Vorwort:
"Mit Festigkeit auf Herausforderungen reagieren"

Rund zehn Jahre "Forschung, Entwicklung und Erprobung" (1) in Waffenfabriken und Polizeiinstituten hat es gedauert, bis eine Landesregierung die Zeit für gekommen hielt, die Ausrüstung ihrer Polizei mit Gummigeschossen anzukündigen. Noch im ersten Halbjahr 1983 will die baden-württembergische Landesregierung über diesen Schritt abschliessend entscheiden. Nach bekanntem Muster werden dann erst Bayern und Niedersachsen und darauf die übrigen CDU-regierten Länder folgen. Mit der Einführung dieser Geschosse wird ein weiterer Eckpfeiler des Abbaus demokratischer Grundrechte, speziell des Versammlungsrechtes gesetzt. Die vergangenen Jahre haben diese Tendenz auf zwei Ebenen zum Ausdruck gebracht: Der Aufbau riesiger Dateien und Überwachungsanlagen, die Gesinnungsüberprüfung durch öffentliche und private Arbeitgeber sowie der ungehemmte Ausbau des bundesdeutschen Polizeiapparates - das sind einige der Bestandteile jener Präventivstrategie, die Angst und Zurückhaltung vor politischen Aktivitäten bewirken (sollen).

Wer dennoch seine Ablehnung gegenüber der herrschenden Politik in der BRD zum Ausdruck bringen will, muss mit den Folgen polizeilicher Hochrüstung und unmittelbarer Kriminalisierung rechnen: Sei es an der Startbahn-West, wo die Bevölkerung einer ganzen Region mit bürgerkriegsähnlichen Polizeistrategien von ihrem anhaltenden Protest gegen ökologischen Mord und militärische Aufrüstung abgebracht werden soll, oder seien es Gerichtsurteile in Frankfurt, Berlin und Neumünster (Brokdorf), die die Bewegungen gegen die NATO-Startbahn, gegen Häuserspekulation und das Atomprogramm kriminalisieren und einen gewollten Abschreckungseffekt haben. Sobald Staat und Sicherheitsbehörden ihre Interessen gefährdet sehen, wird offene Gewalt zum Einsatz gebracht, unterschiedslos gegen Friedliche" wie "Gewalttäter": Mit ausgeklügelter Kampftechnologie, Hochdruckwasserwerfern und Spezialeinheiten, gegen die das Bild der Polizei der sechziger Jahre altertümlich anmutet.

Gummigeschosse stellen in diesem Zusammenhang eine neue Qualität dar: Das Zielen und Schiessen auf Menschenmengen baut in beträchtlichem Masse letzte psychologische Hemmschwellen bei der Polizei ab und wird, neben schweren Verletzungen, auf Seiten demonstrierender Bürgerinnen und Bürger bereits vorhandene Ohnmachtsgefühle steigern.

Aber ebensowenig wie diese innere Aufrüstung nur einzelnen Bewegungen allein gilt, ebensowenig ist diese Repressionsstrategie allein Politik der CDU/CSU - im Bereich der inneren Sicherheit regierte schon immer die "grosse Koalition der Angst" vor inneren Unruhen: " Wenn wir zuliessen, dass diese Gewaltbereitschaft um sich griffe, wenn demnächst Arbeitnehmer, die arbeitslos geworden sind, zu Steinen greifen wurden: Unsere Demokratie wäre bald am Ende. Deswegen muss auf solche Herausforderungen mit Festigkeit reagiert werden. (...) Aber ich teile die Meinung vieler Polizeibeamter: Irgendwann muss auch einmal Schluss mit den Rechtsmitteln und den Rechtswegen sein. Wir haben das in der Bundesrepublik vielleicht etwas übertrieben. Hier muss langsam aber deutlich abgegrenzt werden" (2). Diese Worte des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, gesprochen vor Beamten des Bundeskriminalamtes im März 1982, markieren deutlich, wo es in den achtziger Jahren langgehen soll.

Es ist gewiss kein Zufall, dass Baden-Württemberg nach der unlängst erfolgten Einführung eines Gebührenkataloges für Polizeieinsätze bei Demonstrationen auch in Sachen Gummigeschosse eine Vorreiterrolle spielt. Die Einführung von Gummigeschossen gerade in Deutsch-Süd-West macht zudem auf eindrucksvolle Weise den Zusammenhang zwischen äusserer und innerer Aufrüstung deutlich - ausgerechnet das Bundesland, in dem ab Herbst 1983 der Grossteil amerikanischer Pershing 2-Raketen stationiert werden soll, schliesst auch im Polizeibereich als erstes die "Lücke im Mittelstreckenbereich" (3).

Die festen Mehrheitsverhältnisse im christdemokratischen Musterländle lassen es aussichtslos erscheinen, die Kabinettsentscheidung in Stuttgart noch beeinflussen zu können. Hoffnung darf allerdings gesetzt werden in einen Initiativantrag, den der belgische Abgeordnete Jaques Vandermeulenbroucke Mitte Februar im Europaparlament eingebracht hat. Der Antrag zielt auf die europaweite Ächtung von Gummigeschossen und findet bislang die Unterstützung von 30 weiteren Parlamentariern. Bereits im Mai letzten Jahres beschloss die Strassburger Versammlung mit überwältigender Mehrheit, Plastikgeschosse in ihren Mitgliedsländern zu ächten. Auch wenn Entscheidungen des Europaparlaments nur empfehlenden Charakter haben , so dürfte das Kabinett in Stuttgart in ernsthafte Legitimationsschwierigkeiten geraten, sollte es ein Verbot aus Strassburg übergehen wollen.

Mit der vorliegenden Broschüre beabsichtigen wir in erster Linie, Materialien und Hintergründe zum Thema Gummi- und Plastikgeschosse zu liefern, damit ein starker öffentlicher Druck den Einsatz der Gummischrote in Baden-Württemberg politisch unmöglich macht und ein Nachziehen der übrigen CDU-regierten und später auch der noch SPD-regierten Länder verhindert wird.

Die vorliegende Broschüre ist gleichzeitig auch Ausdruck unserer Verbundenheit mit denjenigen, die in Nordirland und in der Schweiz Opfer von Plastik- oder Gummigeschossen wurden. Der europaweit zunehmenden inneren Repression muss im Interesse aller Protest- und Widerstandsbewegungen gemeinsam Einhalt geboten werden.

Die Herausgeber

Quellen:

  1. Bericht der Technischen Kommission an die Innenministerkonferenz, Herbst 81
  2. Die Polizei, 6/82
  3. Bereitschaftspolizei - heute, 3/82