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01.07.97 - Deutschland

DIE WELT


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Lübecker Prozeß läßt viele Fragen offen
Vorsitzender Richter rügt Beweisermittlung - "Eid hat sich auffällig verhalten" - Keine Indizien für Tatablauf

Von DIETHART GOOS
Lübeck - Der Prozeß um die Brandkatastrophe im Lübecker Asylantenheim an der Hafenstraße, bei der zehn Menschen ums Leben gekommen waren, hatte an den letzten Verhandlungstagen nur noch mäßiges Interesse gefunden. Gestern, bei der Urteilsverkündung, quoll der Zuschauerraum dagegen förmlich über. Kaum hatte der Vorsitzende Richter Rolf Wilcken den Freispruch für den Angeklagten Safwan Eid verkündet, teilten sich die Lager. Lautstarke Proteste und spontaner Beifall versuchten sich gegenseitig zu übertönen.

Schon lange vor Verhandlungsbeginn um neun Uhr hatten sich viele deutsche Sympathisanten des jungen Libanesen Eid an den Sperrgittern vor dem Lübecker Landgericht aufgestellt. In Erwartung des Freispruchs, den auch die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer gefordert hatte, herrschte gelöste Stimmung. Dann das kurze Urteil des Richters: "Der Angeklagte wird freigesprochen, die Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse, für die Dauer der Untersuchungshaft erhält der Angeklagte Entschädigung."

Wie an den vorausgegangenen 58 Verhandlungstagen zeigte Safwan Eid auch gestern kaum Emotionen. Sein Vater Marwan Eid sowie die Brüder Mohammed, Ghasswan und Ahmed sprangen dagegen von ihren Sitzen auf, klatschten heftig und umarmten sich. Ganz anders reagierte die libanesische Großfamilie El-Omari, die ebenfalls in der Hafenstraße wohnte und beim Brand ein Kind verloren hatte. Unter Tränen wollte sich die Mutter Assia auf den freigesprochenen Eid stürzen. Sie konnte nur mit Mühe von ihrem Sohn Khaled zurückgehalten werden.

Richter Wilcken begann seine mündliche Urteilsbegründung mit bitteren Worten. Wenn nun nach Freigabe der beschlagnahmten Ruine das ehemalige Asylantenheim abgerissen werde, blieben wichtige Fragen letztlich unbeantwortet. "Wer hat das Haus vorsätzlich in Brand gesteckt, warum war ein Großteil der Zeugenaussagen ehemaliger Bewohner zumindest gefärbt zum Vorteil für den Angeklagten?"

Für das Gericht ist erwiesen, daß es im Gebäude zwei "Primärbrandherde" gab: den einen im Flur des ersten Obergeschosses, einen weiteren parterre im hölzernen Vorbau. Es müsse Brandstiftung gewesen sein, denn die elektrische Beleuchtung habe noch einige Zeit nach Ausbruch des Feuers funktioniert, sagte Wilcken. Trotz des Freispruchs äußerte er sich kritisch zum Verhalten des Angeklagten. Bei ihm seien im Zuge der Beweisaufnahme "Auffälligkeiten" festzustellen gewesen. Er habe sich nach Ausbruch des Feuers "fast rastlos" verhalten. Statt sich um seine Angehörigen zu kümmern, habe er lieber eine befreundete Familie angerufen. Dafür gebe es keine plausible Erklärung. Auch sei er vorzeitig aus dem Krankenhaus verschwunden, ohne sich, wie die anderen Verletzten, zu duschen und neu einzukleiden.

Glaubwürdig ist für das Gericht die Aussage des Rettungssanitäters Jens Leonhardt, der bei der Versorgung der Verletzten eine Art Geständnis von Safwan Eid gehört haben will. "Die Kammer hat keine Erkenntnis über eine Falschaussage dieses Zeugen." Vielleicht habe er den Angeklagten nicht richtig verstanden, "wofür aber nicht allzuviel spricht". Nicht immer vollständig sei die Beweisermittlung gewesen, beklagte sich der Gerichtsvorsitzende. "Es gab Lücken möglicherweise zu Lasten und zur Entlastung des Angeklagten." Insgesamt habe es keine Indizien für einen Tatablauf gegeben.

Zugleich rechtfertigte Wilcken die Entscheidung der Kammer, Protokolle abgehörter Gespräche des Angeklagten mit Angehörigen während seiner fünfmonatigen Untersuchungshaft nicht als Beweismittel der Staatsanwaltschaft zuzulassen. An diesem strittigen Punkt könnte die Staatsanwaltschaft ihren bereits in Aussicht gestellten Revisionsantrag festmachen. Sie hat dafür eine Woche Zeit.

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Copyright: DIE WELT, 1.7.1997


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