Seeblättle  <<  >>  Quelle:  Seeblättle  Jg. 2000  Nr. 3 

Ein Obdachloser stirbt im Krankenhaus an Tbc

Ein tragischer Tod

Der, dem allgemeinen Lebensstil angepasste, schludrige Umgang mit unserer Sprache hat auch zu einem Missbrauch des Wortes "tragisch" geführt. So las ich in diesen Tagen von einem "tragischen" tödlichen Unfall, der einen Menschen ereilt hatte, der sich mit der Äkschen von bungee jumping einen "ultimativen" (wurde er dann auch) Kick verschaffen wollte, um der Öde seines sinnlosen (er fand es sicher geil und high) Lebens wenigstens temporär zu entgehen.

Nein, das ist im ursprünglichen Sinne des Wortes nicht tragisch. Keine (wie bei den antiken Griechen) unvermeidliche, schuldhafte (d.h. mit der göttlichen Ordnung in Konflikt geratene) Verstrickung, an deren Ende zwanghaft der Tod steht. Mir erscheint dieser Begriff brauchbar für die Entwicklung des Schicksals, das unausweichlich zum bitteren Ende führen muss.

Das gilt wohl für diesen Obdachlosen, der vor wenigen Tagen an einer Tbc gestorben ist, die am Ende einer Kette von Schlägen stand, die bei Bestand einer göttlichen Ordnung (im modernen Sinne: einer Gesellschaftsordnung, die wahrhaft gerecht und sozial ist) vermeidbar, aber von diesem Menschen in dieser Umgebung nicht abgewehrt werden konnten.

Um sich den Verlauf dieses Lebens vorzustellen, bedarf es keiner besonderen Phantasie. Wir lesen und erfahren ja so oft von den Schicksalen der Menschen, deren Chancenlosigkeit in diesem brutalen System sozialdarwinistischer Art zwangsläufig ins Verderben führt. Die Weichen werden schon mit der Herkunft aus einem zerrütteten, armen Elternhaus gestellt. Die nächsten Stationen sind vorprogrammiert: der Kampf ums Überleben in Erziehungsheimen und Waisenhäusern, die Unmöglichkeit, einen qualifizierten Beruf zu ergreifen, das Ausgestoßenwerden von einer Gesellschaft, die mit "solchen Figuren" nichts zu tun haben will, die Arbeitslosigkeit, aus der es kein Entrinnen gibt umd dann am Schluss das "Leben" in einem Wohncontainer, dessen benutzbare Fläche nicht größer ist als der Raum, der gesetzlich für das Halten eines Hundes vorgesehen ist. Und zu allerletzt das Abgleiten in die Agonie einer Krankheit, der Schwindsucht, die heute nur noch jemanden töten kann, der in hilflosem Alleingelassenwerden von der Teilnahme an einer, sonst 100%-ig sicheren, Heilung durch die entsprechende Therapie ausgeschlossen ist.

Damit ich recht verstanden werde: niemand ist in diesem Zusammenhang rechtlich schuldig. Ich klage uns, diese Gesellschaft an. Mitten in diesem Reichtum (jedenfalls gültig für zwei Drittel), in dieser ungeheuren Geschäftigkeit, in diesem Gespinst von leerem Gerede über unser "soziales Gewissen", krepiert einer, der zu retten gewesen wäre, wenn hier unter dem Begriff "Menschenrechte" nicht in erster Linie die hemmungslose Befriedigung individueller Bedürfnisse, sondern das Recht auf soziale Gerechtigkeit verstanden würde.

Wir müssen uns, müssen diese Gesellchaft anklagen. Der Verstorbene hat ja theoretisch die Möglichkeit gehabt, zum Arzt zu gehen. Im Klinimum ist (eine Selbstverstädlichkeit) schnell die richtige Diagnose gestellt und die richtige Therapie eingeleitet worden. Ein Kranker, der nach einem Kurzem Aufenthalt im Krankenhaus stirbt, muss seit vielen Monaten Symptome gezeigt haben, die auch von einem Laien erkannt werden können. Aber das Entscheidende fehlte: die Nähe zu diesem Bruder.

PS. Es muss mit allem Nachdruck darauf gedrängt werden, dass eine zuständige Einrichtung die Konsequenzen aus diesem Fall zieht und sich regelmäßig um das Befinden der Obdachlosen kümmert.

Manfred Finnendegen


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Linksrheincm27.09.2000