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Studiengebühren sind eine unzumutbare Härte für behinderte und chronisch kranke Studierende

Die BAG Sozialhilfe wendet sich gegen jede Form von Studiengebühren. Insbesondere wendet sich die BAG Sozialhilfe auch gegen eine unmodifizierte Anwendung des Studienkontenmodells auf behinderte und chronisch kranke Studierende. Mit großer Bestürzung und Verwunderung haben wir den Entwurf des Gesetzes zur Einführung von Studienkonten und zur Erhebung von Hochschulgebühren nebst der zugehörigen Verordnung und Begründung zur Kenntnis genommen. Nachdem Baden-Württemberg als erstes Bundesland mit der Einführung von Studiengebühren für Langzeitstudierende eine Vorreiterrolle übernommen hat, zieht jetzt auch das Land Nordrhein-Westfalen nach. Mit geplanten 650,- Euro pro Semester für Langzeitstudierende nach einer Überschreitung der Regelstudienzeit um mehr als vier Semester präsentiert es sich sogar als Spitzenreiter hinsichtlich der Gebührenhöhe und Schnelligkeit der Einführung der Gebühren.

In der Diskussion um die Einführung von Studiengebühren ist bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden, dass Studiengebühren für behinderte und chronisch kranke Studierende zu einer zusätzlichen schwerwiegenden Benachteiligung führen. Die Organisation und Durchführung eines Studiums im Kontext einer Erkrankung oder Behinderung erfordert ohnehin eine Betätigung des behinderten und chronisch kranken Studierenden als Manager der eigenen Benachteiligung und der aus ihr erwachsenden Folgen für die selbstbestimmte Lebensführung. Kommen hierzu nun noch zusätzliche finanzielle und psychische Belastungen in Form von zugleich einen sozialen Druck zum Abschluss des Studiums aussprechenden Studiengebühren, werden behinderte und chronisch kranke Studierende über Gebühr in Anspruch genommen. Die Relation zu den Studienbedingungen nicht benachteiligter Studierender geht vollständig verloren. Durch die Einführung der sogenannten Langzeitstudiengebühren werden behinderte und chronisch kranke Studierende zwar nicht an der Aufnahme eines Studiums gehindert, gleichwohl aber daran, es qualifiziert abzuschließen.

Beispielhaft seien hier nur die folgenden Probleme aufgezeigt:

1. Die Einführung von Studiengebühren für ein Zweitstudium kann bei Studierenden, die aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung zu einem Studienfachwechsel gezwungen werden, dazu führen, dass die Aufnahme eines Zweitstudiums wegen der damit verbundenen zusätzlichen finanziellen Belastungen von vorneherein verhindert wird. Nur durch eine Gebührenfreiheit des Zweitstudiums können behinderte und chronisch kranke Studierende die auf dem Arbeitsmarkt notwendigen Zusatzqualifikationen oder behinderungsbedingte Spezialisierungen erwerben.

2. Zudem führen behinderte und chronisch kranke Studierende häufiger einen Wechsel des Studienfachs durch als nicht benachteiligte Studierende. Die Ursache hierfür liegt in der besonderen sozialen Situation der behinderten und chronisch kranken Studierenden, die sich regelmäßig aus ihrem Lebenslauf (etwa durch Erlangung der allgemeinen Hochschulreife im Rahmen spezifischer Bildungseinrichtungen) und den daraus resultierenden Lebensbedingungen ergibt. Durch die Einführung von Studiengebühren würden wiederum die behinderten und chronisch kranken Studierenden unverhältnismäßig belastet werden.

3. Für behinderte und chronisch kranke Studierende, die vor Aufnahme ihres Studiums bereits eine Lehre erfolgreich abgeschlossen haben, ergibt sich zudem das Problem, dass sie vom Gesetzgeber mit dieser Berufsausbildung bereits als ausreichend in das Berufsleben eingegliedert betrachtet werden. Dies hat zur Folge, dass sie ohnehin während ihres Studiums einen behinderungsbedingten Mehrbedarf nach dem BSHG nicht mehr geltend machen können. Auch hier führt die zusätzliche Belastung mit Studiengebühren generell zu einer unzumutbaren Härte. Ergibt sich hieraus, dass behinderten und chronisch kranken Menschen nach Abschluss einer Berufsausbildung faktisch der Zugang zu den Hochschulen aus finanziellen Gründen unmöglich gemacht wird, ist möglicherweise bereits der Bereich der Einschränkung der verfassungsrechtlich garantierten Freiheit der Berufswahl tangiert.

4. Auch kann es durch eine Erkrankung und die anschließend erforderliche Therapie und Rehabilitation zu Abweichungen in der Studienverlaufsplanung kommen, welche zu Verlängerungen des Studiums führen können, ohne dass dies durch Urlaubs- und Krankheitssemester ausgeglichen werden kann, etwa weil Pflichtveranstaltungen nur jedes zweite Semester angeboten werden oder aber Rehabilitation und Aufnahme des Studiums sich überschneiden. Unabhängig von der Einführung von Studiengebühren sind behinderte und chronisch kranke Studierende ohnehin schon an den Hochschulen massiv benachteiligt. Diese Benachteiligung zeigt sich in vielfältiger Weise:
(x) Fehlende Barrierefreiheit der Universitätsgebäude und Einrichtungen
(x) Fehlende Ausstattung mit behindertengerechten Lehrmaterialien (beispielsweise Braille Schrift)
(x) Fehlende Finanzierung von Hilfspersonal (etwa Gebärdendolmetscher/inn/en)
(x) Fehlende Flexibilität im Umgang mit behinderten Studierenden (etwa Anwesenheitspflichten)
(x) Fehlendes Vorhandensein von Ruheräumen (zum Beispiel für die Einnahme von Medikamenten)

Auch die darüber hinaus vorhandenen Rahmenbedingungen im außeruniversitären Bereich sind für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung sehr problematisch:
(x) Hoher Organisations- und Zeitaufwand für Assistenz und Hilfen im Alltag
(x) Fehlender behindertengerechter und finanzierbarer Wohnraum in Studienortnähe
(x) Fehlende Anerkennung behinderungsbedingten Mehrbedarfs (über den BAFöG-Regelsatz hinaus)
(x) Fehlende Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit neben dem Studium für behinderte Studierende
(x) Schlechte oder nicht behindertengerechte Ausstattung der öffentlichen Verkehrsmittel

Studiengebühren in Höhe von 650,- Euro pro Semester entsprechen in etwa dem monatlichen Bedarf eines Studierenden nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte in Hamm und Düsseldorf. Bereits für Studierende ohne Behinderung oder chronische Erkrankung ist es angesichts der desolaten Lage auf dem Arbeitsmarkt und der eingeschränkten Möglichkeiten staatlicher Studienfinanzierung durch das BAFöG ausgesprochen schwierig, diesen Betrag als "13. und 14. Monatsgehalt" aufbringen zu müssen. Wie sollen dann erst behinderte und chronisch kranke Studierende mit einem ohnehin erhöhten Mehrbedarf diese Leistungen erbringen können, wenn nicht ausnahmsweise die ausreichende finanzielle Ausstattung mit Mitteln aus dem Elternhaus gegeben ist? Letztlich liefe dies auf eine Arbeitstätigkeit neben dem Studium hinaus, die einen zeitlichen Umfang einnehmen würde, der mit dem Studium unvereinbar wäre und dadurch zu einer erneuten Verlängerung des Studiums und damit zu weiteren finanziellen Belastungen führen würde. Nur ergänzend soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass Arbeitsmöglichkeiten für behinderte und chronisch kranke Studierende mangels entsprechenden Angebots kaum bestehen und eine Erwerbstätigkeit im erforderlichem Umfang ein Ausmaß annehmen müsste, dass auch unter sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten zu weiteren Problemen führt (etwa bei der Frage der Kranken- und Pflegeversicherungspflicht als Arbeitnehmer und nicht mehr als hinsichtlich der Beitragshöhe privilegierter Studierender).

Berücksichtigt man zudem noch, dass neben der Einführung der Studiengebühren auch noch mit einer Erhöhung der Sozialbeiträge in Folge von Kürzungen bei den Zuschüssen an die Studierendenwerke zu rechnen ist, kann hieraus nur der Schluss gezogen werden, dass Studiengebühren jedweder Form für behinderte und chronisch kranke Studierende generell unzumutbar sind. Mit der Einführung der Studiengebühren würden die Bemühungen des Bundes und des Landes zur Integration behinderter und chronisch kranker Menschen ad absurdum geführt werden. Während auf der einen Seite Integrationsschulen eingeführt, Behindertengleichstellungsgesetze geschaffen und Barrierefreiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen angestrebt wird, wird behinderten und chronisch kranken Menschen auf der anderen Seite aufgrund von haushaltspolitischen Zwängen die Möglichkeit zur gleichen Inanspruchnahme von staatlichen Bildungsleistungen gegenüber nichtbenachteiligten Studierenden wissentlich und willentlich genommen.

Der in der Verordnung zum Gesetz zur Einführung von Studienkonten und zur Erhebung von Hochschulgebühren vorgesehene Regelbefreiungsvorbehalt für behinderte Studierende kann darüber nicht hinwegtäuschen. Dieser Befreiungsvorbehalt knüpft zunächst an die Nachteiligkeit der Behinderung oder chronischen Erkrankung für den konkreten Studienverlauf an, ohne dabei die bildungsrelevante Vorbelastung durch die Inanspruchnahme eines zusätzlichen Bildungswegs (etwa im Rahmen von "Sonderschulen") oder den starken psychischen und gesellschaftlichen Druck in der Entwicklung behinderter und chronisch kranker Menschen überhaupt zu berücksichtigen.

Auch die kurze Frist bis zur Einführung der Studiengebühren stellt Behinderte und chronisch Kranke vor besondere Schwierigkeiten. Bis zum Beginn der Rückmeldungen für das Sommersemester 2003 werden die Hochschulen voraussichtlich nicht in der Lage sein, ein die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen achtendes Verfahren zu installieren und gleichzeitig für hinreichend geschultes Personal zu sorgen, dass die im Umgang mit den von den Befreiungstatbeständen betroffenen Studierenden generell die dringend erforderliche Sensibilität wahrt. Erst recht wird man bis zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage sein, ein einheitliches Verfahren und gleichartige Bedingungen an allen Hochschulen in Nordrhein-Westfalen zu schaffen, so dass hier bereits der Grundstock für eine in rechtlicher Hinsicht massiv bedenkliche Ungleichbehandlung gelegt würde.

Zudem bleibt den Hochschulen ein unverantwortlich weiter Ermessensspielraum in der konkreten Handhabung des Befreiungsvorbehalts. Hierdurch könnten faktisch in Absprache der Hochschulen Behindertenfakultäten geschaffen werden, die besonders großzügig in der Aufnahme behinderter und chronisch kranker Studierender verfahren, während andere Hochschulen die Kriterien wesentlich strenger handhaben. So könnte versucht werden, behinderte Studierende gezielt an bestimmte Hochschulen zu führen und ihnen damit einen wesentlichen Teil ihrer Bildungs- und letztlich Berufsfreiheit zu nehmen. Der Diskriminierung in der Wahl des Studienortes und möglicherweise des Studienfaches durch faktisch geschaffene Sachzwänge stünde damit Tür und Tor offen. Dies ist in keinem Fall tolerabel und zudem auch nicht dem Bild eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats entsprechend, der sich seiner Verfassung tatsächlich verpflichtet fühlt.

Daher sind in Abweichung von den bisherigen Vorstellungen und den bisherigen Regelungen im genannten Gesetz und der zugehörigen Verordnung folgende Eckpunkte für eine Befreiung der behinderten und chronisch kranken Studierenden von der Studiengebührenpflicht festzuhalten:
1. Behinderte und chronisch kranke Studierende sind generell und unabhängig von der konkreten Auswirkung ihrer Behinderung auf den Studiumsverlauf von der Verpflichtung zur Zahlung von Studiengebühren zu befreien.
2. Die Befreiungsvorbehalte und Ausnahmetatbestände sind im übrigen landeseinheitlich auszugestalten, ohne dass den Hochschulen relevante eigene Entscheidungsmöglichkeiten verbleiben. Nur so kann die Bildung von Behindertenschwerpunkten an einzelnen Universitäten vermieden werden.
3. Als Nachweise für die Benachteiligung sind grundsätzlich der Behindertenausweis oder vorhandene ärztliche oder psychologische Gutachten ausreichend, ohne dass die Hochschulen spezifische weitere Untersuchungen verlangen können. Die Inanspruchnahme der Befreiungstatbestände darf nicht durch unzumutbar hohe und entwürdigende bürokratische Verfahren verhindert werden.

(für die Bundesarbeitsgemeinschaft 'behinderter' Studierender - BAG - Kurt Stiegler, Autonomer Behindertenreferent des AStA der Uni Münster)

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