V. Resümee

Kosovo macht Doppelmoral des Westens deutlicher
Gleiche Maßstäbe für ähnliche Konflikte
Auch der Westen hat Hausaufgaben zu erledigen
Hindernisse auf dem Weg zum Frieden beiseite räumen
Gelingt es, den Kreis zu schließen?


Gelingt es, den Kreis zu schließen?

In dieser Arbeit habe ich den Versuch unternommen, die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2000-1 zusammengefasst wiederzugeben. Dabei konnte sicherlich nicht jedes Detail berücksichtigt und auch nicht jeder an der Thematik Interessierte zufriedengestellt werden. Ich bin mir bewusst, dass man mir Parteilichkeit vorwerfen wird, die ich auch nicht abstreite. Ich bin in diesem langen Marsch für Frieden, Demokratie und Menschenrechte in Kurdistan und der Türkei parteiisch. Ich bin auf der Seite derjenigen, die unterdrückt werden, die für eine gerechte Sache einen sehr hohen Preis zahlen mussten und immer noch zahlen, indem sie ihre Söhne und Töchter verloren haben, indem sie ihre Dörfer und ihre heiligen Stätten und Friedhöfe ohne Abschied verlassen mussten, die trotz des großen Leids und ihrer Trauer den Kopf aber nicht gebeugt und ihre Hoffnungen auf ein besseres und menschenwürdiges Leben nicht verloren haben, die tagtäglich ohne ein Zeichen der Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit immer wieder auf die Straße gehen und nach Frieden und Gleichberechtigung, nach Versöhnung und Geschwisterlichkeit verlangen. Ich bin parteiisch und auf der Seite derjenigen, die tagtäglich als 'Terroristen' und 'Separatisten' beschimpft werden, weil sie sich für Frieden, Freiheit und Gleichstellung einsetzen, auch wenn sie dabei vielerlei Fehler gemacht haben. Ich bin parteiisch und auf der Seite derjenigen, die keinen Platz in der Welt der "Wertegemeinschaften" haben und finden konnten. Ich bin parteiisch und auf der Seite derjenigen, deren Gefühle und "Naivität" von den "mächtigen" Initiatoren der "Europäischen Initiative für die Lösung der Kurdenfrage" missbraucht und beschmutzt worden sind. Ich bin nicht mehr und nicht weniger parteiisch als Yasar Kemal und Günter Grass, als Sami Selcuk und die Vertreter der kurdischen NGOs, als die kurdischen "Mütter des Friedens". Und ich denke, dass ich nicht parteiischer bin als diejenigen, die die PKK gestern, als sie noch bewaffnet vorging, als "Terroristin" beschimpft haben und sie heute, wo sie die Waffen niederlegt und eine friedliche Lösung sucht, als "Verräterin" beschimpfen.
Ich habe trotz allem versucht zu verdeutlichen, dass die Zeit reif ist, um über ein Gesamtkonzept nachzudenken und daran zu arbeiten. Mit Teillösungen kann der Tag gerettet werden, aber damit ist die Zukunft nicht sicherer.
Die USA und die EU müssen die Türkei, ohne dass sie ihr Gesicht verliert, zu demokratischen Schritten zur Lösung des Konfliktes drängen. Es darf bei diesem Prozess keine Gewinner und Verlierer, keine Sieger und Besiegten geben. Was die Kurden möchten, sind ihre Grundrechte, ohne wenn und aber, innerhalb einer demokratischen Türkei. Dieser Prozess bedarf der Unterstützung durch Freunde der Türkei. Die Maßstäbe und Kriterien, die bei ähnlichen Konflikten angewendet worden sind, sollen auch bei diesem Konflikt gelten.
Hier ist vor allem die gerade 50 Jahre alt gewordene "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" vom 10.12.48 zu nennen, in der es heißt:
§ 2: Jedermann hat Anspruch auf die in dieser Erklärung proklamierten Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Vermögen, Geburt oder sonstigem Status.
§ 3: Jedermann hat ein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
§ 5: Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
§ 18: Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.
§ 19: Jedermann hat das Recht auf Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung.
§ 20: Jedermann hat das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit zu friedlichen Zwecken.
Wohl fast alle Kurden in der Türkei bieten und fordern eine friedliche, politische Lösung im Rahmen des türkischen Staates. Ihre Hoffnungen sind groß, dass sich der Westen endlich auf seine stets proklamierten Werte besinnt und sich in dieser neuen Situation tatsächlich für Frieden und Gerechtigkeit in der Türkei engagiert. Für den Fall, die Kurden werden wieder enttäuscht und auf sich selbst zurückgeworfen sowie für den Fall, dass die Todesstrafe vollstreckt wird, lassen sich die Folgen in der Türkei leicht ausmalen.
Dem türkischen Staat muss endlich mit einer deutlichen Sprache klar gemacht werden: Die Türkei und ihre militärischen und zivilen Führungskräfte, die sich für Tschetschenien stark machen, die bei der Abchasien-Krise als Vermittler auftreten, die um Bosnien weinen und Soldaten in den Kosovo schicken, die Griechenland wegen der türkischen Minderheit bedrohen, die nicht einmal davor zurückschrecken, auf Dauer die Nordhälfte Zyperns zu besetzen und für die dort lebenden Türken einen "Teilstaat" zu errichten, und die für die türkischen Migranten in Deutschland gleiche Rechte fordern, können einem Volk von 15 Millionen Menschen dessen legitimen Rechte nicht länger vorenthalten.
Europa forderte seit Jahren von der Türkei als Vorbedingung für einen EU-Beitritt, die Demokratisierung voranzutreiben, die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten, sowie die Kurden-, Griechenland- und Zypernfrage zu lösen. Jetzt ist Europa aufgefordert, seine Worte in die Tat umzusetzen: der Türkei die Aufnahme in die EU anzubieten und als Gegenleistung auf der unverzüglichen Erledigung der Hausaufgaben zu bestehen.
In der Vergangenheit wurde oft betont, dass der PKK einige 'Zähne' gezogen werden müssten, bevor die Türkei Zugeständnisse machen könnte. Hierzu zählten: die Forderung nach einem unabhängigen Staat fallen zu lassen und sich auf eine friedliche Lösung innerhalb der Türkei festzulegen, die Einstellung des bewaffneten Kampfes, ein Gewaltverzicht und der Rückzug der Truppen aus der Türkei, eigene Fehler einzugestehen usw.. Die in der jüngsten Zeit gemachten unilateralen Schritte entsprechen weitgehend diesen Ansprüchen.
Für die EU ist es nicht schwierig, sich z.B. für folgende Schritte einzusetzen und die Initiative zu ergreifen, damit sich die Türkei in Richtung Frieden bewegt und bei der Demokratisierung des Landes Fortschritte erzielt werden:
- Beendigung der militärischen Operationen,
- Freilassung der politischen Gefangenen,
- Aufhebung des Ausnahmezustandes,
- Auflösung des Dorfschützersystems und der Spezialeinheiten,
- Schaffung von Rückkehrmöglichkeiten für die Vertrie-benen in ihre Siedlungen,
- Abschaffung antidemokratischer Gesetze und Para-graphen,
- Beendigung der Verfolgung von und Einstellung der Razzien bei kurdischen Organisationen und ihrer Anhängerschaft,
- Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen für eine ungehinderte, offene Diskussion über die friedliche und politische Lösung der Kurdenfrage,
- Zulassung und Nichtbehinderung der kurdischen Presse,
- Anerkennung der kulturellen Identität der kurdischen Bevölkerung und Gewährung entsprechender Rechte und Möglichkeiten wie z.B.: Freiheit der Sprache in Gesellschaft und Bildung, der Namensgebung, der Benennung der Ortschaften, Anerkennung kurdischer Bräuche und Feste, Zulassung und Nichtbehinderung kurdischer und prokurdischer Parteien.
Hauptsache, es werden erste Schritte in dieser Richtung unternommen. Dann wird man bald erkennen, dass gesellschaftliche Vielfalt mit all ihren Besonderheiten von großem Nutzen für alle ist; und in der dadurch geschaffenen milderen Atmosphäre wird der Weg in eine friedliche Zukunft unumkehrbar sein.
Der Lösungsweg liegt in einem von Vorbedingungen und Fesseln freien demokratischen Zusammenschluss von Türken und Kurden, der sich mit seiner eigenen Realität ausgesöhnt hat, der Toleranz auf seine Fahnen geschrieben hat und den Kurden und allen anderen Menschen, egal welcher Nationalität und Glaubensrichtung, das Recht einräumt, nach ihrer Façon glücklich zu werden.
Eben darum finden in der zweiten Hälfte des Jahres 1999 heftige Diskussionen um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage und eine Demokratisierung des Landes statt. Türken und Kurden in Istanbul, Izmir, Ankara, Diyarbakir und Hakkari kämpfen Hand in Hand für einen Neubeginn, um den Grundstein für ein gleichberechtigtes Zusammenleben zu legen. Dieses gemeinsame Vorgehen ist neu und ein ermutigendes Zeichen für die Zukunft beider Völker.
Gerade in dieser bedrängenden und historischen Situation kann der Einsatz für Frieden und Demokratisierung Leben retten, Blutvergießen stoppen und eine zusätzliche Belastung der Beziehungen zwischen Türken und Kurden verhindern. Aus dieser dringenden Notlage heraus sind alle Menschen, die sich mit der Türkei und mit Kurdistan verbunden fühlen, aufgefordert, alles in ihrer Macht stehende zu tun und dementsprechend zu handeln.
Gestern war es angeblich zu "früh", und morgen wird es vielleicht zu spät sein. Heute ist es an der Zeit, endlich damit zu beginnen, die kurdische Tragödie durch eine friedliche politische Lösung zu beenden.