Am 19.9.07 erließ der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eine Entscheidung
über die Ansprüche von 275 Klägern, die im Deutschen Reich in den Jahren 1943-1945 Zwangsarbeit
leisten mussten. Der EGMR entschied, dass den Betroffenen kein Anspruch auf Entschädigung zustehe.
Ihr Ausschluss von Leistungen der Stiftung “Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“
(Stiftung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter) sei nicht menschenrechtswidrig. Die Bundesrepublik
Deutschland habe einen weiten Spielraum, wem sie Entschädigungsleistungen zukommen lasse und
wem nicht. Die Europäische Menschenrechtskonvention verpflichte die Bundesrepublik Deutschland
nicht, alle Verfehlungen und Schäden, die das Deutsche Reich verursacht habe, zu kompensieren.
Die meisten Kläger in diesem Verfahren waren ehemalige Soldaten der italienischen Armee,
die 1943 nach dem Waffenstillstandsabkommen Italiens mit den Alliierten von der Wehrmacht entwaffnet
und ins Deutsche Reich verschleppt worden waren. Dort wurden entgegen allen damals geltenden
Bestimmungen nicht als Kriegsgefangene behandelt, sie erhielten den Sonderstatus als
“Militärinternierte“. So erging es ca. 600.000 ehemaligen Soldaten. Sie wurden in KZ-ähnlichen
Lagern gefangen gehalten und als Zwangsarbeiter, häufig in der Kriegswirtschaft, eingesetzt.
Zehntausende überlebten ihre Gefangenschaft nicht. Darüber, dass die Verschleppung, Internierung
und Zwangsarbeit der Italiener ein Völkerrechtsverbrechen war, gibt es heute keine ernsthafte
Diskussion mehr. Dennoch hat Deutschland dieser Opfer-Gruppe niemals auch nur einen Cent
Entschädigungsleistungen zuerkannt.
Nach dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
hätte den ca. 90.000 überlebenden Betroffenen zumindest ein geringfügiger Entschädigungsanspruch
zugestanden. Mit einem juristischen Taschenspielertrick aber wurden die “IMIs“ von
Stiftungsleistungen ausgeschlossen. Man erklärte sie rückwirkend und fiktiv zu Kriegsgefangenen.
Kriegsgefangene erhalten aber nach dem Gesetz keine Leistungen, denn dies sei ein allgemeines
Schicksal im Krieg. Nach dieser Logik erhalten auch die “IMIs“ keine Entschädigung, obwohl die
Nazis sie eben nicht als Kriegsgefangene behandelten.
Mit dieser Rechtsbeugung wollte die Stiftung die Ansprüche von mehreren Zehntausend
Anspruchsberechtigten zunichte machen. Alle deutschen Gerichte einschließlich des
Bundesverfassungsgerichts hatten diese Trickserei abgesegnet. Letzteres erklärte sogar,
dass die Entscheidung der Stiftung gerichtlich gar nicht überprüfbar sei. Die Nazi-Opfer
wurden also zu Bittstellern degradiert.
Die Hoffnung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieser Willkür
der deutschen Justiz eine Grenze aufzeigen würde, ist leider nicht erfüllt worden. Mit dem
Verbrechen selbst und seiner mangelnden juristischen Aufarbeitung in der Bundesrepublik
befassten sich die Straßburger Richter nicht. Offenbar haben die Richter Angst vor einem
Präzedenzfall, denn die EU ist schließlich auf dem Weg zur weltweiten Kriegsführungsfähigkeit.
Und da will man sich nicht mit den Folgen der NS-Verbrechen belasten, weil sonst auch die Opfer
von heutigen Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien, im Irak oder in Afghanistan Ansprüche
stellen könnten. Deutschland profitiert also wieder einmal von seiner Dominanz in Europa und
schafft es erneut, die Leichenberge seiner Vergangenheit kostengünstig zu entsorgen.
Den ehemaligen “Italienischen Militärinternierten“ bleibt der Weg zu den
italienischen Gerichten, dort sind bereits jetzt zahlreiche Klagen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter anhängig. Der oberste Gerichtshof Italiens (Kassationshof) hat die
Zuständigkeit italienischer Gerichte bei Vorliegen von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen
bestätigt, so dass Ansprüche dort durchgesetzt werden können.
Es gilt weiterhin, die Schlussstrichpolitik der Bundesregierung in der Entschädigungsfrage
zu durchkreuzen und die Forderungen aller NS-Opfer zu unterstützen, die bis heute
ohne Entschädigung geblieben sind.
Hamburg, den 27.9.07
AK-Distomo
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