Quelle: AZW Nummer 04, erschienen am 22.06.1995 | |
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AZW: Welche Gründe hatten Sie für Ihre Kündigung, nachdem Sie 8 Jahre lang Vorsitzende des DGB-Kreis Konstanz waren?
Gisela Reitzammer-Maier (RM): Ich bin seit Juni letzten Jahres im Mutterschutz bzw. seit 1. Januar in Erziehungsurlaub. Ich habe dem DGB letztes Jahr im März mitgeteilt, daß ich schwanger bin, und ich habe mich auch um eine Vertretung bemüht. Ich hatte auch jemanden, der hierher kommt, aber das ist vom Landesbezirk abgelehnt worden. Das heißt also, daß jetzt seit einem Jahr die Stelle vakant ist bzw. für mich keine Vertretung da ist, und ich ständig zwischen Kinder und Büro hin und her pendele, um das Wichtigste zu machen. Das war für mich so mit der Grund, warum ich gesagt habe, das geht einfach nicht. Die Personalpolitik, die von Seiten des Landesbezirks gefahren wird, ist eine Mißachtung unserer Arbeit vor Ort. Im Herbst letzten Jahres haben wir den Landesvorsitzenden eingeladen nach Konstanz zu kommen, dann hat er gesagt, er sieht keinen Bedarf nach Konstanz zu kommen. Ja, und es hat sich dann auch nichts getan bezüglich der Besetzung meiner Vertretung, und dann ist mir irgendwann der Kragen geplatzt. Ich habe gesagt, ich muß einfach ein Signal setzen, denn es geht nicht, daß wir in den Betrieben, gerade wenn es um Erziehungsurlaub geht, um die Rechte der Frauen kämpfen, und im eigenen Laden sind sie nicht in der Lage oder fähig das umzusetzen.
AZW: Welche Erfahrungen haben Sie während der letzten 8 Jahre als Frau an der Spitze des DGB-Kreises gemacht?
RM: Als Frau habe ich einen anderen Politikansatz, und den habe ich formuliert, als ich angetreten bin: ich bin nicht diejenige, die ständig Stellvertreterpolitik macht, sondern ich habe immer versucht Sachen anzuregen, Leute zu unterstützen, ihre Ideen auch zu fördern, aber nie stellvertretend für sie etwas zu tun. Denn ich denke, die Leute haben soviele gute Ideen, und man muß sie einfach unterstützen und fördern. Und das war immer auch mein Ansatzpunkt innerhalb meiner Politik. Das macht es natürlich in dem Apparat Gewerkschaft sehr schwer, also jetzt nicht nur als Frau sehr schwer; ich denke, jeder, der so einen Ansatz hat, tut sich nicht leicht in so einem Apparat, weil nach wie vor immer noch der Zugochse gewünscht wird, sag ich mal, zumindest von der Funktionären, und insofern war das mit Sicherheit nicht einfach. Aber die Kollegen haben das nach ein paar Jahren akzeptiert, haben auch gelernt, mit mir umzugehen. Insofern kann ich da eigentlich nicht sagen, daß es dann besonders schwer war, wobei die Situation allgemein schwieriger geworden ist, was Gewerkschaftsarbeit betrifft.
AZW: Was hat sich innerhalb der letzten 8 Jahre gewerkschaftspolitisch getan, was hat sich verändert, und welche Perspektiven für die Gewerkschaftsarbeit sehen Sie?
RM: Ich habe mir überlegt, mit welchen Zielen ich angetreten bin, und was wir erreicht haben. Das Maßgeblichste ist die Strukturanalyse, also Struktur- und Wirtschaftspolitik vor Ort. Als ich 1987 hier angetreten bin, habe ich in den Gewerkschaften hier angefangen, über regionale Strukturpolitik zu diskutieren und habe damals auch die Leute vom Institut FGAT (Forschungsgruppe Arbeitssoziologie und Technikgestaltung) kennengelernt. Das war ein sehr langer Prozess, auch innerhalb der Gewerkschaften zu überzeugen, warum Strukturpolitik vor Ort notwendig ist, also nicht nur blinde Ansiedlungspolitik, sondern zu versuchen, von innen heraus die Region zu nutzen und Betriebe, kleine, mittlere oder auch größere, hier auszubauen und vielleicht auch aus den Branchen heraus Nischen zu suchen. Ja, daraus hat sich die Strukturanalyse entwickelt, die damals auf sehr viel Widerstand von Seiten des Landrates oder auch der CDU gestoßen ist, von der SPD einfach nicht beachtet wurde. Mittlerweile gibt es den Förderkreis Wirtschaft, wieder neu zusammengesetzt, der sich aufgrund der Strukturanalyse ein Programm gesetzt hat, das natürlich sehr viele Kompromisse birgt, da die Kammern mit drin sitzen, der Landrat, die Universitäten, Fachhochschule, Arbeitsamt, also ein sehr breit gefächerter Kreis. Aber das sind die Akteure, die vor Ort quasi maßgeblich das Geschehen bestimmen. Und da haben sich im Bereich der Innovationspolitik oder im Bereich der Qualifizierungspolitik , wo ich tätig bin, auch konkrete Maßnahmen entwickelt, wie man gegen Arbeitslosigkeit hier vorgeht und wie man auch Ausgliederungsprozessen etwas entgegensetzt. Also wir haben jetzt mittlerweile viele Beratungen und Kurse zum Thema "Wie mache ich mich selbständig?" durchgeführt, die auch sehr großen Anklang finden. Im Bereich der Qualifizierungspolitik haben wir jetzt ein ganz konkretes Projekt, das ist die Weiterqualifizierung zur Informationsfachfrau, die wir über EU-Mittel finanzieren wollen. Ja, und was wir geschaffen haben, das ist die Stelle, die der Alfred Nagel jetzt innehat beim Landkreis, für den Förderkreis Wirtschaft als Geschäftsführer, und er koordiniert sehr viel an Tätigkeiten. Und das ist in 8 Jahren, denke ich, wenn man Politik als langfristige Zielsetzung versteht, schon ziemlich viel, was wir in dem Bereich erreicht haben. Wirtschaftspolitik oder Strukturpolitik ist immer was Langfristiges, also das ist nichts, was man von heute auf morgen umsetzen kann, weil man wirklich die Akteure vor Ort dafür braucht, und da sind oft sehr viele Hemmschwellen, miteinander zu reden oder auch miteinander umzugehen. Solche Ängste und Vorurteile trotz unterschiedlicher Interessen muß man, denke ich, einfach abbauen, weil man sonst die Menschen nicht in Arbeit und Brot bringen kann. Also da hat sich sehr viel getan.
Ansonsten, worauf ich auch ganz stolz bin, ist, daß unter meiner Regie der Betriebsrat auf der Insel Mainau installiert wurde. Das ist etwas, woran der Erwin Reisacher vor 20 Jahren schon einmal gescheitert ist, und dann war das wirklich brachgelegen. Am 1. Mai 1991 hat sich der Betriebsrat dann konstituiert. So gibt es auch das Beispiel bei Klawitter in Singen, wo ich das erste Mal eine Jugendvertretung installiert habe. Das sind dann so Bereiche, die ich für die Gewerkschaften gemacht habe. Oder den Betriebsrat bei Tacke - das ist halt so die alltägliche Kleinarbeit - da habe ich auch damals zum ersten Mal die Betriebsversammlung zur Einleitung der Wahl gemacht. Wenn man dann sieht, daß sich in diesen Bereichen etwas entwickelt, kann man da schon ein Stück weit auch stolz sein. Ich habe da etwas angeschoben, und was die Leute daraus machen... Also ich denke, man kann nicht ständig dabeisitzen und Händchen halten, sondern die Leute müssen einfach selber laufen. Das sind nur ein paar Beispiele, die mir so einfallen.
AZW: Wie hat sich aus Ihrer Sicht der Internationale Frauentag, der ja im Jahr 1980 erstmals wieder offiziell vom DGB begangen wurde, in den letzten Jahren entwickelt? Ist der Tag für den DGB-Kreis Konstanz inzwischen zu einer Institution geworden, und welche Rolle hatten Sie bei der Ausrichtung des Frauentages?
RM: Da habe ich, denke ich, wenig Neues dazu beitragen können. In Konstanz ist der Frauentag wirklich von den Frauen selbst durchgeführt worden. Ich war da immer diejenige, die ihnen den Rücken freigehalten hat, gerade der DGB-Frauen-Kulturgruppe. Denn Kulturarbeit gibt es nicht umsonst. Wo ich etwas Neues angeregt habe, das war in Singen. In Singen wurde der Frauentag dieses Jahr bereits das fünfte Mal von den unterschiedlichsten Frauengruppen eigenständig durchgeführt. Und da, denke ich, habe ich es ganz gut geschafft, daß die Idee des Frauentages wirklich parteiübergreifend stattfindet. Die Frauen in Singen haben sich auch - anders als in Konstanz - in den Parteien damit auseinandergesetzt. Da gab es immer wieder Krach zwischen Frauen und Männern, auch in der CDU oder der FDP. Da ist es uns wirklich gelungen, andere Akzente zu setzen als in Konstanz, weil Singen ein anderes Klientel hat. Der Internationale Frauentag ist mittlerweile auch in Singen zur festen Einrichtung geworden. Und das macht auch Mut. Die Frauen haben den Frauentag in diesem Jahr ausgeweitet und eine Frauenwoche um den 8. März herum organisiert, so wie wir das früher schon einmal gemacht haben. In Singen habe ich schon Pionierarbeit mitgeleistet.
AZW: Insgesamt ist die Gewerkschaftspolitik in der Defensive: Verschlechterte Arbeitsbedingungen, Einkünfte sinken, Massenarbeitslosigkeit, Ausweitung von Flexibilisierung, Anstieg von ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, insgesamt eine sinkende Organisierungsquote, hohe Mitgliederverluste bei den Gewerkschaften. Welche Ansatzpunkte sehen Sie für eine Gewerkschaftspolitik, die dieser Entwicklung etwas entgegensetzen kann?
RM: Was die sinkenden Migliederzahlen betrifft, da habe ich ein bißchen eine andere Meinung. Also die Gewerkschaften, die hatten noch nie die Massen der Beschäftigten organisiert, wenn man das so nach dem Krieg mal anschaut: im Verhältnis zu den Erwerbstätigen lag die Mitgliederzahl immer bei etwa einem Drittel, und in guten Zeiten bei 40 %. Im Moment sind wir wieder zwischen einem Drittel und 40 %. Also das ist normal. Was schwierig ist, daß dieser Apparat es nicht schafft - weil er einfach sehr, sehr schwerfällig ist - die veränderten Arbeitsbedingungen und veränderten Strukturen aufzugreifen und somit auch die Personen, die unter anderen Bedingungen in den Betrieben arbeiten - oder auch viele selbständig oder freischaffend sind, was heute, denke ich, ein anderer Begriff ist, als das mal vor 30, 40 Jahren war - daß man diese Personen sehr schwer erreicht. Und da haben wir natürlich, seit der sogenannten Wende 1982, und auch schon vorher unter SPD-Regierung, immer Gegenwind gehabt. Denn die SPD hat bereits nicht mehr die Politik gemacht, um Arbeitslosigkeit abzubauen, sondern die SPD hat ja angefangen mit sozialen Einschnitten damals. Mit dem Krankenhaustagegeld, 5 DM Selbstbeteiligung, ging es damals los. Und als dann die SPD-Regierung abgelöst wurde, hat die konservativ-liberale Regierung all das durchgesetzt, was auch prophezeit wurde. In dem Lambsdorf-George-Papier, das ja sehr berüchtigt war, da stand alles drin. Die Marktradikalen haben sich durchgesetzt: der Markt wird alles richten. Also da ist damals der Sreikparagraph 116 gegen Gewerkschaften installiert worden, da sind die Arbeitszeiten geändert worden, da ist das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz verabschiedet worden, was die Flexibilisierung der Beschäftigten oder die befristeten Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten mittlerweile so ausgehöhlt hat, daß selbst in der Privatindustrie so zwischen 30 und 40 % nur noch mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Im Einzelhandel ist das ganz kraß. Im Prinzip sind alle Schutzgesetze so peu peu ausgehebelt worden, um der Industrie den Rücken freizuhalten. Das schlägt sich natürlich im Bewußtsein der Menschen nieder, wenn ich ständig Angst haben muß, ich verliere meinen Arbeitsplatz. Nur wenn ich noch besser bin als mein Nachbar, dann geht es mir quasi besser. Das hat natürlich zu einer Individualisierung der Beschäftigten in den Betrieben geführt. Es war ein Entsolidarisierungsprozeß, der uns natürlich wahnsinnig zu schaffen macht. Gewerkschaftsarbeit baut auf Solidarität und nicht auf ein Gegeneinander auf. Ja, und mit der Angst oder mit dem Druck, der vorhanden ist in den Betrieben, wächst natürlich auch die Angst der Menschen sich zu organisieren, und insofern haben wir als Gewerkschaften schon einen schweren, wirklich einen schweren Stand. Also wenn man sich vorstellt, daß sich viele gar nicht trauen - im 21. Jahrhundert, wo wir doch so eine moderne Gesellschaft sind, und immer gesagt wird, man muß miteinander reden - zu sagen, daß sie Mitglied einer Gewerkschaft sind, also dann ist das schon bezeichnend, auch für unseren aufgeklärten, modernen Kapitalismus, der nach außen hin, also für mich, ein freundliches Gesicht hat. Aber Tatsache ist, daß in den Betrieben nach wie vor keine Demokratie und kein Miteinander stattfindet. Da sind ganz, ganz wenige Ansätze, die wirklich da sind. Also wenn ich an das jüngste Beispiel bei Pematech in Radolfzell denke: als die den Betriebsrat gegründet haben, ist der Geschäftsführer ausgeflippt und hat den Leuten gekündigt. Die hatten Gott sei Dank soviel Rückgrat die Wahlen durchzuführen - heute ist der Geschäftsführer gekündigt. Also das sind dann wieder positive Beispiele, wenn die Belegschaft zusammensteht, daß sich wirklich was bewegen kann. Dort, wo Leute im Betrieb einen Betriebsrat gründen wollen, kriegen sie die Kündigung. Bei der Mainau war das damals genauso. Die erste Frau, die sich da stark gemacht hat, die hat dann zwei Tage später ihre Kündigung gehabt. Ich habe das zwar rückgängig machen können, aber das ist dann immer noch die Antwort der Arbeitgeber: die Leute sollen im Betrieb schaffen und nichts mitzureden haben. Das macht es uns als Gewerkschaften natürlich sehr schwer. Aber das war im Prinzip nie anders, wenn man sich das mal überlegt. Früher ist man noch dafür erschossen worden, heute hat man diffizilere Methoden im Betrieb, um Menschen kaputt oder mundtot zu machen.
AZW: Wo sehen Sie Ansatzpunkte, daß sich die Gewerkschaften gesellschaftspolitisch einsetzen, z.B. gegen die Gesundheitsstrukturreform oder die Finanzierung der Pflegeversicherung? Oder erfolgt eher ein Rückzug aus dem öffentlichen Raum aufgrund der innergewerkschaftlichen Schwierigkeiten?
RM: Nein, das sehe ich nicht so. Das Problem wird die Auseinandersetzung innerhalb der Gewerkschaften sein, ob man die Einheitsgewerkschaft hier halten und den DGB stärken kann, weil der DGB derjenige ist, der gesellschafts- und wirtschaftspolitisch vor Ort die Fäden in der Hand hat und auch anstoßen muß, oder ob sich diejenigen innerhalb der Gewerkschaften durchsetzen, die sagen, also der DGB, der macht noch Rechtsschutz und wir machen Tarifpolitik. Also wenn die sich durchsetzen, dann wird die Gewerkschaftsbewegung insgesamt noch ein großes Tief durchzumachen haben. Weil dann nichts mehr da ist, womit sich die Leute identifizieren können. Das ist die Frage, ansonsten denke ich, der DGB hat nach wie vor gute Vorschläge, wenn es darum geht, gegen die Arbeitslosigkeit vorzugehen, d.h. nicht die Arbeitslosigkeit zu finanzieren, sondern den Leute Arbeit und Brot zu geben. Da haben wir ja Vorschläge, die sagen, anstatt einen Arbeitslosen zu finanzieren, ist es sinnvoller, das Geld zu nehmen und ihn in Arbeit zu stecken, weil er dann wieder Steuern zahlt und aktiver am Konsum oder am Leben teilnehmen kann. Das bringt natürlich mehr, als wenn ich jeden Monat dem Menschen Arbeitslosengeld gebe und ihn damit in die Isolierung treibe. Unser Leben oder unsere Gesellschaft ist immer noch so aufgebaut, daß wer Arbeit hat, auch dazugehört. Und bei Langzeitarbeitslosen merkt man, wie die sich immer mehr in die Isolation zurückziehen, weil sie halt nicht mehr dazugehören. Sie denken, sie gehören mit 50 Jahren quasi zum alten Eisen. Also in dem Bereich gibt es schon Finanzierungsvorschläge, die natürlich nicht von uns, sondern von der Politik umgesetzt werden müssen. Wobei Gewerkschaften oder die Menschen - wenn ich von Gewerkschaften rede, rede ich eigentlich von den Menschen, die das durchsetzen - auch in all den Zeiten immer gute Ansätze hatten, aber das sind dann immer nur punktuelle Sachen. Also wenn ich an die ganzen Beschäftigungsgesellschaften denke, die sie auch im Zuge der Ausplünderung des Ostens eingerichtet haben, dann ist das sicher auch ein Teil in den einzelnen Regionen gewesen, um zu sagen, also wir schulen Leute lieber um, bilden sie weiter, als sie in die Arbeitslosigkeit zu schicken. In der Bundesrepublik gibt es, glaube ich, über 300 Beschäftigungsgesellschaften, die von den Gewerkschaften initiiert und mitgegründet wurden. Das sind aber dann immer punktuelle Einrichtungen, die aber auch bundespolitisch durchgesetzt werden müssen. Da sind wir wieder bei der Bundesregierung. Die müßte halt, anstatt den Leuten ständig mehr aus der Tasche zu ziehen, das Geld nehmen, um hier Einrichtungen zu schaffen oder auch, was immer problematisch ist, den sogenannten zweiten Arbeitsmarkt zu fördern, natürlich unter Tarifbedingungen. Alles andere ist Makulatur. Oder das Beispiel der Rentenfinanzierung, dieses Lügenmärchen. Daß die Rente nicht finanziert ist, liegt momentan daran, daß der Bund sich aus seiner Verantwortung gestohlen hat. Der Bundesanteil liegt normalerweise bei 30 % an den Renten, im Moment zahlen sie bloß 17 %, und insofern ist natürlich auch kein Geld da. Und wenn den Unternehmern noch mehr Geld in den Rachen geschoben wird - bei uns heißt das sie zu subventionieren - dann fehlt das Geld natürlich im sozialen Breich, das ist überhaupt keine Frage. Also Gewerkschaften haben gute Vorschläge. Ob sie momentan die Kraft haben das umzusetzen, das ist sehr schwer, also daran zweifle ich. Das hängt aber auch mit Sicherheit mit der ganzen desolaten Situation hier in dieser Bundesrepublik zusammen.
AZW: Die SPD hat durch ihre Zustimmung zu diesen Sozialabbaumaßnahmen die gewerkschaftlichen Positionen hierzu ausgehebelt. Sie sitzen als SPD-Gemeinderätin im Kreistag...
RM: ...ja, ich sitze für die SPD im
Kreistag. Ob ich diese SPD- Politik mitmachen
werde, das ist mit Sicherheit zweifelhaft. Was
wir jetzt einmal hier im Kreis versuchen wollen,
ist, den Leuten vor Ort Strukturpolitik wieder
näher zu bringen, also einfach auch einmal anhand
von Beispielen aufzuzeigen, wie man hier im
Landkreis neue Arbeitsplätze fördern und dann
auch schaffen kann. Wir wollen im Herbst zwei
Veranstaltungen von der Kreis-SPD dazu
durchführen. Ob wir damit ankommen, wird sich
zeigen. Es ist ein sehr komplexes Thema, und es
ist erst einmal unmittelbar für den Einzelnen
nichts zu holen. Wir haben auch aufgrund unseres
Antrages das Thema auf der letzten
Kreistagssitzung auf der Tagesordnung gehabt.
Zu den Streitigkeiten zwischen SPD und
Gewerkschaften hatte ja die sogenannte Operation
'82 geführt, und der Bruch ist da, das muß man
einfach sehen.
AZW: Können Sie kurz ausführen, was die Operation '82 war?
RM: Operation '82 waren ja damals so die ersten Einschnitte ins soziale Netz, die unter der SPD-Regierung noch in Angriff genommen wurden. Und uns hat man ja damals auch in der Auseinandersetzung um den Nato- Doppelbeschluß vorgeworfen, wir hätten die Schmidt-Regierung gestürzt. Das war immer der konkrete Vorwurf an die Gewerkschaften, und wenn wir nicht gewesen wären mit unserer ständigen Maulerei und Opposition gegen die SPD, dann wäre dieser Druck nicht dagewesen. Das stimmt einfach nicht. Man kann auch nicht alles mitmachen, wobei ich denke, Gewerkschaften müssen auch umdenken.
AZW: Inwiefern umdenken?
RM: Umdenken heißt, wir leben nicht mehr in der vielbesungenen Welt der 20er oder der 50er Jahre, so nach dem Krieg. Also die Menschen in den Betrieben schaffen einfach anders. Es gibt nicht mehr viel klassische Akkordarbeit oder viele klassische Angestellte, wie es in den herkömmlichen Tarifverträgen noch drin ist. Und da denke ich, Gewerkschaften haben auch viele Fehler gemacht, weil sie immer denken, man muß alles regeln. Und in der heutigen Produktionsgesellschaft ist das gar nicht mehr machbar und möglich. Man muß einfach den Menschen in Betrieben ein Stück weit mehr Verantwortung geben, d.h. man muß Mindest- und Rahmenbestimmungen festlegen, aber ansonsten ist es schon wichtig, daß man den Menschen in den Betrieben mehr Selbstverantwortung läßt. Ich kann mich noch an die Diskussion über Gleitzeit erinnern, das war ja innerhalb der IG Metall total verpönt. Dabei ist das für mich als Person schon ein Stück Freiheit, wenn ich selber bestimmen kann, ob ich um 7 Uhr oder um 9 Uhr zu arbeiten anfange.
AZW:Welche Perspektiven haben Sie für Ihre weitere politische Arbeit? Werden Sie sich auf die parlamentarische Politik konzentrieren oder sich weiterhin auch gewerkschaftspolitisch betätigen?
RM: Ich hatte mit meiner Gewerkschaft
immer Schwierigkeiten, wenn es um Positionen
ging, bei der ganzen Frauenpolitik zum Beispiel,
wo ich einfach anderer Meinung bin. Ich habe
immer versucht, durch eine langfristig angelegte
Politik auch was zu verändern, genauso in der
SPD. Wobei ich das mit Sicherheit stärker
innerhalb der Gewerkschaften gemacht habe, das
ist keine Frage, weil das mein Schwerpunkt war.
Insofern hatte ich nie Schwierigkeiten zwischen
meiner Arbeit als DGB-Vorsitzende, weil ich auch
eigene Akzente gesetzt habe. Daß man damit nicht
immer Freunde gewinnt, das ist klar, aber das
will ich auch nicht. Zum anderen ist es
vielleicht auch ganz gut, daß ich durch meine
Kündigung ein politisches Zeichen gesetzt habe.
Vielleicht kommt jemand, der wieder einmal mit
neuen Ideen hier reinkommt und vielleicht auch
frischen Wind reinbringt. Also ich mache ja nicht
erst seit 8 Jahren Gewerkschaftsarbeit, sondern
mittlerweile seit 22 Jahren.
Für mich ist es ein Neuanfang. Ich werde mich
jetzt erst einmal auf den Kreistag konzentrieren.
Nach dem Erziehungsurlaub - ich hoffe, daß ich
das letzte halbe Jahr noch ein bißchen genießen
kann - werde ich dann eine Ausbildung machen,
also für mich persönlich in einen anderen Bereich
gehen. Ja, und dann versuchen irgendwo zu
arbeiten. Und das tut vielleicht einer
Hauptamtlichen auch einmal wieder ganz gut,
zurück an die Basis zu kommen und wieder einmal
ein Stück weit näher an den Problemen der
Menschen zu sein. Insofern ist es kein Bruch,
sondern eine Fortsetzung der Erfahrungen, die ich
in den letzten 20 Jahren auch gemacht habe. Also
ich denke, ein Mann hätte da wahrscheinlich
andere Probleme damit. Es kommt aber immer darauf
an, ob man erst was ist durch sein Amt - weil
etwas anderes ist das ja nicht - oder ob man
durch sich heraus etwas ist. Also ich bin schon
eine Persönlichkeit, ich weiß, was ich will, und
insofern tut mir das jetzt auch nicht weh. Es
kratzt nicht an meinem Selbstbewußtsein.
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