Licht am Horizont
Annäherungen an die PKK
IV. Werte, Prinzipien und Methoden der PKK
IV.4. Natur
IV.5. Liebe zum Land und seinen Menschen
IV.6. Prinzipien und Methoden der PKK

IV.5. Liebe zum Land und seinen Menschen

Das Begriffspaar Liebe-Land ist für uns negativ besetzt, reaktionär. Deshalb können wir nichts damit anfangen und wehren uns dagegen. Für uns ist der Abstand zu groß.

Die 'Liebe zum Land und den Menschen' steht aber im Parteistatut an erster Stelle der Beschreibungen der Eigenschaften des Parteimitgliedes. Wie paßt das nun zusammen: sozialistische/internationalistische Partei und 'Liebe zum Land und seinen Menschen'?

Um uns der Beantwortung dieser Frage anzunähern, müssen wir versuchen, unseren europäischen Blickwinkel soweit wie möglich zu verlassen und uns die kurdische Realität vor Augen halten. Aus dieser Sicht bekommen manche Begriffe eine andere Bedeutung, weil der Kontext, in dem sie zu begreifen sind, sozusagen der Gegenpol zum deutschen Kontext ist.

Der Ausgangspunkt in Westeuropa ist, daß für die ältesten und wichtigsten Bourgeoisien der Nationwerdungsprozeß schon lange abgeschlossen ist. Und mit Beendigung dieses Prozesses -also ab dem Moment der Übernahme der Macht im Staate, -wurde der Begriff 'Nation' materiell und rein reaktionär determiniert.

Zuvor hatte die Bourgeoisie noch mit dem im Entstehen begriffenen Proletariat gegen Feudaladel und Kirche um Nationwerdung gekämpft - bzw. das Proletariat für sich, für die Durchsetzung bürgerlicher Privilegien kämpfen lassen - und hat dafür auch freiheitliche Ideen auf die Tagesordnung gesetzt.

Doch ab dem Moment der Machtübernahme im Staat wurde diese 'Nation' ihrem reinen Zweck zugeführt und dementsprechend gestaltet: Sie sollte, entsprechend dem Stand der Produktivkräfte, den optimalen Rahmen bieten für deren Weiterentwicklung. Das heißt die Bourgeoisie setzte mit Hilfe des Proletariats die idealen Ausbeutungsbedingungen der zu erobernden Kolonien und genau jenes Proletariats durch.
Darauf aufbauend ist die ökonomische und politische Entwicklung in Westeuropa inzwischen weit über die nationale Frage hinaus. Jede Form von Patriotismus würde an dieser generellen Entwicklung vorbeigehen und keine Chance haben.
Das macht unsere Entfremdung zu 'Nation'/eigenes Land aus. Außerdem sind von Deutschland innerhalb weniger Jahre zwei imperialistische Weltverteilungskriege ausgegangen; und es ist immer noch eine zentrale imperialistische Macht, weswegen die Identifikation mit „Gesellschaft umzuwälzen„ umschrieben werden kann.
„Genau so wie in der türkischen Gesellschaft. Das türkische Volk ist ein sich den Herrschenden andienendes Volk. Auch das Proletariat. Weil sie ihre eigene Ausbeutung nicht begreifen. Aber auch in der türkischen Gesellschaft gibt es Menschen, die Widerstand geleistet haben. Das ist die Hoffnung. Was dir weggenommen wird, gehört dir, nicht was dir aufgezwungen wird. Der Parteivorsitzende hat einmal gesagt: Unsere Arbeit ähnelt dem Versuch, Wasser aus einem Stein zu quetschen. Oder, aus einem entwurzelten Baum neue Triebe zu ziehen, das ist unsere Arbeit. „

Die Liebe zum Land und seinen Menschen bedeutet also eine große Verbundenheit mit der Bevölkerung. Aus dem Wissen heraus, selber aus ihr gekommen zu sein, ein Teil von ihr zu sein. 'Liebe' ist ein Ausdruck dafür, daß die Partei sich verantwortlich für die Entwicklung und den Schutz der kurdischen Bevölkerung fühlt und sie als Avantgarde mit sich ziehen will, die Grenzen und Hindernisse überwindend.
Dazu gehört vor allem auch, daß die Partei, jedes einzelne Parteimitglied der Bevölkerung und den von ihr geschaffenen Werten mit großem Respekt begegnet. Das ist auch im Parteistatut verbindlich festgelegt, indem gesagt wird, die Aufgaben des Parteimitglieds sind u.a. die moralischen und materiellen Werte und Interessen der proletarischen Bevölkerung zu schützen und zu achten, da alles Geld und alle materiellen Werte der Partei aus der Bevölkerung kommen.
'Avantgarde des Volkes' darf in keinem Fall bedeuten, sich auch nur einen Deut besser zu fühlen als ein Mensch aus der Bevölkerung.
Der Partei ist natürlich bewußt, daß die Einheit des Volkes nur vor und gegen den gemeinsamen Feind existiert. Und das auch nicht ganz durchgängig: 'Dorfschützer' und andere Kompradoren sind natürlich auch 'Volk', aber Feind und gegen die Einheit. Aber auch bei ihnen wird viel Mühe verwendet, um sie zu überzeugen. Es ist also der Partei bewußt, daß auch die kurdische Bevölkerung eine Klassengesellschaft ist. Auch nach dem Sieg.
'Liebe' hat, wie schon im Abschnitt 'Arbeit' kurz angerissen, etwas mit Arbeiten, Produzieren, Werte schaffen und entwickeln zu tun. Dazu gehört auch die Mühe, die Geschichte des Volkes, wie das Volk selbst seit Jahrhunderten unterdrückt, aufzuarbeiten als eine Geschichte von Kämpfen und Niederlagen, um daraus zu lernen und Perspektiven des Lebens, des Siegens zu entwickeln und umzusetzen: zusammen mit dem Volk den Kampf aufzunehmen, der auch die eigene Veränderung beinhaltet, in der Orientierung gegen

- die Todesphilosophie als besondere Form des Fatalismus. Diese Haltung ist eng verbunden mit dem zerstörten Selbstbewußtsein des kurdischen Menschen, das von den blutigen Niederlagen in der Geschichte Kurdistans geprägt ist, die die Möglichkeit des Sieges bislang undenkbar machten. Die Todesphilosophie ist die Ideologie, die diese Haltung festigt und als unüberwindlich gegeben erscheinen läßt, weil sie die Vorwegnahme der eigenen Niederlage ist. Zur Todesphilosophie, ihrer Funktion und Bedeutung in der kurdischen Gesellschaft wurde im zweiten Kapitel schon einiges gesagt. Zur allgemeinen Bedeutung dieser Haltung im kolonialen/antikolonialen Kontext seien hier wiederum einige Sätze von Sartre aus dem Vorwort zu Fanon zitiert: „Frauen und Kinder werden massakriert. Er weiß es: dieser neue Mensch beginnt sein Menschenleben mit dem Ende, er hält sich für einen potentiellen Toten. Er wird getötet werden. Das heißt nicht nur, daß er das Risiko auf sich nimmt, sondern daß er sich dessen gewiß ist. Dieser potentielle Tote hat seine Frau und seine Söhne verloren. Er hat so viele sterben sehen, daß er eher siegen will als überleben. Andere werden von seinem Sieg profitieren, nicht er, er ist zu müde. Aber diese Müdigkeit des Herzens ist der Grund für einen unglaublichen Mut."

- die Spaltung des Landes in vier Teile durch die vier Kolonialmächte und in verschiedene Stämme durch die feudalistische Gesellschaftsstruktur. Diese verschiedenen Spaltungen läßt die kurdischen Menschen sich selbst als schwach und zerrissen erscheinen. Der Bewußtseinshorizont gelangt kaum über die Dorfgrenze hinaus. Das verhindert bei den Menschen die Bewußtwerdung der vorhandenen Unterdrückungsformen und der Möglichkeiten ihrer Überwindung.

- den Feudalismus. Der Feudalismus hält die Menschen in Unwissenheit und Armut. Er basiert auf ungerechten Besitzverhältnissen des fruchtbaren Landes einschließlich der darauf lebenden Menschen. Er ist eine Unterdrückungsform, die auf dem Boden der Stamme-und Klassenstruktur gedeiht, die am besten vom Kolonialismus benutzt werden kann.

- das Patriarchat, das in Kurdistan in der feudalistischen Ausprägung existiert. Ohne Befreiung der Frau kann es keine Befreiung, keinen Sozialismus geben, sagt die Partei. Deshalb hat die Partei dieser Frage einen zentralen Stellenwert gegeben. In der kurdischen feudalistischen Gesellschaft hat die Frau keinerlei Bedeutung. Sie gehört ausschließlich dem Mann, ist ihm Untertan. Neben der Unterdrückung durch Feudalismus und Kolonialismus ist der Hälfte der Bevölkerung den - Frauen - immer noch verwehrt, sich zu entwickeln und eigenständig zu denken oder zu handeln. Ihre Arbeit, ihre ganze Existenz ist vollständig gebunden an den Willen des Mannes. Und insofern ist ihre ganze Lebenskraft und Kreativität gefesselt.

- Kolonialismus und Imperialismus. Das ist der direkte Kampf gegen die unmittelbare Besatzung und Ausplünderung, sowie deren Hintermänner und Strukturen. Es ist der Kampf gegen den Feind, der sich auch in den Köpfen der Einzelnen festgekrallt hat, indem die Bevölkerung organisiert, Selbstbewußtsein wieder aufgebaut und sich auch persönlich wieder entwickelt wird.

Das alles mündet letztendlich in den Kampf für Sozialismus und den neuen Menschen. Es ist der Kampf um die zuvor benannten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Widersprüche, um die Gesellschaft auf eine neue Stufe zu heben. Dazu Abdullah Öcalan:

„Es gibt zwei Standbeine - die patriotischen Aufgaben und die internationalistischen Aufgaben ... Wir dürfen aber auch nicht vergessen, daß die PKK in erster Linie dafür da ist, den Bewußtseinsprozeß der Menschen zu entwickeln und die Hoffnung zu stärken. Wenn Hoffnung und Moral nicht da sind, also die ständige Erneuerung nicht läuft, bricht die schönste Vorstellung zusammen. „

Ein weiterer türkischer Genosse innerhalb der PKK, Pir Kemal, hat den Charakter dieses Patriotismus so zusammengefaßt: „Unser Patriotismus hat einen proletarischen Charakter und kann nicht unabhängig vom Internationalismus gesehen werden."

Es geht hier nicht um den klassischen Proletariatsbegriff; Proletariat meint alle Werktätigen, Werte-Schaffenden, die Produzierenden ohne Produktionsmittel (25). Und es ist eine politische Kategorie, die danach fragt, auf welcher Seite der Konfrontation ein Mensch sich subjektiv stellt.

Ausgehend vom Sozialismusverständnis der PKK ist offensichtlich, daß 'Liebe zum Land und seinen Menschen' nichts mit Chauvinismus oder bürgerlichem Nationalismus zu tun hat. Heval Pir Kemal: „Die PKK hat eine grundlegende Eigenschaft. Es ist nicht richtig zu sagen, sie ist eine kurdische Partei. Sie hat von Anfang an eine Universalität gehabt und ist eine globale Partei."

Im Zentrum steht eben nicht 'Kurdistan über alles', sondern „die bestmöglichen Bedingungen schaffen für die Entwicklung der Werktätigen, der Menschen." (Heval Deniz)

Die Völker der Staaten, auf die Kurdistan aufgeteilt ist, werden als 'Brudervölker' begriffen. Ihrem revolutionären Freiheitsstreben wird über ideologische Grenzen hinweg - jede Hilfe gewährt. Und wenn Abdullah Öcalan sagt: „Wir wollen zusammen mit den Türken das Land modernisieren"- dann ist das kein Kniefall vor der türkischen Bourgeoisie, sondern eine Aufforderung an die türkische Bevölkerung das Schicksal zusammen mit der kurdischen Bevölkerung in die eigenen Hände zu nehmen. Durch die Jahrhunderte währende Unterdrückung lebt das kurdische Volk sehr eng mit den anderen Völkern dieser Region zusammen. Sie sind sozusagen gar nicht mehr trennbar. zum Verhältnis des kurdischen und türkischen Volkes wird gesagt, sie seien wie Fingernagel und Nagelbett: zwei unterschiedliche Dinge, aber fest miteinander verwachsen.

Da trotz der in diesem Abschnitt dargelegten Erklärungen zur 'Liebe zum eigenen Land und seinen Menschen' uns dieses Gefühl immer noch fremd ist, weil wir an 'unserem' Land nichts oder doch sehr wenig liebenswert finden, fragten wir die türkischen Freundinnen und Freunde innerhalb der PKK, wie sie mit diesem Problem der Liebe zum eigenen Land umgehen: „Aber auch das ist eine Realität: es gibt nicht sehr viele Seiten des türkischen Volkes, die man heute lieben kann. Diese Werte zu schaffen wird nicht leicht sein. Es gibt ja auch historische Werte, die heute aktualisiert werden müssen." Darüber hinaus gibt es proletarisch-sozialistische Werte, „die von uns natürlich grundsätzlich vertreten werden. Es wird nicht leicht sein, diese zu entwickeln. Eine Eigenschaft der türkischen linken Intellektuellen ist auch, daß sie sehr weit entfernt von proletarischer Arbeit sind. Eine entsprechende Linke muß sich des Wertes der Arbeit bewußt sein. Nur auf dieser Basis kann sich eine wirkliche Liebe entwickeln. „

Ein weiteres Problem, das uns sehr bekannt erschien, eine Nähe zum 'eigenen' Volk zu gewinnen, beschreibt Pir Kemal: „Wir haben eine Realität, die wir als Volksrealität erkennen müssen, um damit arbeiten zu können. Wir haben ein Problem: die Herrschenden und das türkische Volk sind ineinandergeraten, sehr schwierig zu trennen... (das türkische Volk) kennt seine eigene Geschichte nicht richtig bzw. falsch. Die Herrschenden in der Türkei haben die Geschichte völlig verdreht.

Die Situation in der Türkei, vor der wir heute stehen, erlaubt uns nicht, an etwas Vorhandenem, Positiven festzuhalten und so die Revolution zu entwickeln. Diese positiven Werte - gesellschaftlich, kulturell... - sie sind überhaupt nicht da. In der Geschichte gibt es positive Werte, aber die müssen wir heute wieder zum Leben erwecken. So können wir dann etwas Stabiles entwickeln. Damit das türkische Volk in diesem Sinne neue Werte schaffen kann, und damit eine Grundlage gebildet werden kann für eine Revolution, ist es notwendig, daß es den anderen Völkern gegenüber Achtung entwickelt und z.B. den kurdischen Befreiungskampf akzeptiert, ihn unterstützt. Nur so kann das türkische Volk auf einer festen Basis eine Revolution entwickeln. „
 


(25) Siehe IV.2.