Am 23.12.2008 erhob die Bundesregierung Klage gegen Italien vor dem Internationalen
Gerichtshof in Den Haag (Völkerrechtsgerichtshof der UNO). Der angestrebte Prozess hat
das Ziel, die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen griechischer und italienischer
NS-Opfer vor italienischen Gerichten zu vereiteln. Der Internationale Gerichtshof
soll nach dem Wunsch der deutschen Regierung Gerichtsverfahren italienischer NS-Opfer
jetzt und zukünftig die Grundlage entziehen sowie Vollstreckungsmaßnahmen
griechischer NS-Opfer gegen die Bundesrepublik stoppen. Damit ist der vorläufige
Höhepunkt einer Auseinandersetzung erreicht, in der das wiedervereinigte
Deutschland überlebenden NS-Opfern sowie den Angehörigen der Ermordeten
aus Italien und Griechenland berechtigte Entschädigungsansprüche verweigert.
Die deutsche Regierung behauptet, Italien verletze durch die Praxis seiner Gerichte
den Grundsatz der sogenannten Staatenimmunität. Nach diesem völkerrechtlichen
Grundsatz dürfe ein Staat nicht vor den Gerichten eines anderen verklagt werden.
Die Frage drängt sich auf, ob der heutige deutsche Staat sich auf diese Weise
gegen seine eigene Vergangenheit immunisieren darf. Hat nicht das nationalsozialistische
Deutschland mit seinen Angriffs- und Vernichtungskriegen, mit der systematischen Missachtung
der Rechte der Zivilbevölkerung, das Privileg der Staatenimmunität
gegenüber den Opfern seines Terrors verwirkt? Wird die Frage bejaht, dann darf sich
auch der Rechtsnachfolgestaat Bundesrepublik Deutschland nicht auf diese Weise der
Verantwortung für die Opfer und Überlebenden der NS-Verbrechen entziehen.
Seit Jahren kämpfen die Überlebenden von Kriegsverbrechen, die Wehrmachts- und
SS-Einheiten während des zweiten Weltkriegs an der Zivilbevölkerung besetzter
Länder verübten, um Anerkennung und Entschädigung. Die Bundesrepublik hat
ihre Schulden gegenüber den von Nazi-Deutschland überfallenen Staaten
und deren BewohnerInnen bis heute nicht bezahlt. Spätestens mit Abschluss des
2+4 Vertrages im Jahr 1990 sind die Forderungen aller NS-Opfer fällig, denn mit
diesem Quasi-Friedensvertrag endete das Moratorium des Londoner Schuldenabkommens von
1953. Doch für die großzügige Stundung der Forderungen dankte das
wiedervereinigte Deutschland seinen Gläubigern nicht, stattdessen erklärte es
den Anspruchstellern mit zynischem Großmachtgestus, sie kämen jetzt zu spät.
Die Bundesregierung verweigert jeden Dialog mit den Opfern und Hinterbliebenen. Kategorisch
wird jegliche Zahlung abgelehnt. Für die Bundesregierung ist das Thema Entschädigung
nach Abschluss des Projekts ”NS-Zwangsarbeiterentschädigung” erledigt.
Rechtssicherheit soll es nur für den deutschen Staat geben, nicht für die Opfer.
In Italien sind derzeit rund 50 Einzel- und Sammelklagen gegen Deutschland anhängig, in
denen Schadenersatz von Deutschland aufgrund von Verbrechen verlangt wird, die das Deutsche
Reich im Zweiten Weltkrieg verübte. Die Kläger sind zum einen Überlebende
von Massakern deutscher Truppen in Italien und Angehörige dort Ermordeter. Zuletzt
(am 21. Oktober 2008) hatte der Kassationsgerichtshof, das höchste italienische Gericht,
die Verurteilung Deutschlands zu Schadenersatz von rund 1 Million Euro bestätigt:
Dabei ging es um das Wehrmachts-Massaker von Civitella mit mehr als 200 toten Zivilisten.
Zum anderen klagen ehemalige NS-Zwangsarbeiter, die während der deutschen Besatzung
Norditaliens ins Deutsche Reich verschleppt worden waren. Darunter sind viele sogenannte
’Militärinternierte’, ehemalige italienische Soldaten, die im Deutschen Reich
entgegen allen Schutzkonventionen für Kriegsgefangene unter mörderischen
Haftbedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Auch in diesen Fällen hatte der
Kassationsgerichtshof zuletzt im Juni 2008 bestätigt, dass die Betroffenen vor
italienischen Gerichten Entschädigungszahlungen gegen Deutschland einklagen können.
Schließlich geht es um die Vollstreckung von Urteilen griechischer Gerichte, des
Landgerichts Levadia und des obersten Gerichtshofs Griechenlands (Areopag), die
Klägerinnen und Klägern aus Distomo/Griechenland bereits in den Jahren 1997/2000
eine Entschädigungssumme von ca. € 28 Mio (zzgl. Zinsen) zusprachen. Geklagt
hatten ca. 300 Überlebende des Massakers deutscher SS-Truppen sowie Angehörige
der am 10. Juni 1944 Ermordeten.
Die deutsche Regierung (Fischer/Schröder) erkannte aber die griechischen Urteile
im Fall Distomo nicht an. Sie warf in den Jahren 2000/2001 ihr gesamtes
politisch-diplomatisches Gewicht in die Waagschale, um der Zahlungspflicht zu
entgehen. Sie erreichte, dass der griechische Justizminister bereits begonnene
Vollstreckungsmaßnahmen gegen deutsche Liegenschaften in Griechenland stoppte.
Die griechische Regierung war zu diesem Zeitpunkt politisch leicht erpressbar, wollte sich
doch den im Jahr 2002 anstehenden Zutritt zur Eurozone nicht gefährden.
Die griechischen Klägerinnen und Kläger wandten sich daher nach Italien, um
dort ihre Ansprüche durchsetzen zu können. Und tatsächlich hatten sie
Erfolg. Der römische Kassationsgerichtshof bestätigte im Juni 2008 die
Vollstreckbarkeit der griechischen Urteile in Italien und ermöglichte damit
Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen deutsches Eigentum in Italien. Da Deutschland
bis heute trotz rechtskräftiger Entscheidungen keine Zahlung geleistet hat,
wurden erste Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in Italien getroffen.
Zur Sicherung der Ansprüche wurde zunächst die im deutschen Staatseigentum
befindliche Villa Vigoni in Como gepfändet. Zuletzt pfändete Klägeranwalt
Joachim Lau Ansprüche der Deutsche Bahn AG gegen die Italienische Staatsbahn.
- Über das gepfändete Konto werden Kartenverkäufe zwischen den beiden
staatlichen Bahngesellschaften abgerechnet -. Die Rechtsmäßigkeit
dieser Pfändungen wird wiederum von der Bundesregierung bestritten und mit
allen Mitteln angegriffen. Eine endgültige rechtliche Klärung steht noch aus.
Die Bundesregierung verweigert allen in Italien gefällten Urteilen italienischer
Gerichte, die gegen Deutschland ergangen sind, mit Verweis auf die Staatenimmunität
die Anerkennung. Demgegenüber hatten sowohl der griechische Areopag und wie
auch der italienische Kassationsgerichtshof festgestellt, dass der Grundsatz der
Staatenimmunität bei schweren Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen keine Anwendung finde.
Ein Staat wie Nazi-Deutschland, der selber das Völkerrecht massiv gebrochen
und Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat, darf sich nicht auf das
Privileg der Staatenimmunität berufen, um Schadensersatzklagen abzuwehren.
Er hat dieses verwirkt. Hieran ist auch der Rechtsnachfolgestaat Bundesrepublik
Deutschland gebunden.
Die Bundesregierung wendet ein, die italienischen Urteile stellten eine Verletzung
deutscher Souveränitätsrechte dar. Doch damit verdreht Berlin die
Wahrheit, denn die Bundesregierung selbst missachtet die Souveränität
Griechenlands und Italiens, indem es Entscheidungen unabhängiger Gerichte von
EU-Staaten nicht anerkennt.
Zur öffentlichen Rechtfertigung ihrer Haltung bemüht die Bundesregierung weitere
Scheinargumente
Internetseite des Auswärtigen Amtes:
”Deshalb ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Klärung der Frage
vor dem Internationalen Gerichtshof nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern der
Staatengemeinschaft insgesamt sei: Die materiellen Folgen von Kriegen werden
regelmäßig in Friedensverträgen zwischen den Staaten ausgeglichen.
Reparationen erfolgen auf zwischenstaatlicher Ebene. Nach einem Konflikt
würde - ohne den Grundsatz der Staatenimmunität - die Rückkehr zu
einer dauerhaften Friedensordnung, zu Dialog und Vertrauen praktisch ausgeschlossen.
Friedensverträge und Entschädigungsregelungen werden von Staaten nur dann
vereinbart werden, wenn die Staatenimmunität gilt und sie dadurch Rechtssicherheit
haben.”
Dieser Vortrag wirft Fragen auf. Will die Bundesregierung behaupten, dass das
Verhältnis zu Griechenland und Italien unfriedlicher Natur sei, weil
deren Bürger Schadensersatz für Kriegsverbrechen fordern? Droht ein Krieg
mit Griechenland oder Italien, wenn griechische und italienische Gerichte weiter zugunsten
ihrer eigenen Bürger und gegen deutsche Interessen entscheiden? Ist die Bundesregierung
der Auffassung, die Klärung von Ansprüchen vor Gerichten sei eine unfriedliche
Art, divergierende Interessen zum Ausgleich zu bringen?
Deutschland erhebt sich selbst zum Friedensretter. Gleichzeitig unterstellt man den
Opfern, ihre Klagen würden den Frieden gefährden. Die Tatsachen werden auf den
Kopf gestellt. Wenn selbst schwerste Kriegsverbrechen keine Haftung des Täterstaates zur
Folge haben, dann ist das ein Freibrief dafür, auch zukünftig Kriegsverbrechen zu begehen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit Griechenland und Italien keinen Friedensvertrag geschlossen
und auch keine Vereinbarung über Reparationen getroffen. Sie hat dies vielmehr stets
abgelehnt und weigert sich auch, dies zukünftig zu tun.
Die Berufung auf Staatenimmunität dient daher nicht dem Frieden, sondern lässt
befürchten, dass Deutschland auch für künftige Kriegsverbrechen nicht
zur Rechenschaft gezogen werden möchte. Es darf angenommen werden, dass sich Deutschland
mit seiner Klage in Den Haag nicht zuletzt für Auslandseinsätze der Bundeswehr
den Rücken frei halten will. Auch den Opfern von Kriegsverbrechen wie in
Kundus/Afghanistan will Deutschland keine Möglichkeit einräumen, ihre
Ansprüche ggf. gerichtlich geltend zu machen.
Hierin liegt die weitergehende Bedeutung des Verfahrens in Den Haag für die gesamte
Welt und für aktuelle Kriege. Es geht um nichts weniger als die Frage, ob jetzt und
in Zukunft die Opfer von Kriegsverbrechen die Möglichkeit haben,
Entschädigungsansprüche individuell durchzusetzen oder ob es die kriegführenden
Staaten in der Hand behalten sollen, nach Gutdünken und politischer Interessenlage den
Opfern Gnadenakte zu gewähren oder auch nicht. Letzteres ist jedenfalls das
erklärte deutsche Ziel.
Damit ist die Frage der Entschädigung auch eine Frage nach der Führbarkeit
von Kriegen. Vielen der Opfer und Überlebenden von NS-Kriegsverbrechen geht es
aber genau darum: Nicht nur eine Kompensation für ihr eigenes Leid zu erhalten,
sondern die Rechte der Opfer so zu stärken, dass Kriegsführung in
Zukunft erschwert wird.
Wie der Internationale Gerichtshof in Den Haag entscheidet, ist offen. Das Problem ist, dass
es sich um ein rein zwischenstaatliches Verfahren handelt, bei dem die Betroffenen selbst
keine Zugangsmöglichkeit haben. Ihre Argumente und rechtlichen Belange finden also
keinen unmittelbaren Eingang in das Verfahren. Deutschland hat den Internationalen Gerichtshof in
Den Haag ausgewählt, um dort seine Verweigerungspolitik legitimieren zu lassen. Um
dies zu verhindern, muss der Prozess auch international thematisiert werden. In der
Vergangenheit war Deutschland zu minimalsten finanziellen Leistungen nur dann bereit, wenn durch
eine internationale Öffentlichkeit der Druck so erhöht werden konnte, dass die
deutsche Exportwirtschaft Schaden zu nehmen drohte.
Notwendig ist eine verstärkte politische Solidarität mit den Überlebenden
des national-sozialistischen Terrors und eine aktive Unterstützung ihrer Forderungen.
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