30. Mai 1980. "WIR SIND DIE KULTURLEICHEN DER STADT", heisst es auf einem Transparent der 100-200 Demonstranten, die sich vorm städtischen Opernhaus versammelt haben. Ihre Geduld ist zu recht vorbei:
Seit über 30 Jahren kämpfen in der Metropole der Schweizer Grossbanken Jugendliche für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum. Konzepte, Trägervereine und einigermassen akzeptable Gebäude hat es zu Hauf gegeben, Geld aus langjährigen Sammlungen liegt auf den Konten. Getan hat sich nichts.
Stattdessen will sich Zürichs Bürgertum jetzt einen Kredit über 61 Millionen Franken zur Renovierung des Opernhauses bewilligen, mit der Konsequenz, dass für die Dauer des Umbaus die als Jugendzentrum vorgesehene "Rote Fabrik" als Requisitenkammer der Oper beansprucht wird. "Dreissig Jahre warten wir nun auf ein Jugendzentrum, jetzt sollen die Opernhausbesucher mal dreissig Minuten zuhören, bis sie in ihr Haus reinkönnen", beschreibt ein Sprecher der "Arbeitsgruppe Rote Fabrik" (ARF) das Ziel der abendlichen Kleindemonstration.
Plötzlich strömen aus dem Foyer Polizeieinheiten, Knüppel in der rechten, Strohschilde in der linken Hand und prügeln auf die Versammlung ein. Farbbeutel fliegen zurück, dann Steine. "Innerhalb kürzester Zeit vermehren sich die Demonstranten wie durch ein Wunder. Pech für die Polizeikräfte. Ein Bob-Marley-Konzert ist gerade zuende, und der Besucherstrom wälzt sich zurück in die Innenstadt. Die erste Barrikade steht plötzlich quer über dem Limmat Quai. Sie brennt. Die Polizei setzt Tränengas ein, knüppelt, feuert mit Gummigeschossen in die Menge. Später wird auch das Nervengas CB eingesetzt", beschreibt Günter Amendt in KONKRET (8/80) den Verlauf des Abends. "Was sich in dieser Nacht auf Zürichs Strassen abspielt, hat europäisches Niveau. Und das macht Zürichs Bourgeoisie so fassungslos. So was in ihrer Stadt? Aber sie haben erst den Anfang erlebt. Die Demonstrationen werden sich wiederholen. Es wird zu neuen heftigen Strassenschlachten kommen. Eine Protestbewegung ist entstanden. Die Jungen nennen sie schlicht: D'BEWEGIG !"
Mit phantasievollen Aktionen und Unterstützung auch aus dem liberalen Bürgertum gelingt es in den nächsten Wochen, der Stadt ein Autonomes Jugendzentrum abzutrotzen. Nach gerade 68 Tagen wird es geschlossen und erst auf grossen Druck wieder freigegeben. Ein Jahr später wird es dann endgültig dichtgemacht und schliesslich geschleift. Parallel dazu kommt die ganze Palette direkter Repression zum Einsatz: Polizeibrutalitäten und Massenfestnahmen, präventive Verhaftungen mutmasslicher Köpfe der "Bewegig", Denunziationen am Arbeitsplatz und in der Schule, Verlust grundlegender Rechte nach Festnahmenund Aufstellen "zuverlässiger" Staatsanwälte zu einer speziellen "Krawallgruppe". Mit Getöse verliert Zürich seine demokratische Unschuld, begleitet von faschistoiden Ausbrüchen eines aufgehetzten Kleinbürgertums. Die "Bewegig" erstickt in der Repression, immer schwieriger gestaltet es sich, politische Inhalte zu vermitteln. Die neu erwachten Lebensenergien, Solidarität, Kampfwillen und optimistische Hoffnungen werden gedämpft, Angst schleicht sich ein. Harte Urteile, nächtliche Polizeieinsätze gegen alle Jugendlichen, die sich gerade auf der Strasse befinden, und schwere Verletzungen - insbesondere durch Gummigeschosse - tragen ihren Teil zur Resignation bei. Immer mehr bleiben zu Hause, vielfach gelingt es nicht einmal mehr, sich zu versammeln, weil die Polizei die Treffpunkte bereits besetzt hält und Demonstrationen, weil in der Regel nicht bewilligt, auch gar nicht erst angemeldet werden. Die Tausende der Anfangswochen schrumpfen bis Ende 1981 auf wenige hundert Menschen zusammen. Das "Packeis" erweist sich im ersten Anlauf stärker als die spontane Rebellion der Jugendlichen.
In den direkten Polizeieinsätzen spielen Gummigeschosse eine besondere Rolle: Die sechseckigen Hartgummischrote von 10, später auch 18 Gewicht, die gebündelt zu 35 Stück mit ca. 200 km/h aus den Rohren der Polizeikarabiner abgefeuert werden, versetzen Demonstranten wie unbeteiligte Passanten in Angst und Schrecken. Mit der Zeit werden die Abschussdistanzen kürzer, die Verletzungen dementsprechend schwerer, und die vorherrschende öffentliche Meinung ruft nach einer noch härteren Gangart.
Mitglieder der "Vereinigung unabhängiger Ärzte der Region Zürich" (VUÄ) stellen die in ihren Praxen behandelten Verletzungen zusammen: Rissquetschwunden, grossflächige Blutergüsse, Fingerbrüche, Platzwunden und schwere Augenverletzungen. Zwei Dokumentationen des Zürcher "Vereins betroffener Eltern" listen auf, dass bei insgesamt sieben Menschen der teilweise oder totale Verlust der Sehfähigkeit auf einem Auge zu beklagen ist: Eine Horrorstatistik, die ausdrückt, dass bei rund 8000 insgesamt abgefeuerten Gummigeschosspaketen jeder tausendste Schuss ein Augenlicht kostet... (1)
"Auf einem Tablar meines Bücherregals steht ein Hartgummigeschoss, Geschenk einer Züricherin (Mitte sechzig!). Hie und da fasse ich das schwarze, sechseckige Ding an, befühle es, wäge es in der Hand, frage mich, wer es wohl erfunden hat, wie es wirkt, wenn es, abgeschossen, mit hoher Beschleunigung z.B. ein Gesicht trifft, sehe Fotos und Fernsehbilder vor mir, Leute, die sich an den Kopf greifen, stürzen, eine Frau, die schreiend davonrennt, weil das Geschoss ihr ein Auge zerstört hat, das blutüberströmte Gesicht. Was ist schlimmer: eine zerbrochene Fensterscheibe oder ein verlorenes Auge? Die Scheibe kann repariert werden, das Auge nicht mehr. Darum halte ich die Hartgummischiesserei für unverantwortlich, für unverhältnismässig", schreibt der Schweizer Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti in einer Stellungnahme an den "Verein betroffener Eltern".(2)
Zürichs Polizei sieht es anders: Gummigeschosse, so bringt es Polizeivorstand Hans Frick mehrmals zum Ausdruck, seien ungefährlicher als Gummiknüppel und ein reines Defensivmittel gegen gewalttätige Demonstranten. Seine Beamten hätten die Anweisung, die Geschosse nicht unterhalb einer Distanz von 20 m einzusetzen, aber natürlich seien die Geschosse geeignet, Gesichtsverletzungen zu bewirken, doch seine Polizisten hätten schliesslich auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Genaue Angaben über die Anzahl verletzter Polizisten kann er allerdings nicht vorlegen.(3)
Auch Zürichs Polizeiverlautbarungen haben "europäisches Niveau", sie weichen von den tatsächlichen Einsatzumständen und ihren Folgen ebenso ab wie die ihrer Kollegen in Belfast oder Westdeutschland. Die Berichte der Getroffenen in den Dokumentationen der Elternvereinigung sprechen hinsichtlich der Einsatzsituationen und Schussentfernungen eine andere Sprache:
Ursula B.: "Ich wohnte damals im Kanton Aargau. Am 4. September (1980, Anm.) war ich in Zürich, um meine Ferien in Griechenland zu regeln. Nach einem Kinobesuch verliess ich den Bahnhof... Ich merkte erst gar nicht, dass da etwas los war. Erst als ich mich umdrehte, sah ich Menschen in Richtung Bahnhof rennen. Die Polizei war durch ein blockiertes Tram für mich unsichtbar. Als die Polizisten um das Tram gerannt kamen, wurde ich aus ca. vier Meiern Entfernung getroffen. Ich brach zusammen. Ein Polizist schrie mich an, ich solle verschwinden. Ich sagte ihm: 'Mein Auge läuft aus'..."
Das Auge muss einige Wochen später entfernt werden. Die Polizei behauptet, es sei kein Gummigeschoss gewesen, sondern ein von Demonstranten geworfener Stein. Nach Angaben der behandelnden Ärzte kann die Verletzung jedoch nur von einem Gummigeschoss herrühren. (4)
Michael H.: "Am 4. 12. 80, anlässlich des Kinks-Konzertes im Kongresshaus, kam es zum Versuch der Bewegung, einen Gratiseintritt zu erzwingen. Ich war etwas spät dran. Als ich ankam, waren ca. 50 Leute anwesend. Eine Eingangsscheibe ging zu Bruch. Nach 5 Minuten erschien die Polizei und kreiste uns ein. Ich rannte davon. Zwei Polizisten kamen um die Ecke. Einer schoss mir aus 2 Meter Entfernung die ganze Ladung Gummigeschosse ins Gesicht. Ich wurde am rechten Auge, an der Nase, praktisch im ganzen Gesicht getroffen. Ich hatte eine leichte Gehirnerschütterung und erbrach mich. Ob von der Gehirnerschütterung oder von den grauenhaften Schmerzen im Auge, weiss ich nicht. "
Die Polizei weigert sich, Michael unverzüglich ins Krankenhaus bringen zu lassen. Erst nach Personalienfeststellung und erstem Verhör wird er eingeliefert. "Die Diagnose lautete auf Netzhautriss. Ich wurde ambulant behandelt und Weihnachten 1980 operiert. Zurück blieb eine Netzhautverkrümmung. 90 % Sehverlust am rechten Auge. Ich hatte grosses Glück, dass ich nicht auch das linke Auge verlor, ein Gummigeschoss traf mich nur einen Zentimeter links davon."
Ausbeute eines einzigen Polizeieinsatzes am AJZ
oben links: Gummischrotgeschosse, rechts: Nebeltöpfe
unten links: Tränengaswurfkörper, rechts: CS- und CB-Petarden
S.R.: Im Dezember 1980 kommt die damals 16-Jährige auf dem Heimweg am AJZ vorbei, wo gerade ein Polizeieinsatz stattfindet. Aus einer Seitenstrasse kommen ihr Polizisten entgegen. S. wird von Gummigeschossen getroffen und stürzt zu Boden. Ihr Freund eilt ihr zu Hilfe und wird von der Polizei zusammengeschlagen. Beide blieben liegen und schleppen sich zu einem Restaurant, wo S. erstversorgt wird. Nach zwei Operationen besitzt S. heute auf einem Auge nur noch 40 Prozent der Sehkraft. Die Polizei bestreitet, an diesem Abend überhaupt Gummigeschosse abgefeuert zu haben.
Die besondere Gefährdung der Augen ergibt sich aus der Beschaffenheit des Geschosses: "Es ist in seiner Wirkung am ehesten vergleichbar mit massivsten Faustschlägen, bei denen der Treffer so abläuft, dass ein vorstehender Teil der Faust, z.B. ein Fingergelenk oder auch ein Schlagring, das Auge voll trifft, bevor der übrige Teil der Faust auf der knöchernen Umgebung des Auges abgebremst wird", gutachtet der Züricher Augenarzt, Dr. med. Walter Steinebrunner, nach Kenntnis der ersten schweren Verletzungen. (6)
Dem heute 29-jährigen Egon F. wird von einem vorbeirasenden Polizeieinsatzwagen aus ein Gummigeschoss ins Auge geschossen, einer 20-jährigen Schwesternschülerin wird trotz erhobener Hände ein Auge ausgeschossen, und zwei weitere Opfer weigern sich aus Angst vor Repressionen, ihren Fall öffentlich zu machen. Mehrere dieser Getroffenen haben Schwierigkeiten, ihre Spital- und Behandlungskosten von der Krankenkasse ersetzt zu bekommen, einige werden obendrein auch noch mit Anklagen belegt. Schadensersatzforderungen an die Stadt Zürich sind anhängig.(5)
Die Strafanzeige eines der Augenverletzten gegen Unbekannt wegen "schwerer Körperverletzung und Amtsmissbrauch" wird von der Züricher Staatsanwaltschaft abschlägig beschieden, weil von den ca. 80-100 in Frage kommenden Beamten nicht ermittelt werden konnte, "welchem Zug der Schütze angehört hat". Grund: Es existieren keine Unterlagen über Einsatzrouten der verschiedenen Züge, die Züge werden von Fall zu Fall neu zusammengestellt und es wird nirgends vermerkt, an wen Gummigeschossgewehre ausgeteilt werden. Ein Freibrief für weitere Körperverletzungen mit diesem "Defensivmittel"...
Was Zürichs Polizei in der Öffentlichkeit nicht zugeben will, schreiben ihre westdeutschen Kollegen in einem internen Untersuchungsbericht über "neu entwickelte oder in der Entwicklung befindliche Einsatzmittel", der im Herbst 1981 der westdeutschen Innenministerkonferenz vorgelegt wird. Dort heisst es: "Gummi-Schrot-Körper, die ihre kinetische Energie an den Körper abgeben, sind in ihrer Wirkung schwer kalkulierbar. Diese hängt stark von der getroffenen Körperpartie ab. Besonders empfindlich und verletzlich sind die Augen. Bei kleinen 'Geschossen' ist diese unterschiedliche Sensibilität der Körperpartien besonders ausgeprägt. Der Auftreffort von Gummi-Schrot-Körpern kann durch die Waffenstreuung (Streukreisdurchmesser der Schrote auf 25m ca. 3m) und durch die Bewegungen der Störer nicht vorherbestimmt werden. Darüber hinaus ist die Wirkung stark von der Schussentfernung abhängig. (...) Die Erfahrungen der Schweizer Polizei zeigen, dass das Einhalten einer Mindestschussentfernung schwer möglich ist."
Dieser negative Bericht hielt die IMK vor eineinhalb Jahren noch von der Anschaffung von Gummigeschossen ab. Die bisherige Ablehnung von Gummigeschossen in der BRD bildete deshalb auch eines der Hauptargumente derjenigen Gruppierungen in Zürich, die die Hartgummiprismen aus dem polizeilichen Waffenkatalog gestrichen sehen wollen. Der bereits erwähnte "Verein betroffener Eltern" unternahm neben der Dokumentierung einer Vielzahl Fälle weitere Schritte, um die Öffentlichkeit von der tatsächlichen Gefährlichkeit dieser angeblich harmlosen Distanzwaffe zu überzeugen. Über ein Mitglied des Gemeinderates (Stadtparlament von Zürich, Anm.) gelingt es im Februar 1982, eine Empfehlung zur Überprüfung der weiteren Verwendung von Gummigeschossen an den Stadtrat überweisen zu lassen. Nach dem voraussichtlich negativen Bescheid hat die Empfehlung auch in der folgenden Abstimmung im Gemeinderat wenig Chancen, angenommen zu werden, da die bürgerlichen Parteien die Mehrheit haben. Ein Brief von 62 Mitgliedern des Europaparlaments (dem die Schweiz nicht angehört) an den Stadtrat, auf die weitere Anwendung von Gummigeschossen zu verzichten und die europaweite Ächtung von Plastikgeschossen (siehe Artikel zu Nordirland) konsequenterweise auch auf Gummigeschosse anzuwenden, bleibt demonstrativ unbeantwortet. Dafür verabschiedet Mitte Februar 1983 das Zürcher Kantonalsparlament in erster Lesung ein neues Polizeigesetz, in dem Gummigeschosse auch weiterhin zum Katalog der erlaubten Einsatzmittel gehören. Lediglich die Abgeordneten der Sozialdemokratischen Partei (SP) und der POCH (Progressive Organisation der Schweiz, eine links der SP stehende Vereinigung) sprechen sich für ein Verbot aus. Die Vertreter der bürgerlichen Mehrheitsparteien stimmen diesem Abschnitt der Gesetzes vorläge mit dem Argument einer "gewissen präventiven Wirkung" der Gummigeschosse zu. Polizeidirektor Konrad Gisler fügt hinzu, dass schliesslich auch Baden-Württemberg dem "Züricher Beispiel" folge und Gummigeschosse einführe. Abgelehnt wird überdies auch ein Antrag, jedem Gummigeschosseinsatz zumindest eine polizeiliche Warnung vorausgehen zu lassen, da, so ein Mitglied der Fachkommission des Kontonsrates, eine Warnung in der Praxis nur schwer möglich sei. Wie eine nachträgliche Verhöhnung muss der Beitrag des Abgeordneten Bertschinger (Schweizerische Volkspartei) für die Opfer der Züricher Polizeieinsätze klingen: "Jeder, der an Krawallen oder nichtbewilligten Demonstrationen teilnimmt, nimmt dieses Risiko in Kauf".(1)
Unbeeindruckt von der öffentlichen Debatte zeigt Zürichs Polizei unterdessen, wie sehr ihr die Geschosse zur täglichen Gewohnheit geworden sind: Aus der anfangs "reinen Defensivwaffe" ist eine Waffe für so gut wie jede Situation geworden, die Polizeibeamte gemeinhin mit körperlichem Zwang zu lösen versuchen:
So wird die spontane Demonstration einer Züricher Frauengruppe anlässlich einer Vergewaltigung mit Hartgummigeschossen aufgelöst,
Auch bei der Festnahme Betrunkener im "Preussen der Schweiz" gehört das Gummigeschossgewehr mittlerweile ebenso zum polizeilichen Repertoire wie hierzulande die Chemische Keule. (8)
Der "Verein betroffener Eltern" setzt seine Hoffnungen jetzt auf einen Entschliessungsantrag des Europaparlaments, der im Februar 1983 über den flämischen Abgeordneten Jaques Vandermeulebroucke von der Gruppe der kleinen und radikalen Parteien im Europaparlament eingebracht wurde. Die Initiative findet die Unterstützung von bislang weiteren 30 Parlamentariern (u.a. von Abgeordneten der britischen Labour Party und vom SPD-Parlamentarier Olaf Schwencke aus Nienburg/Weser). Der Antrag fordert die europaweite Ächtung von Gummigeschossen jeder Art, hat allerdings auch bei seiner Annahme nur empfehlenden Charakter. Trotzdem wäre es für den Zürcher Stadtrat nur schwer möglich, eine derartige Empfehlung zurückzuweisen, da' gerade die Schweiz grossen Wert auf ein sauberes demokratisches Bild in der internationalen Öffentlichkeit legt. Mit Spannung beobachtet die Elternvereinigung auch die Entwicklung in Westdeutschland. "Wenn in Baden- Württemberg diese Geschosse erst einmal eingeführt sind", erklärt Vorstandsmitglied Michael Freisager, ..dann werden wir hier kaum noch Chancen haben, diese Dinger wegzubekommen".
In Zürich selbst ist es wieder kalt geworden: Isolierung und Pessimismus breiten sich aus. Ein besonders auffälliges Symptom: Viele Jugendliche werden ins Heroin getrieben, allein in den ersten sieben Wochen dieses Jahres sterben zwölf Jugendliche an harten Drogen (9). Die Feststellung der "Eidgenössischen Jugendkommission", deren Bericht auch ausserhalb der Schweiz starke Beachtung fand, gewinnt aktuell wieder einmal Bedeutung: "Wenn Ruhe, Erstarrung und Ordnung Unterdrückung heisst, dann kann von den Betroffenen nur zweierlei erwartet werden: Entweder Resignation, Betäubung und Selbstzerstörung oder Unruhe und Unordnung. Eine demokratische Entwicklung und Auseinandersetzung ist unter diesen Umständen nicht mehr möglich. " (10)
Für die Opfer der Züricher Gummigeschosse wiegt die wiedergekehrte "Eiszeit" doppelt schwer: Bedeutet schon der Verlust eines Augenlichtes einen nicht wiedergutzumachenden Schaden, wirkt der Zerfall der Bewegung auf sie natürlich auch als Verlust einer solidarischen Gemeinschaft, in der sie mit ihrer Situation fertig werden konnten. In einem Brief an die Herausgeber dieser Broschüre schreibt einer der Getroffenen: " Hattet Ihr in Eurem Kampf gegen die Einführung von Gummigeschossen Erfolg, wäre dies auch ein Erfolg für mich, diesen Eingriff in meine körperliche Unversehrtheit zu verarbeiten. Es ist für mich und die anderen, die ein Auge verloren haben, wichtig, dass die Folgen, die ein Einsatz von Gummigeschossen haben kann, in einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind. Die interessierten politischen Kreise versuchen ja, diese Waffe zu verharmlosen und zu verschweigen, dass ihr Einsatz zu nicht wiedergutzumachenden Schaden fuhrt. Für sie ist vor allem die Wirksamkeit, 'Ruhe und Ordnung' herzustellen, die diese Waffe so interessant macht, und die in Zürich eingekehrte 'Ruhe' hat gezeigt, wie nützlich der Einsatz von Gummigeschossen für diesen Zweck sein kann. Als willkommener Nebeneffekt wird natürlich auch erreicht, dass eine basisdemokratische Auseinandersetzung nicht mehr stattfindet, indem viele Leute aus verständlicher Angst vor Folgen auf ihr Grundrecht der Demonstrationsfreiheit verzichten."