Gelingt es, den Kreis zu schließen?
In dieser
Arbeit habe ich den Versuch unternommen, die wichtigsten Ereignisse des
Jahres 2000-1 zusammengefasst wiederzugeben. Dabei konnte sicherlich nicht
jedes Detail berücksichtigt und auch nicht jeder an der Thematik
Interessierte zufriedengestellt werden. Ich bin mir bewusst, dass man
mir Parteilichkeit vorwerfen wird, die ich auch nicht abstreite. Ich bin
in diesem langen Marsch für Frieden, Demokratie und Menschenrechte
in Kurdistan und der Türkei parteiisch. Ich bin auf der Seite derjenigen,
die unterdrückt werden, die für eine gerechte Sache einen sehr
hohen Preis zahlen mussten und immer noch zahlen, indem sie ihre Söhne
und Töchter verloren haben, indem sie ihre Dörfer und ihre heiligen
Stätten und Friedhöfe ohne Abschied verlassen mussten, die trotz
des großen Leids und ihrer Trauer den Kopf aber nicht gebeugt und
ihre Hoffnungen auf ein besseres und menschenwürdiges Leben nicht
verloren haben, die tagtäglich ohne ein Zeichen der Müdigkeit
und Hoffnungslosigkeit immer wieder auf die Straße gehen und nach
Frieden und Gleichberechtigung, nach Versöhnung und Geschwisterlichkeit
verlangen. Ich bin parteiisch und auf der Seite derjenigen, die tagtäglich
als 'Terroristen' und 'Separatisten' beschimpft werden, weil sie sich
für Frieden, Freiheit und Gleichstellung einsetzen, auch wenn sie
dabei vielerlei Fehler gemacht haben. Ich bin parteiisch und auf der Seite
derjenigen, die keinen Platz in der Welt der "Wertegemeinschaften"
haben und finden konnten. Ich bin parteiisch und auf der Seite derjenigen,
deren Gefühle und "Naivität" von den "mächtigen"
Initiatoren der "Europäischen Initiative für die Lösung
der Kurdenfrage" missbraucht und beschmutzt worden sind. Ich bin
nicht mehr und nicht weniger parteiisch als Yasar Kemal und Günter
Grass, als Sami Selcuk und die Vertreter der kurdischen NGOs, als die
kurdischen "Mütter des Friedens". Und ich denke, dass ich
nicht parteiischer bin als diejenigen, die die PKK gestern, als sie noch
bewaffnet vorging, als "Terroristin" beschimpft haben und sie
heute, wo sie die Waffen niederlegt und eine friedliche Lösung sucht,
als "Verräterin" beschimpfen.
Ich habe trotz allem versucht zu verdeutlichen, dass die Zeit reif ist,
um über ein Gesamtkonzept nachzudenken und daran zu arbeiten. Mit
Teillösungen kann der Tag gerettet werden, aber damit ist die Zukunft
nicht sicherer.
Die USA und die EU müssen die Türkei, ohne dass sie ihr Gesicht
verliert, zu demokratischen Schritten zur Lösung des Konfliktes drängen.
Es darf bei diesem Prozess keine Gewinner und Verlierer, keine Sieger
und Besiegten geben. Was die Kurden möchten, sind ihre Grundrechte,
ohne wenn und aber, innerhalb einer demokratischen Türkei. Dieser
Prozess bedarf der Unterstützung durch Freunde der Türkei. Die
Maßstäbe und Kriterien, die bei ähnlichen Konflikten angewendet
worden sind, sollen auch bei diesem Konflikt gelten.
Hier ist vor allem die gerade 50 Jahre alt gewordene "Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte" vom 10.12.48 zu nennen, in der
es heißt:
§ 2: Jedermann hat Anspruch auf die in dieser Erklärung proklamierten
Rechte und Freiheiten ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse,
Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung,
nationaler oder sozialer Herkunft, nach Vermögen, Geburt oder sonstigem
Status.
§ 3: Jedermann hat ein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der
Person.
§ 5: Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder
erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
§ 18: Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.
§ 19: Jedermann hat das Recht auf Freiheit der Meinung und der Meinungsäußerung.
§ 20: Jedermann hat das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
zu friedlichen Zwecken.
Wohl fast alle Kurden in der Türkei bieten und fordern eine friedliche,
politische Lösung im Rahmen des türkischen Staates. Ihre Hoffnungen
sind groß, dass sich der Westen endlich auf seine stets proklamierten
Werte besinnt und sich in dieser neuen Situation tatsächlich für
Frieden und Gerechtigkeit in der Türkei engagiert. Für den Fall,
die Kurden werden wieder enttäuscht und auf sich selbst zurückgeworfen
sowie für den Fall, dass die Todesstrafe vollstreckt wird, lassen
sich die Folgen in der Türkei leicht ausmalen.
Dem türkischen Staat muss endlich mit einer deutlichen Sprache klar
gemacht werden: Die Türkei und ihre militärischen und zivilen
Führungskräfte, die sich für Tschetschenien stark machen,
die bei der Abchasien-Krise als Vermittler auftreten, die um Bosnien weinen
und Soldaten in den Kosovo schicken, die Griechenland wegen der türkischen
Minderheit bedrohen, die nicht einmal davor zurückschrecken, auf
Dauer die Nordhälfte Zyperns zu besetzen und für die dort lebenden
Türken einen "Teilstaat" zu errichten, und die für
die türkischen Migranten in Deutschland gleiche Rechte fordern, können
einem Volk von 15 Millionen Menschen dessen legitimen Rechte nicht länger
vorenthalten.
Europa forderte seit Jahren von der Türkei als Vorbedingung für
einen EU-Beitritt, die Demokratisierung voranzutreiben, die Einhaltung
der Menschenrechte zu gewährleisten, sowie die Kurden-, Griechenland-
und Zypernfrage zu lösen. Jetzt ist Europa aufgefordert, seine Worte
in die Tat umzusetzen: der Türkei die Aufnahme in die EU anzubieten
und als Gegenleistung auf der unverzüglichen Erledigung der Hausaufgaben
zu bestehen.
In der Vergangenheit wurde oft betont, dass der PKK einige 'Zähne'
gezogen werden müssten, bevor die Türkei Zugeständnisse
machen könnte. Hierzu zählten: die Forderung nach einem unabhängigen
Staat fallen zu lassen und sich auf eine friedliche Lösung innerhalb
der Türkei festzulegen, die Einstellung des bewaffneten Kampfes,
ein Gewaltverzicht und der Rückzug der Truppen aus der Türkei,
eigene Fehler einzugestehen usw.. Die in der jüngsten Zeit gemachten
unilateralen Schritte entsprechen weitgehend diesen Ansprüchen.
Für die EU ist es nicht schwierig, sich z.B. für folgende Schritte
einzusetzen und die Initiative zu ergreifen, damit sich die Türkei
in Richtung Frieden bewegt und bei der Demokratisierung des Landes Fortschritte
erzielt werden:
- Beendigung der militärischen Operationen,
- Freilassung der politischen Gefangenen,
- Aufhebung des Ausnahmezustandes,
- Auflösung des Dorfschützersystems und der Spezialeinheiten,
- Schaffung von Rückkehrmöglichkeiten für die Vertrie-benen
in ihre Siedlungen,
- Abschaffung antidemokratischer Gesetze und Para-graphen,
- Beendigung der Verfolgung von und Einstellung der Razzien bei kurdischen
Organisationen und ihrer Anhängerschaft,
- Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen für eine ungehinderte,
offene Diskussion über die friedliche und politische Lösung
der Kurdenfrage,
- Zulassung und Nichtbehinderung der kurdischen Presse,
- Anerkennung der kulturellen Identität der kurdischen Bevölkerung
und Gewährung entsprechender Rechte und Möglichkeiten wie z.B.:
Freiheit der Sprache in Gesellschaft und Bildung, der Namensgebung, der
Benennung der Ortschaften, Anerkennung kurdischer Bräuche und Feste,
Zulassung und Nichtbehinderung kurdischer und prokurdischer Parteien.
Hauptsache, es werden erste Schritte in dieser Richtung unternommen. Dann
wird man bald erkennen, dass gesellschaftliche Vielfalt mit all ihren
Besonderheiten von großem Nutzen für alle ist; und in der dadurch
geschaffenen milderen Atmosphäre wird der Weg in eine friedliche
Zukunft unumkehrbar sein.
Der Lösungsweg liegt in einem von Vorbedingungen und Fesseln freien
demokratischen Zusammenschluss von Türken und Kurden, der sich mit
seiner eigenen Realität ausgesöhnt hat, der Toleranz auf seine
Fahnen geschrieben hat und den Kurden und allen anderen Menschen, egal
welcher Nationalität und Glaubensrichtung, das Recht einräumt,
nach ihrer Façon glücklich zu werden.
Eben darum finden in der zweiten Hälfte des Jahres 1999 heftige Diskussionen
um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage und eine Demokratisierung
des Landes statt. Türken und Kurden in Istanbul, Izmir, Ankara, Diyarbakir
und Hakkari kämpfen Hand in Hand für einen Neubeginn, um den
Grundstein für ein gleichberechtigtes Zusammenleben zu legen. Dieses
gemeinsame Vorgehen ist neu und ein ermutigendes Zeichen für die
Zukunft beider Völker.
Gerade in dieser bedrängenden und historischen Situation kann der
Einsatz für Frieden und Demokratisierung Leben retten, Blutvergießen
stoppen und eine zusätzliche Belastung der Beziehungen zwischen Türken
und Kurden verhindern. Aus dieser dringenden Notlage heraus sind alle
Menschen, die sich mit der Türkei und mit Kurdistan verbunden fühlen,
aufgefordert, alles in ihrer Macht stehende zu tun und dementsprechend
zu handeln.
Gestern war es angeblich zu "früh", und morgen wird es
vielleicht zu spät sein. Heute ist es an der Zeit, endlich damit
zu beginnen, die kurdische Tragödie durch eine friedliche politische
Lösung zu beenden.
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