Reader zur Veranstaltungsreihe der antirassistischen Gruppe Leipzig
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No Borders - eine Sommeridylle

Grenzcamps- Kontaktaufnahme zwischen Aufklärung, Vermittlung, Provokation und politischer Intervention

Aus eins mach drei

Beim ersten Grenzcamp in Rothenburg ‘98, an der Grenze zu Polen, war das Hauptthema die Festung Europas, denn der Brennpunkt der Illegalisierung war nach der Gesetzesänderung ‘93 die Grenze. Die strategische Bedeutung des Camps lag an der Thematisierung der bundesrepublikanischen Praxis des BGS und anderer staatlicher Institutionen wie z.B. die Strafverfolgungsbehörden. Es war die Hochzeit der Kriminalisierung von TaxifahrerInnen, die des Schleusens bezichtigt wurden. Das Thema Fluchthilfe war damit in den Vordergrund gerückt. Aber auch die Denunziationspraxis der Bevölkerung entlang der Grenzen wurde attackiert. Wichtig war uns die Zusammenarbeit und die Unterstützung von Gruppen vor Ort und diese funktionierte sehr gut und wirkt bis heute. Die Ostgrenze war aber auch noch aus einer anderen Sicht eine Herausforderung: Fast alle sagten, dort kann mensch nicht campen, das ist zu gefährlich. Linke Freiräume zu schaffen, wenn auch nur temporär, war von daher das erklärte Ziel. Des weiteren wurden durch das Camp verstärkt Kontakte in die benachbarten östlichen Länder aufgebaut. Aus diesem Konglomerat entstand der Impuls für weitere Camps innerhalb Europas, z.B. an der polnischen Ostgrenze. Das erste Camp war für uns ein so großer Erfolg (auch wenn es medienmässig nur lokal aufgegriffen wurde und der Medienhype erst beim dritten Camp in Forst stattfand), dass ein zweites folgte.

Politische Wirkung nach „ innen“

Hatte das Camp in Rothenburg anfangs noch einen stark improvisierten Charakter, was die Debattenkultur, aber auch die Infrastruktur betraf, wurde das Infrastrukturelle immer besser und der „Freiraum“ Camp erhielt zunehmend die Bedeutung von experimentellem Raum. Nach dem Scheitern von revolutionären Umwälzungen in Vietnam und in Nicaragua fehlten uns Linken Projektionsflächen, auf denen wir schauen können, wie andere versuchen, Utopien von Gesellschaftsmodellen umzusetzen. Viele reisten deswegen dahin, andere versuchten dies hier im Kontext von Groß -Kommunen oder im Rahmen der Alternativbewegung - wobei größtenteils die direkte Konfrontation zum gesellschaftlichen System fehlte. Auf den Camps ist zumindest im Mikrokosmos für neun Tage beides möglich: in Konfrontation zu stehen und zu probieren, wie Zusammenleben funktionieren kann, wie Entscheidungen entstehen und umgesetzt werden, wie mit Verschiedenheit umgegangen wird. Die Streitkultur nahm von Camp zu Camp zu. ‘98 gab es noch zwei, zeitlich versetzte Camps: eines von Frauen/Lesben und ein gemischtes, in dem es keinerlei Debatten z.B. über Sexismus gab. Seit Zittau ‘ 99 verdichteten sich die Konflikte und führten auf dem Forster Camp dazu, dass eine heftige Auseinandersetzung über den Zusammenhang bzw. das mögliche Ineinandergreifen von Sexismus und Rassismus geführt wurde. Die Debattenkultur verlief innerhalb von AGs wie auch auf Plena mit Hunderten von Leuten. Zwar gibt es bei Kongressen ebenfalls Diskussionen im großen Rahmen, aber dort bleibt ein Diskurs ohne zwingende Folgen, im Gegensatz zu den Camps. Das macht ein Camp so spannend. Es ist auch ein Ort, um Gesellschaftlichkeit zu denken, also nicht nur, wo ist das nächste Nazinest oder wo findet die nächste Abschiebung statt, die es zu verhindern gilt. Die Grenze des Experiments ist allerdings dort gegeben, wo außer einem Auftanken - dem Erleben einer Gegenmacht - den Rest des Jahres nicht viel folgt. Innerhalb des Vorbereitungskreises existiert bundesweit eine gewisse gleichbleibende, verbindliche Struktur, was einer Art Organisierung gleicht, denn diese Struktur ist zum Teil auch auf anderen Events anzutreffen - sei es beim Castor oder demnächst in Genua. Die Campidee ist aus dem Zusammenhang „kein Mensch ist illegal“ heraus geboren worden, wobei diese Struktur anfangs dezentral war und sich erst mit den Camps und der Lufthansakampagne bundesweit vernetzte. Aber auch im Rahmen der Camps fehlt die Erweiterung, zu einer politisch-sozialen Bewegung werden zu wollen, von der das Grenzcamp ein Teil ist und nicht wie momentan ein herausragendes Moment des Jahres bleibt.

Politische Wirkung - nach „außen“

Mit dem Ziel der Aufklärung wurden unterschiedlichste Aktionsformen gewählt. Eine Campzeitung (Auflage 10.000) wurde verteilt, Straßentheater und Veranstaltungen organisiert, aber auch Irritationen - ein bekanntes Radrennen wurde von uns als Bühne benutzt - , Fakes und Provokationen - ein Film mit dem vermeintlichen aktuellen Thema Sonnenfinsternis konfrontierte die Bevölkerung letztendlich mit Flucht und Migration - und weitere Taktiken der Kommunikationsguerilla wurden eingesetzt. Aber auch politische Interventionen mit dem Versuch, das rein Symbolische zu überschreiten, wie die Blockaden beim Schichtwechsel vor einer BGS-Kaserne oder der Zufahrt zu einer BGS- Einrichtung. Es war offensichtlich schwierig für alle gesellschaftlichen Kräfte uns genau einzuschätzen, denn wir selbst agierten in dem Spannungsfeld zwischen MenschenrechtsaktivistInnen und Autonomen, das war bei den Bullen oft zu spüren, ebenso bei den Medien und bei der Bevölkerung. Nur die jeweiligen Bürgermeister hatten in uns immer die klaren StaatsfeindInnen erkannt, die es zu bekämpfen galt, was sich jedes Mal in heftigen politischen Kämpfe um die Platzfrage äußerte, die immer zu unseren Gunsten ausgingen. Die Zusammenarbeit mit Flüchtlingen wurde von Camp zu Camp intensiver. In Zittau stieß die afrikanische Flüchtlingsorganisation „The Voice“ dazu und ist seither mit dabei. Dort gelang auch der erste materialisierte Erfolg, nach dem Camp wurde das dortige, miserable Flüchtlingsheim geschlossen und die Flüchtlinge in anderen Heimen untergebracht. Doch auch da offenbart sich die Grenze dieser Politikform, denn es hätte gut arbeitende Gruppen vor Ort geben müssen, um z.B. die Flüchtlinge ganz aus diesen elendiglichen Heimen zu kriegen. Die Angst vor den Nazis an der deutschen Ostgrenze schien berechtigt zu sein, haben sie gerade in Sachsen etliche sogenannte „national befreite Zonen“ und ihr Säbelrasseln vor jedem Camp war entsprechend aufgeblasen. Die Stärke der Camps hat jedenfalls immer ausgereicht, ohne Nazistress zu leben, und auch die Angriffe in den Städten verstummten zumindest für die Zeit unserer Anwesenheit. Ein Nazikader erbat in Zittau ein Friedensabkommen und erhielt nur Hohn und Spott als Antwort, da die führenden Nazi-Strukturen während des Camps phantasievollen und offensichtlich sehr wirkungsvollen Aktionsformen ausgesetzt waren und von den Nazis keine Gefahr ausging. Die Bevölkerung reagierte von Neugierde, teilweise auch Unterst tzung bis hin zur bekannten Ablehnung und Hasstiraden. Das Medienecho steigerte sich, v.a . im letzten Sommer, wo wir als aktive Bastion gegen Rassismus entdeckt wurden und dies sogar weltweites Echo bis hin nach Japan, Tschechien, in die Ukraine und nach Brasilien fand.

Aus eins mach viele

Dieses Jahr wird es gegen die Festung Europa, insbesondere gegen die Grenzaufrüstung mittels EDV, Nachtsichtgeräten oder Schnellbooten, die schon Tausenden das Leben gekostet haben, eine internationale Campkette geben. Denn eine Einreise von Flüchtlingen ist durch das Konstrukt „ sicherer Herkunftsländer „, der sogenannten Drittstaatenregelung und den bilateralen Rückübernahmeabkommen immer riskanter und teurer geworden. Mit der EU-Erweiterung verlagert sich diese Grenze Richtung Osten. Beitrittsbedingung ist die Anpassung an die schengen-europäische Asyl- und Migrationspolitik, also Aufrüstung der Grenzen, Installierung von Lagern und Abschiebeknästen, Übernahme der herrschenden Visa- und Asylpolitik sowie verstärkte Kontrollen im Hinterland.

Unter anderem dagegen richten sich die Camps im südspanischen Tarifa (v om 2.- 8.7.), im ostpolnischen Bialystok/Krynki (vom 5.- 12.7.), im slowenischen Petisovci bei Lendava (vom 4.- 8.7.), in Genua gegen den G8-Gipfel (vom 19.- 22.7) und in Frankfurt am Flughafen (vom 27.7.- 5.8.).

Unsere Entscheidung dieses Mal von der deutschen Ostgrenze wegzugehen hat u.a. damit zu tun, dass das Grenzregime nicht nur an der Außengrenze verläuft, sondern ebenso intern v.a. am Frankfurter Flughafen mit seinem exterritorialem Internierungslager (größter Abschiebeflughafen in der BRD und einzige „legale“ Asyleinflugschneise), mit den enormen alltäglichen Kontrollen, die für Illegale Knast und Abschiebung bedeuten. Rassistische Grenzpolitik bedeutet auch Residenzpflicht, Arbeitsverbot, Meldepflicht, Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltserlaubnis für nützliche MigrantInnen und repressives Vorgehen gegen sogenannte unnütze. Hinzu kam, dass unsere Aktionsideen für die Ostgrenze ausgereizt waren und wir fanden, dass auch Regionen wie das Rhein-Main-Gebiet politische Entwicklungshilfe benötigen und nicht immer nur der „ arme“ Osten. Allerdings stellt uns die Rhein-Main-Region vor neue Herausforderungen: sei es der Multi-Kulti-Rassismus, der sich vom völkischen sehr wohl abhebt, sei es die globale Menschen- und Waren-Drehscheibe Flughafen, seien es die in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen geübten PolitikerInnen und Apparate (siehe Startbahnbewegung damals und heute, da sie mit Mediationsverfahren befriedet werden soll) oder sei es die gesättigte Medienlandschaft, wo wir mit 500- 1000 Menschen nicht zwangsläufig durch unsere kulturell-politische „ Fremdheit“ provozieren, sondern durchaus von dem Multi-Kulti-Wattebausch aufgefangen werden können. Aber wir befinden uns mitten in der „ Einwanderungsdebatte“ , in der das Camp eine wichtige Rolle spielt, nämlich die, uns darin zu positionieren. Um einer Vereinnahmung durch Politik und Medien entgegenzuwirken und die eigenen Standpunkte vermitteln zu können bedarf es in diesem Jahr größerer organisierter und politischer Vorbereitung als bisher.

Uschi, Mitorganisatorin des Grenzcamps

Zuerst veröffentlicht in Phase 2, 01/2001

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