie vergeblichen Bestrebungen kann man ablesen, daß die nun auch in der Kultur entdeckte Identität manchmal zur eigenen Karikatur wird. Als Erretter der »kulturellen Identität« auf dem »Deutschen Tag« in Cannes oder anderswo nämlich sind die Aushängeschilder deutschen Kulturguts hervorragend geeignet, die Befürchtung, daß aus Deutschland noch was werden könnte, aus dem Weg zu räumen, und dafür muß man den zwar nervtötenden, aber höchstens für sensible Nervenkostüme gefährlichen »Geheimwaffen« dankbar sein, denn solange sie singen und tanzen, wird die »geachtete Kulturnation« immer eine Lachnummer sein.



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