Die Green Card ist kein Beitrag zur globalen
sozialen Gerechtigkeit
In ganz Europa bahnt sich ein Wandel in der Migrationspolitik an. Die bislang
vorherrschende restriktive Asylpraxis wird ergänzt um neue Konzepte der
Arbeitsmigration. Auf der Innenministerkonferenz im Juli 2000 in Marseille
hatte der französische Vertreter und seinerzeitige Präsident des
Europarats Chevenement, stellvertretend für alle Mitgliedsstaaten
verkündet, Europa bräuchte bis zum Jahre 2050 rund 75 Millionen
Immigranten. [1] Dies geht sowohl zurück auf die 1999 im Rahmen der
Europaratskonferenz in Tampere getroffenen Vereinbarungen für eine neue
Einwanderungspolitik, [2] als auch den UN Bericht über
Auffüll-Migration. [3] Diese Ankündigungen hatten zunächst nur
für geringe Aufmerksamkeit gesorgt. Monate später allerdings
entbrannten Debatten in den einzelnen Mitgliedsstaaten: In Deutschland
eröffneten Forderungen aus der Industrie die Green Card Debatte, in
Italien verlangten die Unternehmerverbände eine Verdoppelung der
Einwandererquote auf 180.000, um der Arbeitskräfteknappheit in Industrie
und Landwirtschaft zu begegnen, derweil kündigte die englische
Innenministerin auf Druck von Finanz- und Industrieverbänden vereinfachte
Regelungen für die Arbeitsmigration an.
Mit der Rezession von 1970/71 wurden EU-weit Anwerbe- und Einwanderungsstops
erlassen, offiziell galt seither das Bild vom vollen Boot. Alle Versuche, die
ArbeitsmigrantInnen des Nachkriegsbooms zu repatriieren, schlugen allerdings
weitgehend fehl, ganz im Gegenteil folgte eine Phase des Familiennachzugs.
Weitgehend unbeachtet bestanden aber Formen der regulierten und vor allem
temporären Arbeitsmigration fort, Werkvertrags- oder
KontingentarbeiterInnen wurden auch weiterhin angeheuert. Seither ist die
Anwesenheit von BürgerInnen oder BewohnerInnen
außereuropäischer Herkunft eine vielfach ungeliebte soziale
Realität. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs eröffneten sich
Migrationswilligen ganz neue Wanderungsrouten. Anders als in der Phase der
Anwerbung und im Gegensatz zur kontrollierten Praxis der Werkverträge
waren es die MigrantInnen selbst, die mit den Füssen abstimmten und in
Länder ihrer Wahl gingen. Die Tatsache, daß ihnen überwiegend
nur das Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention als gesetzlicher
Rahmen zur Verfügung stand, verdeckt und erschwert den Blick auf die
ökonomischen und sozialen Momente. Individuellen Migrationsentscheidungen
liegt selten nur ein, beispielsweise politisches Motiv zugrunde. Sie sind in
der Regel komplex und repräsentieren sowohl die ganze Bandbreite
menschlicher Lebensformen, als auch der Folgen globaler sozialer
Ungerechtigkeit. Migration ist selten schlicht politische Flucht, sondern
häufig Teil von Überlebenstrategien und -ökonomien. Sie
reflektiert den Anspruch auf Überleben, Freiheit vor Verfolgung ebenso,
wie auf ein Einkommen, auf Familienzusammenleben, auf Ausbildung oder auf
Frauenrechte. Dennoch spitzte sich europaweit der Konflikt um die neuen Formen
der Zuwanderung entlang der Asyldebatte zu. Hysterisch geführten
Asylbetrügerdebatten folgten Gesetzesverschärfungen,
Internierungspraxis und Massenabschiebungen der Unerwünschten. Die
Feindkonstruktion Asylant schweißte europaweit die
Staatsbürger zusammen; in einer Periode fundamentaler Deregulierung der
Arbeitsmärkte, dem Abbau von sozialen Garantien und Sicherheiten
formierten sich soziale Bewegungen eher um ausländerfeindliche und
rassistische, denn um fortschrittliche Ansätze.
Auf der anderen Seite fanden sich die Ausgegrenzten beispielsweise in
Großbritannien und Frankreich zu sozialen Bewegungen zusammen, an deren
Spitze in der Regel jugendliche MigrantInnen standen. Unterstützt wurden
sie von der Elterngeneration und waren insgesamt recht wirkungsvoll.
Während der 80er (England) und 90er (Frankreich) Jahre gingen im Zuge von
urbanen Revolten nicht nur Polizeiwachen und ganze Straßenzüge in
Flammen auf. Tatsächlich geriet der soziale Friede ernsthaft und dauerhaft
ins Wanken. Selbst konservative und der Deregulierung verschriebene Regierungen
sahen sich gezwungen, entgegen ihrer eigentlichen Überzeugung
weitreichende Integrationsangebote zu machen, nachdem die Exekutive die
Kontrolle auf der Straße vielfach verloren hatte. Nur durch den Druck auf
der Straße und als Resultat sozialer Konflikte konnten in
Großbritannien zivilgesellschaftliche und multi-kulturelle Konzepte
Fuß fassen. In Deutschland allerdings, wo die Legislative ethnische
Minderheiten auch in der dritten Generation den Status des
Ausländers zuschreibt, immer verbunden mit dem Damoklesschwert
der Abschiebung bei Auffälligkeit, blieben solche Prozesse aus. Selbst
ausländerfeindliche Schmutzkampagnen sind auf keine nennenswerte
kollektive Empörung gestoßen. Sowohl die Kopftuchkontroversen, als
auch die Mehmet-Debatte oder die CDU-Kampagne gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft blieben von unten unbeantwortet. Ebenso blieben
Solidarisierungseffekte unter verschiedenen Nationalitäten oder zwischen
der Kategorie der Ausländer und der der
Asylsuchenden weitgehend aus. Nur den Mordanschläge von
Solingen und Mölln folgten massenhafte Proteste, die allerdings mit einer
Abschiebedrohung erstickt worden waren. Obwohl die in Europa sichtbare Spitze
der Weltmigrationsbewegung eine ungeheure Herausforderung darstellte und obwohl
die Solidaritätsbewegung in ganz Europa verankert ist, ging der
jüngste Ansturm trikontinentaler Massen auf westlichen Reichtum und
relative Verfolgungssicherheit nicht über in sozialrevolutionäre
Bewegungen, wie man angesichts der Revolten der 80er Jahre hätte
mutmaßen können.
Vielmehr machten sich die neuen Migranten millionenfach unsichtbar, sie
revoltierten nicht, sie versteckten sich oder wurden versteckt. Heute werden in
den Grenzen der EU 5 bis 8 Millionen Menschen ohne Aufenthaltsstatus vermutet,
[4] je nach Sichtweise mal Illegale mal Papierlose
genannt. In Deutschland liegen die Schätzungen zwischen 0.5 und 1.5
Millionen. [5] Gleichzeitig sind Momente sichtbar geworden, die dies aus
unterschiedlichen Motiven decken und fördern. Sie beinhalten krasse
Ausbeutung oder Zuhälterei, aber auch Familiensinn, Humanismus und
politischer Wille stellen Strukturen zur Verfügung, in denen sich
irreguläre MigrantInnen bewegen können. Diese Mitwisser auf die
Millionen von Papierlosen in Europa hochzurechnen, mag allzu
hypothetische Ergebnisse zeitigen, dennoch, es sind viele, es gibt
Papierlose und deren UnterstützerInnen in sprichwörtlich
jedem Dorf und jedem Straßenzug.
Paradoxerweise hat die häufig mit rassistischen Tönen geführte
Asyldebatte einerseits dazu geführt, rechtliche und soziale Sicherheiten
abzubauen, insbesondere jedoch legale Einreise- und Aufenthaltsrechte
einzuschränken, andererseits hielt die Exekutive nicht Schritt. Deshalb
koexistieren heute in allen EU-Staaten effektive Grenzkontrollen mit
gleichzeitig steigenden Zahlen irregulärer MigrantInnen. Ebenso existieren
effiziente Abschiebemechanismen und Massenabschiebungen als auch eine gewisse
laissez-faire-Haltung gegenüber Illegalen,
insbesondere illegalen Arbeitern nebeneinander her.
Tatsächlich hat der Markt seine eigenen Gesetze, es gibt in ganz Europa
Millionen von Arbeitsplätzen für Nicht-EuropäerInnen, für
AusländerInnen und für irreguläre MigrantInnen. Ganze
Industrien, wie die Landwirtschaft, die Bauindustrie, Gastronomie und
Hotelerie, das Reinigungsgewerbe, allgemein der Dienstleistungssektor basieren
auf der illegalen Arbeit. Dies zeigt, daß erstens die bisherige Form der
Migrationskontrolle gescheitert ist an dem unbedingten Willen der MigrantInnen
selbst (und deren Unterstützern) und zweitens daß sich
Arbeitsmarkgesetze und politisch motivierte Einwanderungsgesetze in einem
Widerspruch zueinander befinden.
Die aktuell in Europa enbrannte Diskussion um Einwanderungsgesetze und Green
Cards (Deutschland), Work Permits (England) und Quoten (Italien) wird
allerdings durch andere Überlegungen motiviert. Die Industrienationen
sehen sich heute erklärtermaßen vor fünf bedeutenden Problemen:
erstens dem Geburtenrückgang, oder plakativ ausgedrückt einer
Reproduktionsverweigerung vor allem von Frauen, woraus sich eine
Bevölkerungsstruktur ergibt, in der der unproduktive Anteil der
Bevölkerung zunimmt zuungunsten des produktiven. [6] Zweitens der damit
einhergehenden Sorge um die Sicherung der sozialen Sicherungssysteme. [7]
Drittens einer Arbeitskräfteverknappung, [8] aber auch einer
Arbeitsverweigerung in diversen Sektoren. In der Landwirtschaft ist es
bekanntermaßen schwer, Beschäftigte für die niedrigentlohnte
Knochenarbeit zu bekommen. Viertens ist, wie beispielsweise im IT-Sektor ein
globaler Wettbewerb um Fachkräfte entbrannt, in dem die USA mit immer
neuen Zuwanderungserleichterungen den Schrittmacher spielen. Fünftens
werden auch noch Defizite im Ausbildungssystem genannt, die den
Fachkräftemangel begründen. Und sechstens geht die Liberalisierung
genannte Deregulierung der europäischen Arbeits- und
Dienstleistungsmärkte in die letzte Runde. Nicht zufällig sind es
DemographInnen, RentenexpertInnen und Industriellenverbände, die auf
Einwanderung drängen. Vor allem die Lobby der Industrie preist die
Vorzüge der Arbeitsmigration. HistorikerInnen ist der Zusammenhang von
Migration und Entwicklung ohnehin bekannt, dem Kapitalismus, insbesondere
dessen Innovationszyklen ist die Kombination aus Vertreibung, Hungersnot,
Völkermord und Migration immanent. Einhegungsprozesse, Enteignungen,
Pogrome und Vertreibung sind relevant für Anfänge des Kapitalismus in
England, die Industrialisierung des Ruhrgebiets oder die Entwicklung der USA
gewesen.
Tatsächlich ist auf dem Weltarbeitsmarkt bereits ein Konkurrenzkampf um
bestimmte Berufsgruppen (IT-Fachkräfte, Krankenhaus- und Pflegepersonal,
Ingenieure) entbrannt, zum anderen sollen die nationalen Arbeitsmärkte dem
globalen Wettbewerb geöffnet werden. Die Unternehmer-Lobby in der
Europäischen Kommission und bei der World Trade Organisation denkt nicht
nur an die Arbeitskräfteknappheit, sondern beabsichtigen, Löhne,
Preise, Lohnnebenkosten und darüber sozialstaatliche Standards mit der
Konkurrenz aus dem Ausland massiv unter Druck zu setzen. Das Allgemeine
Abkommen für den Dienstleistungshandel, die Sektoren Bau-, Gesundheits-,
Bildungs-, Umwelt- und Soziales umfassend, (GATS) beispielsweise besagt,
Lohnkürzungen gehören zu den Hauptzielen. [9] Mit
erhöhter Zuwanderung, so rechnet exemplarisch die New York
Times aus, ließen sich die Löhne in bestimmten Sektoren um
rund 5 % drücken. [10]
Insofern geht der aktuelle Wandel im Migrationsdiskurs auf zwei wesentliche
Momente zurück, einerseits ist die Kontrolle über die globalen
Migrationsbewegungen weitgehend entglitten, andererseits spiegeln sich in den
unvermittelbaren Arbeitslosen, in der Rentendiskussion, dem
Geburtenrückgang oder den Standortdebatten soziale Frontstellungen wieder:
Liberalisierungsbefürworter versus Besitzstandwahrung und soziale
Ansprüche. Nun sieht es so aus, als könnte der Migrationsdruck
nutzbar gemacht werden, um gegen das Moment Besitzstandwahrung zu Felde
geführt zu werden. Die selektive Zurücknahme von
Zuwanderungsbeschränkungen für Arbeitnehmer könnte wie eine
Waffe im Kampf gegen das europäische Lohn- und Preisniveau wirken. Die
Öffnung für den Wettbewerb erscheint in diesem Licht vor allem als
ein Angriff auf das europäische Masseneinkommen und die in den Augen von
Wirtschaftsvertretern anachronistische und hinderliche Sozialverfassung.
Mit der selektiven Aufnahme ausländischer Arbeitskräfte wird
einerseits dem Migrationsdruck nachgegeben, andererseits eine Auswahl getroffen
und Wanderungswillige in nützliche und unnütze Menschen
unterschieden. Mit neuen Selektionskriterien versucht Europa wirksame
Instrumente zu entwerfen, mit denen man die Steuerung und Kontrolle über
die Migrationsbewegung wiederzugewinnen hofft. Kernelement der neuen
Entwürfe ist die Installierung neuer Kontrollposten, in deren Mittelpunkt
Selektionskriterien stehen, der britische Daily Telegraph
beispielsweise fordert ganz unverhohlen eine Qualitätskontrolle
darüber, wer reingelassen wird. [11] Doch wenn der nützliche
Ausländer einreisen darf, so wird der unnütze Ausländer,
für den auf dem Arbeitsmarkt keine Nachfrage besteht implizit
abgewiesen.
Tatsächlich wird zeitgleich zur Definition des erwünschten Migranten
der Kampf gegen die Unerwünschten verschärft. Auf der politischen
Ebene wird europaweit über die weitere Einschränkung des Asylrechts
nachgedacht. In Deutschland wird das Abschieberegime mit einer neuen
Rigorosität durchgesetzt. Bisher galt in Kampagnenkreisen, wer eine
Antiabschiebungskampagne zusammenbringt, hat gute Chancen ein Bleiberecht zu
erstreiten. Mittlerweile ist es umgekehrt, gerade jene, die sich gegen
Abschiebungen öffentlich wehren, bekommen die ganze Entschlossenheit der
Behörden zu spüren. Derweil diskutieren die EU-Innenminister auf
Initiative Frankreichs drastische Strafen für jene, die Beihilfe zu
illegalem Aufenthalt leisten. Auch im Rahmen der in den meisten
europäischen Ländern üblichen Regularisierungsprogramme für
Illegale ist neben familiären Bindungen der Nachweis eines
Arbeitsplatzes imperativ. Besonders deutlich wird diese Tendenz im Umgang mit
jugoslawischen und Kosovo-albanischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Die
massenhaften Ausweisungen wurden kürzlich in Bayern und
Baden-Würtemberg zurückgenommen, nicht etwa aus humanitären
Gründen, sondern weil die Handwerkskammern argumentierten, daß es
sich um unverzichtbare Arbeitskräfte handelt. [12]
Auf der politischen Bühne ist mittlerweile eine heiße Kontroverse
entbrannt. Es gilt als Binsenweisheit, daß man mit ausländer- und
einwanderungsfeindlichen Kampagnen Wahlkämpfe gewinnt, während
zuwanderungsfreundliche Politik Stimmen kostet. Zuletzt galt diese
Einschätzung für den Hessenwahlkampf und die Bedeutung der
CDU-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. In England
konsultierte die Innenministerin ersteinmal einen Wahlsoziologen, bevor sie
vorsichtig die Lockerung der Arbeitsmigration verkündete. Dort mahnen
einige Stimmen, in Europa würde die weiße Rasse unweigerlich in die
Minderheit geraten. [13] Der politische Eiertanz [14] ist vor allem
der Tatsache geschuldet, daß auf einmal plausibel sein soll, was
jahrzehntelang als Bedrohungsszenario galt. Er verläuft zwischen den
neoliberalen und dem völkisch-nationalen Pol, die Argumente reichen von
einer geregelten Zuwanderung für den Arbeitsmarkt, [15] bis zu
der Prämisse, daß die Beschäftigung deutscher
Arbeitskräfte, sowie von Arbeitskräften mit einem gesicherten
Aufenthaltsstatus
Vorrang hat vor der Zuwanderung
aus
Nicht-EU-Staaten. [16] Ihre Zuspitzung erfuhr diese Position in der
Kinder statt Inder-Kampagne. Tatsächlich wird den
völkischen Ideologen die neue Arbeitsmigration schmackhaft gemacht mit der
weiteren Verschärfung des Asylrechts und feinster Staffelung zahlloser
Kategorien von Aufenthaltstiteln und Rechten im Ausländerrecht.
Auch der Sinneswandel der Bundesregierung in Sachen Neonazis erklärt sich
im Lichte von Globalisierung und arbeitsmarkpolitisch begründeter
Migrationsdebatte. Nachdem Neonazis ein Jahrzehnt lang insbesondere
Flüchtlingen ein Leben in Angst zumuteten und zumindest in
billigend in Kauf genommen - ihren Part im Konzept der Abschreckungspolitik
spielten, widmet ihnen die Bundesregierung erst jetzt ihre ganze
Aufmerksamkeit. Es entsteht der Eindruck, als wirke die Gewalt der Straße
erst jetzt, zu einer Zeit kontraproduktiv, wo Migration wieder erwünscht
wird.
Schlußendlich versuchen die europäischen Regierungen der neuen Mitte
um Schröder, Jospin und Blair recht erfolgreich, sich die kritische
Intelligenzia über Bündnisse gegen Rechts, Zuwanderungskommission und
andere round table-Konstruktionen hereinzuholen. Nachdem das alte
Migrationsregime teilweise versagt hat, wird die linke Intelligenzia eingeladen
am Entwurf des neuen Migrationsregimes mitzuwirken.
Auf der anderen Seite müssen sich die außerparlamentarischen
Strömungen fragen lassen, ob sie den Zusammenhang von Migration und Arbeit
nicht allzusehr vernachlässigt haben. Das Vermächtnis von Arbeiter-
und Gewerkschaftsbewegung oder Syndikalismus spielt dort keine Rolle; die in
der Industriegesellschaft bedeutenste Form des Überlebens, der Verkauf von
Arbeitskraft ist kaum einmal Thema. Die Solidaritätsbewegung hat sich
festlegen lassen auf einen sehr engen Begriff von Flucht und Migration, den
Aspekt politischer Verfolgung. Andererseits wird sich auch die
Gewerkschaftsbewegung fragen lassen müssen, ob sie in ihrer Fixierung auf
den regulären Arbeiter zur Ausgrenzung der irregulären KollegInnen
nicht auch noch beiträgt. Es wird zu untersuchen sein, wie die neue
rassistische Sozialhierarchie aussehen wird, wie fein sie segregiert sein wird;
werden die rassistischen Abwehrhaltungen deutscher Arbeiter zunehmen; werden
die Konzepte von Arbeitsvölkern und Herrenmenschen neu belebt, wird die
multi-ethnische Gesellschaft, der gezähmte Rassismus nach englischem
Vorbild Einzug halten. Oder wird sich gar eine multinationale Solidarität
entfalten; gibt es eine Aktualität der International Workers of the World,
der Wobblies, nach dem Vorbild der US-Amerikanischen syndikalistischen
Assoziationen der 20er Jahre?
Schlußfolgerung
Die Durchsetzung europäischer Migrationspolitik ist im Umgang mit den
umliegenden Staaten, insbesondere seit den Lome III genannten Verhandlungen mit
den sogenannten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) bereits zu einem
zentralen strategischen Instrument einer neuen aggressiven
EU-Außenpolitik geworden. [17] Nun könnte Migrationspolitik auch in
der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu einem strategischen Hebel im Angriff auf
die hiesigen Lebensbedingungen werden. Die aktuellen Entwürfe spiegeln den
Versuch einer Anpassung des Migrationsregimes an aktuelle Gegebenheiten wieder,
sie laufen auf die Modernisierung des alten Prinzips, aber keineswegs auf einen
radikaler Neuentwurf hinaus. Weder ist die Bundesregierung über Nacht
antifaschistisch, noch ausländerfreundlich geworden, vielmehr wird der
alte völkische Nationalismus und Rassismus abgelöst durch einen
modernen Leistungsrassismus. Nicht mehr nur Herkunft, Nationalität und
Hautfarbe gelten als Zuwanderungskriterium, sondern Leistungsfähigkeit,
Ausbildung, Lohnhöhe und Nützlichkeit. Wirtschaftliche und
bevölkerungsökonomische Kriterien stehen vor nationalistischen
Überlegungen. Die Debatte zielt nicht auf ein Mehr an globaler sozialer
Gerechtigkeit, sondern hat die nationalen metropolitanen Interessen zum
Ausgangspunkt. Die EU-Staaten umgehen außerdem selbstgemachte
Ausbildungsdefizite mit einem brain drain aus der Dritten Welt, der
ebenfalls problematisch ist, weil gut ausgebildetes Personal in die ohnehin
bevorteiligten Staaten abgezogen wird. Die Implantierung von Qualitäts-
und Nützlichkeitskriterien, aber auch von Quoten sind nur ein neues
Instrumentarium zum Ausschluß trikontinentaler Massenarmut. Ein derart
rationalisiertes Migrationsregime steht ganz in der Tradition sozialtechnischer
Modelle auf globalem Niveau. Der (arbeits-) markwirtschaftliche
Wert eines Menschen wird als entscheidenden Faktor etabliert gegen
die Vielfältigkeit von Migrationsmotiven: Armut, Verfolgung, Flucht vor
Krieg, Hunger oder Umweltkatastrophen, Frauenunterdrückung, der Wunsch
nach Weiterbildung, Ehe, Liebe oder einfach nach Veränderung und
Abenteuer. All diese menschlichen oder politischen Motive, daß Prinzip
der individuellen Selbstbestimmung werden einem einzigen fremdbestimmten
Kriterium untergeordnet. Ein solches System ist zutiefst inhuman, es setzt
nicht am Menschen, sondern am Markt an. Es kann jedoch keinen unbefangenen
Umgang mit dem Prinzip der Selektion geben: an dem hängt in letzter
Konsequenz der Geruch von Kaltblütigkeit, Berechnung und Tod. In welchem
Maße diese Politik umgesetzt werden wird, in welchem Maße sie
realitätsmächtig werden wird, entscheidet sich allerdings erst im
Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte. MigrantInnen werden
sich auch auf diese Regelungen einstellen, sie für ihre Interessen zu
nutzen suchen, sie unterlaufen oder umdrehen. Immerhin also besteht die
Aussicht, daß mit dem politischen Kurswandel auch eine jahrzehntelange
Blockierung der Konstellation der gesellschaftliche Kräfte aufbricht und
den sozialen Bewegungen, zivilgesellschaftlichen Initiativen und politischen
Ansätzen neue Spielräume ermöglicht. Schon ist das Arbeitsverbot
für Asylsuchende gefallen, der Nachweis eines Arbeitsplatzes kann zu einem
neuen Argument in Bleiberechtskampagnen werden, vielleicht gewinnt die Einsicht
an Boden, auch hierzulande Regularisierungsprogramme aufzulegen.
Schlußendlich ist zu hoffen, daß der zuwanderungsfeindliche Konsens
und die verbreitete Xenophobie an Boden verliert.
Franck Düvell, Dr. phil, Soziologe an der University of Exeter,
Mitarbeiter im Antirassismusbüro Bremen,
Fußnoten
1 Guardian, 28.7.2000, Europe should accept 75m new migrants
2 Presidency Conclusions of the Tampere European Council 15. & 16.October
1999, (SN 2000/99;Communication from the Commission to the Council and the
European Parliament, Communication from MrVitorino in agreement with Mrs
Diamantopoulou: On a community immigration policy, Com 11, 2000
3 Population Devision, Department of Economic and Social Affairs (2000):
Replacement Migration: is it asolution to declining and ageing populations?,
United Nations Secretariat 21.3.2000, (ESA/P/WP.160)
4 Zum Vergleich, in den USA sind es 5.5 Millionen
5 Alt, J. (2000): Illegal in Deutschland, Karlsruhe: von Loeper
Literaturverlag; Autorenkollektiv (2000): OhnePapiere in Europa, Berlin:
Schwarze Risse/Rote Straße/VLA
6 siehe beispielsweise: Eurostat Working Paper on National and Regional
Population Trends in the EuropeanUnion, 3/1999/E/n8
7 European Commission (2000): The future of social protection from a long-term
point of view: safe andsustainable pensions, COM 2000)622
8 siehe beispielsweise European Commission (2000): Joint Employment Report
2000, COM (2000)551
9 Le Monde diplomatique, 2.7.2000, George, S., Gould, E.: Die Liberalisierung
kommt auf leisen Sohlen
10 New York Times, 4.9.2000
11 Daily Telegraph 4.9.2000
12 siehe beispielsweise: Die Tageszeitung, 11.12.2000, Platen, A.: Die schicke
ich nirgendwo hin Dasörtliche Handwerk will nicht auf die
fleißigen, voll integrierten Arbeitskräfte aus dem Kosovo
verzichten
13 Daily Telegraph, 4.9.2000
14 Neue Züricher Zeitung, 8.12.2000
15 Dieter Hundt, Arbeitgeberpräsident, auf dem Arbeitgebertag am
21.11.2000, siehe Tageszeitung,23.11.2000
16 Erklärung der Innenminister der CDU-regierten Länder, siehe
Frankfurter Rundschau, 4.7.2000
17 In den Verhandlungen über die Lome III Konvention zwischen der EU und
den AKP-Staaten drängte die EUauf eine Verknüpfung jedlicher
Entwicklungs- und Handelsabkommen mit Rücknahmeabkommen vonMigranten,
Abschüblingen und Transitmigranten aus Drittstaaten ungeachtet ihrer
tatsächlichen Herkunft.Einzelheiten siehe in: Statewatch Bulletin, Vol.
10, No. 6, 6.2000
Veröffentlicht u.a. im Klarofix 06/2001
|