Kommentar zur Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
in Sachen Sfountouris vom 9. Juni 2011

5 Jahre ließen sich die Strassburger Richterinnen und Richter Zeit, um ihre Entscheidung zu treffen, die Beschwerde der Geschwister Sfountouris aus Distomo/Griechenland als nicht zulässig abzuweisen. Diese hatten vor bundesdeutschen Gerichten erfolglos auf Entschädigungsleistungen durch den deutschen Staat geklagt und sich letztlich nach Strassburg gewandt. Die vier Geschwister hatten als Kinder das Massaker vom 10. Juni 1944 überlebt, ihre Eltern waren wie 216 weitere Menschen von deutschen Truppen ermordet worden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah in den Urteilen der deutschen Gerichte keinen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Die Entscheidung aus Strassburg ist rechtlich falsch und setzt ein fatales politisches Signal. Mit der Begründung ihrer Entscheidung stellt das Gericht dem bundesdeutschen Staat und seiner Justiz einen Blankoscheck aus, Opfern von NS-Verbrechen Entschädigungsleistungen zu gewähren oder nicht. Opfer von NS-Verbrechen haben damit keine Möglichkeit, vor deutschen Gerichten Entschädigungsleistungen zu erstreiten, sofern nicht die Bundesrepublik Deutschland spezielle gesetzliche Vorschriften hierfür nachträglich geschaffen hat. Solche Vorschriften schließen aber gerade ausländische Anspruchsteller, die Opfer von Kriegsverbrechen wurden, nicht mit ein.

Die Beschwerdeführer_innen hatten in ihrer Beschwerde ausführlich dargelegt, warum ihnen Ansprüche aus internationalem Recht (Art. 3 Haager Abkommen von 1907) und aus deutschem Recht (Amtshaftung) zustehen. Eine Auseinandersetzung mit deren Argumenten ist beinahe vollständig unterblieben. Der EGMR will nicht anerkennen, dass die Entscheidungen aller deutschen Gerichte offensichtlich willkürlich waren. So hatte der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung von 2003 den bis dahin nicht existierenden Rechtsgrundsatz erfunden, im Krieg würde das gesamte nationale Recht suspendiert und darauf gestützt eine Entschädigungspflicht abgelehnt.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2006 das Massaker von Distomo als ”unerlaubten Exzess einer an sich zulässigen Vergeltungsmaßnahme” bezeichnet. Dem Bundesverfassungsgericht zufolge habe es sich für die Ermordeten um ein allgemeines Kriegsschicksal gehandelt. Mit dieser Argumentation wird die historische Wahrheit verleugnet und verharmlost. Die massenhafte Tötung von Zivilisten war kein allgemeines Kriegsgeschehen, sondern Ausdruck des nationalsozialsozialistischen Vernichtungswillens. Angesichts der Verbrechen der deutschen Besatzer in Griechenland, die auf Grundlage eines ”Bandenbekämpfungsbefehls” Hitlers allein mindestens 30.000 Zivilisten bei sogenannten Sühnemaßnahmen ermordeten, war gerade diese Begründung für alle griechischen Opfer ein Schlag ins Gesicht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Chance vertan, diese ignorante Haltung der deutschen Gerichte und der Bundesregierung zu korrigieren und für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Beschluss aus Strassburg ist aber nicht die letzte Entscheidung in der Auseinandersetzung um Entschädigung. Die Überlebenden aus Distomo werden weiter ihr Recht suchen, vor nationalen und internationalen Gerichten, sowie auf politischer Ebene.

Hamburg, den 7. Juli 2011
Martin Klingner
Rechtsanwalt

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