April 2010

Der Fall Distomo vor dem
Internationalen Gerichtshof in Den Haag
Staatenimmunität für deutsche Kriegsverbrechen?

Staatenimmunität als Instrument der Entschädigungsverweigerung Der Prozess Deutschland ./. Italien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag

Am 23.12.2008 erhob die Bundesregierung Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag (Völkerrechtsgerichtshof der UNO). Der angestrebte Prozess hat das Ziel, die Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen griechischer und italienischer NS-Opfer vor italienischen Gerichten zu vereiteln. Der Internationale Gerichtshof soll nach dem Wunsch der deutschen Regierung Gerichtsverfahren italienischer NS-Opfer jetzt und zukünftig die Grundlage entziehen sowie Vollstreckungsmaßnahmen griechischer NS-Opfer gegen die Bundesrepublik stoppen. Damit ist der vorläufige Höhepunkt einer Auseinandersetzung erreicht, in der das wiedervereinigte Deutschland überlebenden NS-Opfern sowie den Angehörigen der Ermordeten aus Italien und Griechenland berechtigte Entschädigungsansprüche verweigert.

Die deutsche Regierung behauptet, Italien verletze durch die Praxis seiner Gerichte den Grundsatz der sogenannten Staatenimmunität. Nach diesem völkerrechtlichen Grundsatz dürfe ein Staat nicht vor den Gerichten eines anderen verklagt werden. Die Frage drängt sich auf, ob der heutige deutsche Staat sich auf diese Weise gegen seine eigene Vergangenheit immunisieren darf. Hat nicht das nationalsozialistische Deutschland mit seinen Angriffs- und Vernichtungskriegen, mit der systematischen Missachtung der Rechte der Zivilbevölkerung, das Privileg der Staatenimmunität gegenüber den Opfern seines Terrors verwirkt? Wird die Frage bejaht, dann darf sich auch der Rechtsnachfolgestaat Bundesrepublik Deutschland nicht auf diese Weise der Verantwortung für die Opfer und Überlebenden der NS-Verbrechen entziehen.

Seit Jahren kämpfen die Überlebenden von Kriegsverbrechen, die Wehrmachts- und SS-Einheiten während des zweiten Weltkriegs an der Zivilbevölkerung besetzter Länder verübten, um Anerkennung und Entschädigung. Die Bundesrepublik hat ihre Schulden gegenüber den von Nazi-Deutschland überfallenen Staaten und deren BewohnerInnen bis heute nicht bezahlt. Spätestens mit Abschluss des 2+4 Vertrages im Jahr 1990 sind die Forderungen aller NS-Opfer fällig, denn mit diesem Quasi-Friedensvertrag endete das Moratorium des Londoner Schuldenabkommens von 1953. Doch für die großzügige Stundung der Forderungen dankte das wiedervereinigte Deutschland seinen Gläubigern nicht, stattdessen erklärte es den Anspruchstellern mit zynischem Großmachtgestus, sie kämen jetzt zu spät.

Die Bundesregierung verweigert jeden Dialog mit den Opfern und Hinterbliebenen. Kategorisch wird jegliche Zahlung abgelehnt. Für die Bundesregierung ist das Thema Entschädigung nach Abschluss des Projekts ”NS-Zwangsarbeiterentschädigung” erledigt. Rechtssicherheit soll es nur für den deutschen Staat geben, nicht für die Opfer.

In Italien sind derzeit rund 50 Einzel- und Sammelklagen gegen Deutschland anhängig, in denen Schadenersatz von Deutschland aufgrund von Verbrechen verlangt wird, die das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg verübte. Die Kläger sind zum einen Überlebende von Massakern deutscher Truppen in Italien und Angehörige dort Ermordeter. Zuletzt (am 21. Oktober 2008) hatte der Kassationsgerichtshof, das höchste italienische Gericht, die Verurteilung Deutschlands zu Schadenersatz von rund 1 Million Euro bestätigt: Dabei ging es um das Wehrmachts-Massaker von Civitella mit mehr als 200 toten Zivilisten.

Zum anderen klagen ehemalige NS-Zwangsarbeiter, die während der deutschen Besatzung Norditaliens ins Deutsche Reich verschleppt worden waren. Darunter sind viele sogenannte ’Militärinternierte’, ehemalige italienische Soldaten, die im Deutschen Reich entgegen allen Schutzkonventionen für Kriegsgefangene unter mörderischen Haftbedingungen Zwangsarbeit leisten mussten. Auch in diesen Fällen hatte der Kassationsgerichtshof zuletzt im Juni 2008 bestätigt, dass die Betroffenen vor italienischen Gerichten Entschädigungszahlungen gegen Deutschland einklagen können.

Schließlich geht es um die Vollstreckung von Urteilen griechischer Gerichte, des Landgerichts Levadia und des obersten Gerichtshofs Griechenlands (Areopag), die Klägerinnen und Klägern aus Distomo/Griechenland bereits in den Jahren 1997/2000 eine Entschädigungssumme von ca. € 28 Mio (zzgl. Zinsen) zusprachen. Geklagt hatten ca. 300 Überlebende des Massakers deutscher SS-Truppen sowie Angehörige der am 10. Juni 1944 Ermordeten.

Die deutsche Regierung (Fischer/Schröder) erkannte aber die griechischen Urteile im Fall Distomo nicht an. Sie warf in den Jahren 2000/2001 ihr gesamtes politisch-diplomatisches Gewicht in die Waagschale, um der Zahlungspflicht zu entgehen. Sie erreichte, dass der griechische Justizminister bereits begonnene Vollstreckungsmaßnahmen gegen deutsche Liegenschaften in Griechenland stoppte. Die griechische Regierung war zu diesem Zeitpunkt politisch leicht erpressbar, wollte sich doch den im Jahr 2002 anstehenden Zutritt zur Eurozone nicht gefährden.

Die griechischen Klägerinnen und Kläger wandten sich daher nach Italien, um dort ihre Ansprüche durchsetzen zu können. Und tatsächlich hatten sie Erfolg. Der römische Kassationsgerichtshof bestätigte im Juni 2008 die Vollstreckbarkeit der griechischen Urteile in Italien und ermöglichte damit Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen deutsches Eigentum in Italien. Da Deutschland bis heute trotz rechtskräftiger Entscheidungen keine Zahlung geleistet hat, wurden erste Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in Italien getroffen.

Zur Sicherung der Ansprüche wurde zunächst die im deutschen Staatseigentum befindliche Villa Vigoni in Como gepfändet. Zuletzt pfändete Klägeranwalt Joachim Lau Ansprüche der Deutsche Bahn AG gegen die Italienische Staatsbahn. - Über das gepfändete Konto werden Kartenverkäufe zwischen den beiden staatlichen Bahngesellschaften abgerechnet -. Die Rechtsmäßigkeit dieser Pfändungen wird wiederum von der Bundesregierung bestritten und mit allen Mitteln angegriffen. Eine endgültige rechtliche Klärung steht noch aus.

Die Bundesregierung verweigert allen in Italien gefällten Urteilen italienischer Gerichte, die gegen Deutschland ergangen sind, mit Verweis auf die Staatenimmunität die Anerkennung. Demgegenüber hatten sowohl der griechische Areopag und wie auch der italienische Kassationsgerichtshof festgestellt, dass der Grundsatz der Staatenimmunität bei schweren Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen keine Anwendung finde.

Ein Staat wie Nazi-Deutschland, der selber das Völkerrecht massiv gebrochen und Verbrechen gegen die Menschheit begangen hat, darf sich nicht auf das Privileg der Staatenimmunität berufen, um Schadensersatzklagen abzuwehren. Er hat dieses verwirkt. Hieran ist auch der Rechtsnachfolgestaat Bundesrepublik Deutschland gebunden.

Die Bundesregierung wendet ein, die italienischen Urteile stellten eine Verletzung deutscher Souveränitätsrechte dar. Doch damit verdreht Berlin die Wahrheit, denn die Bundesregierung selbst missachtet die Souveränität Griechenlands und Italiens, indem es Entscheidungen unabhängiger Gerichte von EU-Staaten nicht anerkennt.

Zur öffentlichen Rechtfertigung ihrer Haltung bemüht die Bundesregierung weitere Scheinargumente Internetseite des Auswärtigen Amtes:
”Deshalb ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Klärung der Frage vor dem Internationalen Gerichtshof nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern der Staatengemeinschaft insgesamt sei: Die materiellen Folgen von Kriegen werden regelmäßig in Friedensverträgen zwischen den Staaten ausgeglichen. Reparationen erfolgen auf zwischenstaatlicher Ebene. Nach einem Konflikt würde - ohne den Grundsatz der Staatenimmunität - die Rückkehr zu einer dauerhaften Friedensordnung, zu Dialog und Vertrauen praktisch ausgeschlossen. Friedensverträge und Entschädigungsregelungen werden von Staaten nur dann vereinbart werden, wenn die Staatenimmunität gilt und sie dadurch Rechtssicherheit haben.”

Dieser Vortrag wirft Fragen auf. Will die Bundesregierung behaupten, dass das Verhältnis zu Griechenland und Italien unfriedlicher Natur sei, weil deren Bürger Schadensersatz für Kriegsverbrechen fordern? Droht ein Krieg mit Griechenland oder Italien, wenn griechische und italienische Gerichte weiter zugunsten ihrer eigenen Bürger und gegen deutsche Interessen entscheiden? Ist die Bundesregierung der Auffassung, die Klärung von Ansprüchen vor Gerichten sei eine unfriedliche Art, divergierende Interessen zum Ausgleich zu bringen?

Deutschland erhebt sich selbst zum Friedensretter. Gleichzeitig unterstellt man den Opfern, ihre Klagen würden den Frieden gefährden. Die Tatsachen werden auf den Kopf gestellt. Wenn selbst schwerste Kriegsverbrechen keine Haftung des Täterstaates zur Folge haben, dann ist das ein Freibrief dafür, auch zukünftig Kriegsverbrechen zu begehen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat mit Griechenland und Italien keinen Friedensvertrag geschlossen und auch keine Vereinbarung über Reparationen getroffen. Sie hat dies vielmehr stets abgelehnt und weigert sich auch, dies zukünftig zu tun.

Die Berufung auf Staatenimmunität dient daher nicht dem Frieden, sondern lässt befürchten, dass Deutschland auch für künftige Kriegsverbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen werden möchte. Es darf angenommen werden, dass sich Deutschland mit seiner Klage in Den Haag nicht zuletzt für Auslandseinsätze der Bundeswehr den Rücken frei halten will. Auch den Opfern von Kriegsverbrechen wie in Kundus/Afghanistan will Deutschland keine Möglichkeit einräumen, ihre Ansprüche ggf. gerichtlich geltend zu machen.

Hierin liegt die weitergehende Bedeutung des Verfahrens in Den Haag für die gesamte Welt und für aktuelle Kriege. Es geht um nichts weniger als die Frage, ob jetzt und in Zukunft die Opfer von Kriegsverbrechen die Möglichkeit haben, Entschädigungsansprüche individuell durchzusetzen oder ob es die kriegführenden Staaten in der Hand behalten sollen, nach Gutdünken und politischer Interessenlage den Opfern Gnadenakte zu gewähren oder auch nicht. Letzteres ist jedenfalls das erklärte deutsche Ziel.

Damit ist die Frage der Entschädigung auch eine Frage nach der Führbarkeit von Kriegen. Vielen der Opfer und Überlebenden von NS-Kriegsverbrechen geht es aber genau darum: Nicht nur eine Kompensation für ihr eigenes Leid zu erhalten, sondern die Rechte der Opfer so zu stärken, dass Kriegsführung in Zukunft erschwert wird.

Wie der Internationale Gerichtshof in Den Haag entscheidet, ist offen. Das Problem ist, dass es sich um ein rein zwischenstaatliches Verfahren handelt, bei dem die Betroffenen selbst keine Zugangsmöglichkeit haben. Ihre Argumente und rechtlichen Belange finden also keinen unmittelbaren Eingang in das Verfahren. Deutschland hat den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ausgewählt, um dort seine Verweigerungspolitik legitimieren zu lassen. Um dies zu verhindern, muss der Prozess auch international thematisiert werden. In der Vergangenheit war Deutschland zu minimalsten finanziellen Leistungen nur dann bereit, wenn durch eine internationale Öffentlichkeit der Druck so erhöht werden konnte, dass die deutsche Exportwirtschaft Schaden zu nehmen drohte.

Notwendig ist eine verstärkte politische Solidarität mit den Überlebenden des national-sozialistischen Terrors und eine aktive Unterstützung ihrer Forderungen.

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