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Geliebtes Vaterland - Wie das Feuilleton einmal einen verleumderischen Angriff aus England abwehrte

Empört wie lange nicht mehr war man in der Zeit und im Spiegel. Als ob Deutschen im Ausland passiert, was zur Zeit Ausländern hier zugefügt wird, werfen sie dem englischen Historiker Robert Harris, Autor des »außergewöhnlichsten Politkrimis der Saison«, Deutschenfeindlichkeit, Ressentiments und Frivolität vor. Den Autor »treibt offensichtlich der Ehrgeiz, auf Kosten der Deutschen ein berühmter Schriftsteller zu werden«, empört sich Karl-Heinz Janßen in der Zeit und entwirft mit diesem Vorwurf einen völlig neuen Verhaltenskodex für Schriftsteller. Schlimmer noch, der Autor sei sich offenbar nicht bewußt, »daß er mit seinem Thriller auch den jungen Generationen in Deutschland das Stigma des Massenmords aufdrückt.« Und der Spiegel sekundiert, Harris greife »skrupellos zum ultimativen Kitzel: Er montiert die Realität in seinen Roman«, eine in den Augen des Redakteurs offensichtlich besonders perfide Masche und eine Anschuldigung, aus der sich so leicht kein Schriftsteller wird herauswinden können. Auch eine kleine Träumerei gestattet sich der Redakteur, für die er tief in die Geschichtskiste greift: Hätten 1866 die Bayern und Österreicher die Schlacht von Königgrätz gewonnen und nicht die Preußen, wären uns »manche Schrecken ... erspart geblieben - auch Harris' Vaterland.« Noch drei Jahre nach Erscheinen des Buches hat sich der Spiegel immer noch nicht beruhigt. »Schamlos« hätte Robert Harris, schreibt ein Redakteur in der Ausgabe 8/95, »das NS-Regime als Thriller-Kulisse mißbraucht«, und angewiedert empfiehlt er die »geschichtsklitternde Mixtur aus Fakten und Flachsinn« den Neonazis.

Daß ein Politthriller in den führenden Meinungsblättern derart heftige Reaktionen hervorruft, ist erstaunlich, nicht nur, weil das Genre des Krimis in Deutschland nicht gerade zu der literarischen Gattung zählt, der man besondere Aufmerksamkeit widmet, sondern weil man sich bisher der Illusion hingeben durfte, daß das Feuilleton auch der staatstragenden Blätter nicht unbedingt verpflichtet war, die politischen Leitartikel auf den vorderen Seiten wiederzukäuen. Mittlerweile scheint man sich von dieser liebgewordenen Vorstellung verabschieden zu müssen. Wie in der Außenpolitik rüstet man nun auch auf dem kulturellen Sektor nach, denn wie anders will man es sich erklären, daß der Protest des deutschen Botschafters in London, der auch noch Hermann Freiherr von Richthofen heißt, mit diesem Buch würden die deutsch-englischen Beziehungen unnötig belastet, vom Spiegel als Beleg und nicht als Bloßstellung zitiert wird.

Um was geht es: Harris hatte die geniale Idee, die Geschichte 1942 anzuhalten und ihr eine andere Wendung zu geben, derzufolge die deutsche Wehrmacht nicht in Stalingrad steckenblieb, sondern bis in den Kaukasus und den Ural weitermarschierte. Dort allerdings wird sie in einen aufreibenden, von den Amerikanern unterstützten Partisanenkampf verwickelt. Die europäischen Länder haben längst ihre Souveränität verloren, und was heute als europäische Idee in langwierigen Verhandlungen nur zäh vorankommt, hat Deutschland unter seiner Vormachtstellung schon längst verwirklicht. Im gesamten Reich ist Deutsch Unterrichtssprache, die Reichsmark ist die Einheitswährung und der Volkswagen das Auto für den kleinen Mann. Das Europaparlament hat seinen Sitz in Berlin, wo Albert Speer seine gigantischen Pläne verwirklicht hat und sich das Empire State Building wie Spielzeug ausnimmt. Der St. Peters-Dom, wird dem staunenden Touristen erzählt, paßt sechzehn Mal in den Dom von Speers Großer Halle.

Harris läßt seinen Thriller 1964 spielen, eine Woche vor Hitlers 75. Geburtstag. Die Reichshauptstadt schmückt sich für seinen Führer. Sogar der Präsident der Vereinigten Staaten Kennedy, der Vater John F. Kennedys, Antisemit und Appeaser, wird Hitler seine Aufwartung machen. Vor diesem Hintergrund recherchiert Kriminalkommissar Xaver März in einem scheinbar ganz gewöhnlichen Mordfall, der jedoch auf undurchsichtige Weise die Belange der Staatssicherheit berührt und die SS auf den Plan ruft. Im Laufe dieser ungeheuer spannenden und packend erzählten Geschichte kommt das von den Nationalsozialisten begangene und anschließend vertuschte Verbrechen, die Judenvernichtung, langsam zum Vorschein. Die letzten lebenden Teilnehmer an der Wannseekonferenz fallen merkwürdigen Umständen zum Opfer oder begehen Selbstmord, Zeugen werden umgebracht, Dokumente verschwinden.

»Die Handlung ist bis ins kleinste Detail überzeugend, die Charaktere gänzlich glaubwürdig«, schreibt Martha Gelhorn in The Daily Telegraph, und sie muß es wissen, hat sie sich doch als Korrespondentin im Nachkriegsdeutschland selbst ein genaues Bild von den Menschen und Verhältnissen machen können. Ganz gleich, ob Harris seine Figuren als korrupte Beamte, graue Eminenzen, opportunistische Karrieristen, Amtsschimmel oder bornierte Ideologen schildert, es sind Menschen, deren sich ein totalitäres System genauso bedienen kann wie eine Demokratie. Und darin liegt auch der Grund für die Empörung, denn daß Harris sein Personal nicht als widerliche, mordlüsterne Monster auftreten läßt, die den Abstand zur Geschichte deutlich genug demonstrieren, sondern als mitunter ziemlich normale Menschen, finden bezeichnenderweise vor allem seine deutschen Kritiker geschmacklos. Was jedoch am Nationalsozialismus so schrecklich war, war seine Banalität, die sich am besten an der Person Eichmanns veranschaulichen läßt, der genauso gut »Judenpfleger« hätte sein können und diesen Job mit der gleichen Zuverlässigkeit und Beflissenheit ausgeübt hätte wie er Fahrpläne ausarbeitete, um die Juden reibungslos an den Ort ihrer Vernichtung zu transportieren. Was die Kritiker auf die Palme bringt, ist die Tatsache, daß dieser Mensch nicht zu unterscheiden ist vom Nachkriegsdeutschen, der sich in ihren Augen inzwischen genügend für die Demokratie qualifiziert hat.

Harris hat mit seinem Buch in England einen Bestseller gelandet, der in zehn Sprachen übersetzt wurde und von dem in Amerika mittlerweile mehr als 110000 Hardcover über den Ladentisch gingen. Auch darin könnte ein Motiv für den Ärger liegen, den das Buch hervorgerufen hat. Nämlich als Enttäuschung darüber, daß deutsche Literatur alles andere als ein Exportschlager ist und im Ausland als langweilig, fad und deshalb unverkäuflich gilt. Die Beschäftigung mit ihr könnte aufgrund des offensichtlichen Desinteresses der europäischen Nachbarn zur Marotte werden, wo es doch Zeiten gab, als die deutsche Kultur überall großes Ansehen genoß. Vielleicht also aus Enttäuschung darüber, daß die hiesige Literatur an Renommee verliert, mit Sicherheit aber aus gekränktem Nationalstolz, erklärt sich der Haß auf Harris, dem sogar vorgeworfen wird, daß in seinem Buch nichts steht, was »zu neuen Erkenntnissen über die Nazi-Vergangenheit verhelfen könnte«. Zu neuen Erkenntissen verhalf vielmehr der Spiegel, als er die Goebbels-Tagebücher vorabdruckte.



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