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Über die »erste erfolgreiche deutsche Revolution« - Der Renegat als Hampelmann

Jahrzehntelang haben die Altachtundsechziger die 11. Feuerbachthese diskutiert und analysiert. Sie haben so lange darauf herumgekaut, bis ihnen schließlich die Zähne ausfielen und radikale Gesellschaftskritiker zu teigigen und blassen Sozialdemokraten regredierten. Aus der Welt, die man nicht bloß verschieden interpretieren wollte, wurde »eine Tatsache«, »die nicht mehr zu ändern ist. Es kommt jetzt darauf an, wie man sie bewertet«.

Michael Schneider, ehemaliger SDSler, Freund Dutschkes und Bruder des Meisterschwätzers Peter Schneiders, hat es sich wie viele seine Kollegen nicht nehmen lassen, als Fachmann in Sachen Revolution und wie man sie totsicher vermurkst, seine Bewertung der deutschen Ereignissen 1989/ 1990 abzuliefern. Schneider hat ein Jahr lang fleißig Zeitungsausschnitte gesammelt und sie durch eine Textverarbeitungsmaschine laufen lassen. Aber obwohl er wie ein verhinderter Chefredakteur den journalistischen Jahresoutput mit kritischen Augen begutachtet hat, kommt nichts Neues dabei heraus.

Sein Buch Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie wurde zum typischen Evolutionsprodukt der Meinungsbranche, d.h. ein endlos langer Zeitungsartikel, der in Buchform die Sottise bestätigt, daß es nichts Älteres gibt als die Zeitung von gestern. Das Verfallsdatum seiner »kritischen Bestandsaufnahme« war schon überschritten, bevor das Buch auf den Markt kam. Wenn er nämlich der konservativen Regierungskoalition ins Beschwerdebuch schreibt: »Sollte sie ihren bisherigen Crashkurs fortsetzen, riskiert sie, schon beim nächsten gesamtdeutschen Wahlkampf die Macht zu verlieren«, dann teilt dieser Satz das Schicksal der Tageskommentare aus taz, FR oder SZ, in denen er am Tag darauf glücklicherweise beerdigt und vergessen ist.

Zunächst einmal läßt Schneider dem Leser noch einmal wissen, was man von Politikern wie Journalisten schon so oft hörte, daß einem langsam der Verdacht kommt, die Leute müßten nachträglich noch von der historischen Dimension des Ereignisses überzeugt werden, weil sie die »Revolution 1989« wie jedes andere Medienereignis auch ihrem Kurzzeitgedächtnis überantwortet haben. Sei es für diejenigen, die nicht so recht dran glauben, sei es für die, die den Evergreen immer wieder gerne hören, bekennt Michael Schneider: »Die erste erfolgreiche deutsche Revolution dieses Jahrhunderts« hat stattgefunden. Das muß gefeiert werden, und Schneider zündet ein Feuerwerk der metaphorischen Superlative: »kopernikanische Wende«, »Dammbruch«, »Springflut«, »gigantisches Schauspiel«, das »wie ein Orkan losbrach« und »mit der Gewalt eines Naturereignisses« über die Menschen kam, so daß es selbst Schneider »irritierte und verunsicherte«, »mehr als ich es selbst für möglich gehalten hätte«. Man hört ihn schon »So ein Tag, so wunderschön wie heute« vor sich hin summen, aber schließlich gilt es noch das, was danach alles schief lief, aufzuarbeiten und zu »bewerten«.

Mit einer Selbstverständlichkeit, die die Identifikation mit jedermanns Meinung voraussetzt, kaut Schneider sämtlichen Quatsch des bürgerlichen Feuilletons noch einmal durch: Unter »dem Trauma Auschwitz« leiden »bekanntlich (!) nicht nur die Opfer und ihre Nachkommen, sondern auch die Nachkommen der Täter«. Abgesehen davon, daß die Opfer von Auschwitz unter einem Trauma nicht mehr leiden müssen, weil sie das Leben bereits hinter sich haben, läßt das Leiden der Nachkommen von Opfern und Tätern darauf schließen, daß wir in einer bemitleidenswerten Gesellschaft leben. So sehr sich Opfer und Täter in ihrer Rolle unterscheiden, als deren Nachkommen sind sie im Leiden eins geworden und können sich auf paritätisch besetzten Diskussionsveranstaltungen auf dem Podium gegenseitig ihre Wunden zeigen. Daß Leute wie Schneider, die im Alter zwischen vierzig und fünfzig in der Regel bereits eine verkrachte Ehe hinter sich und erwachsene Kinder haben, die ihnen auf die Nerven gehen, ihr geheimnisvolles Leiden als Nachkommen der Täter entdecken, von dem sie als Jugendliche noch keine Ahnung hatten, weil ihnen die Einsicht bessere Argumente in die Hand gab als die bloße Leidensmiene, ist nur ein weiteres Indiz dafür, daß der protestbewegten Generation nichts weiter mehr einfällt als der verliebte Blick auf sich selbst, der sich im häufigen Gebrauch des Wortes »Ich« widerspiegelt.

Hat Schneiders Ich seine gute Gesinnung als Staatsbürger erst einmal bußfertig unter Beweis gestellt (»Auch ich habe die Parole ''Kapitalismus führt zum Faschismus. Kapitalismus muß weg'' anno 1968 mitskandiert«), dann kann man sicher sein, daß das »Drohnenleben der Wandlitz-Republik« aufs heftigste verdammt wird. Im bräsigsten und schäbigsten Kommentatorenstil eines rasenden Mitläufers befindet Michael Schneider: »Selbstverständlich kann und darf es für diejenigen, die für den Stasi-Terror ... verantwortlich waren, keine Amnestie geben. Diese Leute, allen voran Herr Mielke, gehören vor ein unabhängiges Gericht gestellt.« In der Rolle des zornigen Richters findet der kleine Renegat wieder zu sich selbst und empfiehlt sich durch ranziges und altkluges Dahergerede als moralische Erneuerungsinstanz.

Auf über 200 Seiten schwadroniert er über die Probleme der Deutschen, die »in der Tat zu ernsthaften Besorgnissen Anlaß« geben, von einer »gerechten und sozial verträglichen Organisation der deutschen Einheit«, um »die drängenden Probleme der Menschheit anzupacken«. Bei diesem Formulierungsbrei aus dem Standardrepertoire des offiziellen Verlautbarungsjargons wird man den Verdacht nicht los, daß Schneider ein in der Küche der Zeit geklontes Produkt von Dönhoff, Sommer und Schmidt ist.

Als jemand, für den jede abgedroschene Redewendung und abgestandene Metapher noch gut genug ist, um einen spärlichen Gedanken zu umranken, strapaziert Schneider auch die Metapher vom aufrechten Gang, der schon bei Enzensberger den Verdacht keimen ließ, daß wir in einer Gesellschaft von Vierbeinern leben. Wie auch immer; wenn nichts draus wird, wird immer noch ein Essay draus, sagte Tucholsky einmal.



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