AK-Distomo
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junge welt, 11. Juli 2011
Entschädigungsklage griechischer SS-Opfer von Europäischem Gerichtshof
für Menschenrechte zurückgewiesen.
Gespräch mit Martin Klingner
»Vernichtungsabsicht der Nazis wird ignoriert«
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Martin Klingner ist Rechtsanwalt und hat drei Überlebende des Massakers
in Distomo vertreten.
Am 10. Juni 1944 hat die SS 218 Einwohner des griechischen Dorfes Distomo
ermordet. Was wollten die Überlebenden mit ihrer Beschwerde vor dem
Eropäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dem EGMR, erreichen?
Es ging ihnen vor allem darum, klarzumachen, daß es sich bei dem Massaker
um ein Verbrechen gehandelt hat. Im öffentlichen
Bewußtsein in Deutschland war ja gar nicht präsent, daß die
Zeit der deutschen Besatzung eine der schrecklichsten Episoden in Griechenland
war. In dieser Hinsicht war das Verfahren auch nicht ganz erfolglos.
Juristisch aber schon. Mit welcher Begründung lehnt die deutsche Justiz eine
Entschädigung ab?
Sämtliche Instanzen haben argumentiert: Auch wenn es sich um ein Verbrechen
gehandelt hat, sei das nur in Reparationsverhandlungen zwischen Staaten
zu klären. Der Bundesgerichtshof hat die These entwickelt, das deutsche
Amtshaftungsrecht, das bei staatlichen Rechtsverletzungen gegen Bürger
zu einer Entschädigung führt, würde in einem Krieg nicht gelten. Es war
keine Quelle zu finden, aus der die Richter dieses Recht geschöpft
haben. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, Distomo sei ein
»unerlaubter Exzeß einer an sich zulässigen Vergeltungsmaßnahme« gewesen.
Deswegen sei das kein NS-Unrecht, sondern »allgemeines Kriegsschicksal«.
Das ist eine völlige Ignoranz der Vernichtungsabsicht der
Nazis. Den deutschen Gerichten ist jedes Mittel recht, um zu
verhindern, daß es weitere Ansprüche gegen den deutschen Staat gibt.
Welche Fehler werfen Sie dem EGMR bei seiner am vergangenen Mittwoch
veröffentlichten Entscheidung vor?
Erstens hat er bestritten, daß die Urteile der deutschen Vorinstanzen auf
Willkür beruhen.
Zweitens sagt er, es sei nicht grundsätzlich so, daß Staaten für
die Taten ihrer Vorgängerstaaten haften müßten. Das sehen wir uns
noch genau an. Allerdings haben bisher alle deutschen Regierungen, Gerichte
und Staatsrechtler die zwar merkwürdige, aber durchgängige Auffassung
vertreten, das Deutsche Reich sei niemals untergegangen, und die
BRD sei kein Rechtsnachfolger, sondern identisch mit dem Deutschen Reich. Dahinter
steckte früher die Option auf die Wiedervereinigung und der Anspruch
auf die Ostgebiete. Der EGMR scheint nicht begriffen zu haben, daß
diese Rechtsansicht in Deutschland vorherrscht. Letztere hätte jetzt
aber auch zur Konsequenz, daß man die Erblast mitträgt und
Verbrechen entschädigen muß.
Drittens will der Gerichtshof nicht erkennen, daß es in Europa eine
verbreitete Rechtsauffassung gibt, wonach einzelne Bürger Ansprüche
gegen Staaten erheben können. Dabei blendet er aus, daß griechische
und italienische Gerichte solche Entschädigungsansprüche von Kriegsopfern
ausdrücklich anerkennen.
Was bedeutet die Entscheidung für weitere Verfahren?
Für alle Fälle, die sich auf den Zweiten Weltkrieg und die deutsche
Besatzung beziehen, heißt das, daß in Deutschland keine Ansprüche
durchgesetzt werden können. Wir prüfen derzeit noch, die Große
Kammer des EGMR anzurufen.
Betrifft das auch die Opfer von Bundeswehr-Verbrechen, wie etwa in Afghanistan?
Nein, das schließt nicht aus, daß in Fällen wie dem Bomberangriff bei Kundus
oder in Exjugoslawien individuelle Ansprüche bestehen, weil sich das Recht
ja weiterentwickelt hat. Strasbourg sagt ja nicht, daß solche Ansprüche
illegitim sind, sondern daß die Entscheidung allein bei den deutschen
Gerichten liege. Der Weg für die Opfer heutiger Verbrechen, in Deutschland zu
klagen, ist damit nicht verstellt.
Das letzte Wort in Sachen Distomo-Entschädigung ist aber noch nicht gesprochen...
Genau. In Griechenland hat der Oberste Gerichtshof schon 2000 die Ansprüche
der Distomo-Opfer anerkannt. Italienische Gerichte haben entschieden, daß
die Vollstreckung auch in Italien möglich ist, in Form von
Zwangspfändungen deutschen Staatseigentums. Aber dagegen ist die BRD vor
den Internationalen Gerichtshof nach Den Haag gezogen. Eine Entscheidung wird
dort wahrscheinlich erst nächstes Jahr getroffen.
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