Wer sich das Hausrecht nimmt
Die deutsche Debatte um Einwanderung und Integration
Seit langem lautet eine utopische politische Forderung, dass alle
Menschen die Möglichkeit besitzen sollten, dort zu leben, wo sie es
wünschen. Utopisch ist diese Forderung, weil die Welt in Nationalstaaten
organisiert ist. Und die von diesen betriebene Integrationspolitik zielt auf
Selektion: Kommen und bleiben darf nur, wer dem Staate nützt.
Wir sind an die Grenze der Aufnahmefähigkeit von Ausländern
gekommen, weil wir sie nicht mehr integrieren können, stellte Roland
Koch noch im August letzten Jahres kategorisch fest. Diese Perspektive ist
längst überholt, inzwischen ist man sich fast parteiübergreifend
einig, dass Deutschland Zuwanderung brauche, da das Boot immer leerer
wird (Saarlands CDU-Ministerpräsident Müller). Der Zwang zur
Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten der Globalisierung und die Rentenversorgung
machten es mittlerweile erforderlich, eine wirtschaftlich und
demographisch notwendige Zuwanderung zu organisieren. Einwanderung ist
also mittlerweile ausdrücklich erwünscht. Allerdings behält sich
der Staat die Entscheidung darüber vor, wer und wieviele kommen
dürfen. Das zukünftige Einwanderungsgesetz wird die quantitativen und
qualitativen Grenzen des Zuzugs festlegen. Im Mittelpunkt der Reform stehen
weder die Korrektur der bestehenden Politik, die Zuwanderern die politische und
soziale Integration systematisch erschwert, noch die rassistischen Zumutungen,
denen sich etwa diejenigen tagtäglich ausgesetzt sehen, die nicht
klassisch deutsch aussehen. Vielmehr geht es um Selektion. Und zur
Legitimation des angestrebten Auswahlverfahrens behält Kochs Rede von den
Grenzen der Integrationsfähigkeit Deutschlands ihre Gültigkeit, denn
er meint damit nicht etwa die deutsche Unwilligkeit, Zuwanderer zu integrieren,
sondern spielt auf eine vermeintliche kulturelle Unvereinbarkeit bestimmter
Einwanderergruppen mit hiesigen Gebräuchen an. Ihre Andersheit
wird besonders hervorgehoben und damit ihr Ausschluss aus dem Pool der mit dem
deutschen Wesen kompatiblen Migrantlnnen gerechtfertigt. Es wird also nach wie
vor kein Zweifel daran gelassen, wer das Hausrecht prägt und wer zu
Gast ist (Laurenz Meyer). In der absurden Debatte um die deutsche
Leitkultur kündigte sich die zukünftige Einwanderungspolitik
an: Nach Kräften bemühten sich Leitkultur-Vertreter
Charaktereigenschaften und Leistungen der Hausherren zu identifizieren, auf
denen das Recht basieren könnte, Hausregeln definieren zu dürfen. Der
verzweifelte Versuch, eine homogene deutsche Identität zu bestimmen,
entspringt nicht zuletzt der Angst, demnächst womöglich nicht mehr
Herr im eigenen Hause zu sein. Gegen diese Angst werden einige
ureigenste Funktionen des durch politische, wirtschaftliche und kulturelle
Phänomene der Globalisierung in vielfältiger Hinsicht bedroht
gesehenen Nationalstaats ins Feld geführt: Grenzsicherung,
Staatsangehörigkeitsrecht und Ordnungsfragen wie die
Ausländerpolitik. Der Staat soll kontrollieren, was deutsch ist.
Die Gretchenfrage
Und dabei wird die kulturelle Zugehörigkeit zur Gretchenfrage.
Während die einen eher auf dem Niveau der Unverletzlichkeit des deutschen
Reinheitsgebotes argumentieren, führen andere den
Verfassungspatriotismus1 und die Tradition des Abendlandes ins
Feld. Renate Künast formulierte drei Grundsätze des
Zusammenlebens, die ihrer Meinung nach Europa ausmachen.
Demokratie, Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit der Geschlechter. Es sei zum
Beispiel wichtig, einem Einwanderer aus Asien klarzumachen, dass in Deutschland
der Mensch zuerst als Individuum und nicht als Teil einer Gemeinschaft
verstanden werde. Damit werden nun aber lediglich Ideale des bürgerlichen
Nationalstaates zitiert, die dieser selbst an keinem Ort und zu keinem
Zeitpunkt in seiner Geschichte tatsächlich erfüllt hätte.
Kategorien, wie die von Künast genannten, dienen in der kapitalistisch
verfassten Gesellschaft schließlich dazu, den Individuen ihre Gleichheit
vorzugaukeln, obwohl sie in eben dieser Ordnung gar nicht zu verwirklichen ist.
Vor allem aber stehen solche Appelle an aufklärerische Traditionen wie eh
und je im Zusammenhang eigener Identitätskonstitution, die danach strebt
sich positiv abzugrenzen vom unzivilisierten Anderen. Auch in der
Integrationsdebatte wird die Kultur von Minderheiten vornehmlich als
rückständig und repressiv wahrgenommen. Festgemacht wird dies immer
wieder an den Geschlechterrollen respektive der Unterdrückung der
Frau. Neben mangelnden Sprachkenntnissen2 sind es ein paar
kulturelle Praktiken wie Zwangsverheiratung, Verschleierung oder Beschneidung,
die als Wesensmerkmal der ganz anderen, vor allem der islamischen Kultur
herhalten müssen und mittels derer sich noch die größten
Chauvinisten zu Vorkämpfern der Emanzipation stilisieren
können.3 Hinter diesen eher spitzfindigen Vorwürfen
verbirgt sich oft der ganz normale Rassismus, die Angst vor
Überfremdung. Ganz im Zeichen modernisierter, das heißt
über den nationalen Rahmen hinaus gehender Identitätskonstruktionen,
wird denn auch der vermeintlich homogenen fremden eine ebenso homogene,
aufklärerisch geprägte EU-Kultur gegenübergestellt.
An deren Begründung basteln gegenwärtig ganze Stäbe von
Historikern und Geisteswissenschaftlerlnnen, während auf der anderen Seite
Huntington lässt grüßen populistische Feindbilder
nicht-integrierbarer, außer-europäischer Migrantlnnen dazu dienen,
die Flüchtlingsabwehr zu begründen: Gruppen von Zuwanderern mit
irgendwie von der europäischen abweichender Lebensart in einem
solchen Szenario wittern viele die Gefahr ethnischer Konflikte auf deutschem
Boden und die Gefährdung von Ruhe, Ordnung, Reinheit und Sicherheit im
Vaterland. Solange der deutsche Staat, der nicht einmal die doppelte
Staatsbürgerschaft einführen will, individuelle Rechte nur dem
Kollektiv der Geburtsdeutschen, nicht aber den Nicht-Deutschen gewähren
will, solange wird jede eigentlich individuell zu bestrafende Beschneidung,
jeder Ausschluss eines Mädchens vom Turnunterricht oder jede Lehrerin mit
Kopftuch zur Arena eines allgemeinen Kulturkampfes. In dessen Rahmen verhandelt
die Mehrheitsgesellschaft ein ums andere mal die
Integrationsfähigkeit des Minderheitenkollektivs. Solange
Einwanderer keine Deutschen sein sollen, wird statt zu diskutieren, wie
die Lehrerin ihren Unterricht gestaltet weiterhin politisch darüber
gestritten und juristisch entschieden, ob ihr Kopftuch Symbol ist für eine
fremde Gesamtkultur, deren Angehörige kollektiv als Bedrohung empfunden
und von denen Fernbleiben oder Assimilation erwartet wird. Bevor von der
migrantischen Bevölkerung irgendwelche Integrationsleistungen eingefordert
werden können, müssen ihnen politische Rechte und soziale
Gleichstellung gewährt werden. Selbst dann bliebe aber die Integration
noch ein einseitiger Akt, der den Staat in seiner Verfasstheit stützt. Das
deutsch-türkische Wochenblatt Persembe formulierte zwar im Februar diesen
Jahres: Wir haben es satt, die Opferrolle für euch zu spielen. Ihr
verlangt von uns Integration, Eingliederung . Niemand
fragt, ob uns der Körper gefällt, in welchen wir uns integrieren
sollen. Wir wollen den Körper verändern. Der Erfolg der
Strategie, Veränderungen von innen heraus zu erreichen, bleibt indes mehr
als fraglich. Das ist allerdings kein Grund, politische und soziale Rechte, die
eben an die Zugehörigkeit zu einem Staat geknüpft sind, gar nicht
erst einzufordern. Keine andere Institution kann Menschenrechte zumindest
theoretisch garantieren. Hannah Arendt analysierte diese Aporie der
Menschenrechte als paradoxes
Phänomen: Die Garantie allgemeiner Menschenrechte wird in dem
Augenblick in moderne Verfassungen aufgenommen, in dem mit der Proklamation der
Nationalstaaten allgemeine Menschenrechte als nationale Rechte definiert
werden. Resigniert stellt Arendt daher fest: ...daß es
politisch sinnlos ist, seine eigenen Rechte als unveräußerliche
Menschenrechte zu reklamieren, da sie konkret niemals etwas anderes sein
können, als die Rechte eines Engländers oder eines Deutschen oder
welch anderer Nation auch immer. Nationale Identität ist
Voraussetzung für Rechte, die immer nur als Staatsbürger eingeklagt
werden können.
Clobaler Clamour
Während aber kulturelle Zuschreibungen zur Legitimation von quasi
militärischer Abschottung nach außen und zur autoritären
Grenzbehauptung (Lehrverbot für Kopftuchträgerinnen) nach innen
dienen, wird gleichzeitig ein das Land bereicherndes multikulturelles, offenes,
globalisiertes Image gepflegt. So ist auf der Ebene der Repräsentation das
produktive Spiel mit kultureller Differenz inzwischen alltäglich geworden.
Hautfarbe scheint dort die Dimension der Ausgrenzung verloren zu haben und
wirkt beinahe wie eine private Option. Der Musiksender Viva oder die
alljährliche Loveparade inszenieren Differenz mit Hilfe symbolischer
Ingredienzen von Ethnizität als Ausdruck privaten Lebensstils. Man
könnte darin eine hybride Selbstinszenierung der Neuen Mitte
Deutschlands erkennen. Die neue Mitte wäre demnach tolerant,
multikulturell und demokratisch. Wie im politischen und ökonomischen Feld
definiert allerdings auch hier das durch nationale und rassistische Diskurse
geformte hegemoniale Subjekt der Mehrheitsgesellschaft, welche
Abweichungen vom bunten Mainstream zulässig sind. Es wird so
oberflächlich wie klar unterschieden zwischen dem guten, weil
genieß-, konsumier- und integrierbaren Anderen und dem
schlechten, das die innere Freiheit bedroht. Auch hier geht es um
Belastungsgrenzen der deutschen Gesellschaft. Die Scheidelinie
zwischen dem begrüßenswerten Phänomen der Hybridität und
dem abzulehnenden des rigiden Fundamentalismus muss ständig
kontrolliert und gesichert werden. Das schließt rassistische Gewalt und
Abschiebung nicht aus. So unterscheidet sich der pop-kulturell gewünschte
Immigrant nur in Nuancen vom politisch und wirtschaftlich gefragten: Dieser ist
ca. 30 Jahre alt, männlich, alleinstehend, englisch-sprachig und mit guter
Ausbildung. Als mittelständischer Weltbürger flieht er nicht vor
Armut und Unterdrückung, sondern ist schon vor seiner Integration
integriert: Er kommt in Schlips und Kragen, nicht mit Kopftuch. Nach dem
kanadischen Vor- bild wird wohl ein Punktesystem, in dem Sprachkenntnisse und
berufliche Qualifikation nachzuweisen sind, entscheiden, wer angepasst genug
ist, nach Deutschland einzureisen, dort zu bleiben oder gar Deutscher zu
werden. Nur einen Haken hat die Sache: Ein paar tausend Spezialisten sind zu
wenig, um das Rentenloch zu stopfen. Außerdem bekommen die genauso wenig
Kinder wie ihre deutschen Kolleglnnen. 500.000 Einwanderer jährlich
diese Zahl nennt die Zuwanderungskommission und erschrickt damit die Deutschen
und alle Parteien wären nötig, um langfristig die
Alterspyramide wieder in Form zu bringen und die Rentenkassen aufzufüllen.
Zu diesem Zweck sollen die, die da kommen sollen, vor allem eins sein: jung und
arbeitswillig. Ein paar tausend fremde Asylberechtigte ließen
sich da schon noch verkraften.
Tina Goethe, Jochen Müller
Fußnoten:
1 Der von Jürgen Habermas geprägte Begriff entstand im Zuge des
Historikerstreits und zielte selbst auf eine Identitätsstiftung der
Bundesrepublik. Habermas grenzte ihn dabei von ethnisch-nationalen
Vorstellungen ab: Die Verfassungspatriotische Bindung an abstrakte Prinzipien
wie Demokratie und Menschenrechte hätte nichts mit Vaterlandsliebe zu tun.
Dennoch müsse sie sich freilich aus dem konsonanten Erbe kultureller
Überlieferungen speisen. Habermas erwähnt dabei Sprache,
Literatur und Geschichte der eigenen Nation. (s. Oliver Tolmein (Hg.),
Besonderes Kennzeichen D, Konkret-Verlag 2001)
2 Meist reduzieren sich konkrete Vorschläge zu
Integrationsbemühungen, die allein von den Nicht-Deutschen gefordert
werden, auf den Spracherwerb, der Voraussetzung für die Eindeutschung sei.
So führte die Berliner Ausländer-Beauftragte Barbara ]ohn die
Arbeitslosenquote von 42% innerhalb der türkischen Community
hauptsächlich auf unzureichende Sprachkenntnisse zurück.
Außerdem scheitere die Integration daran, dass sich die Türklnnen
über Satellitenfernsehen, Reisen und Telefon viel zu stark mit ihrem
Heimatland verbänden, was in Selbst-Ghettoisierung und
Ethnische Nischenwirtschaft resultiere. Darüber hinaus
würden auch Kindererziehung und Partnerwahl Integration verhindern, da
viele in Berlin lebende türkische Männer Frauen aus der Türkei
heiraten.
3 Daran beteiligen sich auch kritische Geister. Vor zwei Jahren machte
sich beispielsweise die Zeitschrift konkret auf, die Welt vor
Gesichtspelzen und Kopfwindeln zu schützen.
Gemünzt waren diese Metaphern auf den radikal-traditionalistischen
Islamismus der Taliban, gerichtet waren sie jedoch ganz allgemein an den
Islam. Dahinter steht eine Vereinheitlichung der verschiedenen
Lebensweisen von Millionen von Muslimen ebenso wie die von jeder Kritik
verlassene Konstruktion einer aufgeklärten Zivilisation.
Zuerst veröffentlich in iz3w 253/2001
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