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Dead Poets Society

Schulen jeglicher Art, ob Internat, Ganztagsschule, Gymnasium, Mittelschule oder Eliteschule, sollen der Jugend Wissen vermitteln. Die Lehrerschaft hat gelernt, wie sie dieses Wissen zu vermitteln hat. Die Gesellschaft bestimmt die Regeln für den Ausbildungsablauf vor, die dem Ganzen einen Rahmen geben sollen. Nur bestimmte Bildungsabschlüsse, die nach den a1llgemeinen Regeln abgelegt wurden, werden gesellschaftlich anerkannt. Eigene Interessen und Wünsche müssen hintangestellt werden: Alle sollen auf ein Niveau gelangen und dürfen sich nicht absondern, sofern sie in dieser Gesellschaft überleben und sich an so wenig Ecken und Kanten wie möglich stoßen wollen. Lehrer sollen als Autoritäten anerkannt und Lerninhalte weitgehend übernommen werden. Bildung ist kein Geschenk des Staates, sondern eine Investition in dessen Zukunft. Daraus folgt, dass Schülern nicht zu Müßiggängern, sondern zu arbeitswilligen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden sollen. Oder?

Der Film Der Club der toten Dichter (Regie: Peter Weir, Drehbuch: Tom Schulman) spielt im Jahr 1959 in einem erzkonservativen Jungeninternat in der Nähe von Welton, USA. Bereits im Titel wird der Club benannt, um den es sich in diesem Film drehen soll. Niedergeschriebene Kunstwerke und Dichtungen bilden den Grundstein, aus dem klar strukturierten und kompromisslosen Schulalltag auszubrechen. Angespornt von Mr. Keating, einem jungen, kunstbegeisterten Lehrer, trifft sich nachts eine Gruppe Jungs in einer dunklen, kalten Höhle im Wald, hält an diesem ungemütlichen Ort ihre Zeremonien ab und versinkt in Phantasien. Völlig unbedacht und abgewandt von aller Realität, versuchen diese Jungs in ihren spirituellen Treffen, vor den eingefahrenen Ansichten der Eltern und Lehrer zu flüchten. Die elterlichen Ansichten zu hinterfragen, sie zu durchbrechen, wird von den Schülern gar nicht angestrebt; sie versuchen lediglich, ihnen zu entfliehen und ihre Gedanken um etwas ganz Anderes, Angenehmeres kreisen zu lassen.

Der Club der toten Dichter soll ein Drama über das Heranwachsen in einem Eliteinternat mit strengen Normen und Regeln sein. Dargestellt wird das tragische Schicksal des Schülers Todd, der unter dem Druck zusammenbricht, den sein ehrgeiziger Vater ausübt, sowie der aussichtslose Kampf Mr. Keatings gegen veraltete Konventionen und Lehrmethoden mithilfe eines geheimen Vereins, der sich nicht an die Schulregeln und Grundsätze dieses Internats halten will.

Dessen Erziehung beruht seit Internatsgedenken auf vier Säulen: Tradition, Ehre, Disziplin und Leistung. Eltern in angesehenen beruflichen Positionen schicken ihre Söhne an dieses Internat, damit sie nach dem Vorbild ihrer Eltern ausgebildet werden und lernen, ein ordnungsgemäßes Leben zu führen. Die Söhne haben weder Gelegenheit noch Erlaubnis, ihre eigenen Gedanken in den Schulalltag einzubringen. Konservative Lehrmethoden, striktes Auswendiglernen, strenge Hausordnung und die reaktionäre Einstellung der Lehrerschaft machen es den Schülern unmöglich, ihre Jugend auszuleben. Lernen und Erfolg haben ist das, was zählt. Hobbys wie Schauspielerei und Poesie sind an diesem Internat fehl am Platz. Lerngruppen nach dem Unterricht und schulische Themen am Nachmittag sind in Welton die Regel und von den restlichen Pädagogen gern gesehen. Änderungen und Fortschritt sind verpönt, deshalb gibt die Schule ihr Möglichstes, um sich und ihre Schüler von den Einflüssen der Moderne abzuschirmen.

Ein neues Schuljahr beginnt; ein ehemaliger Schüler, Mr. John Keating, fängt in Welton als Lehrer für Englisch an. Bereits in der ersten Unterrichtsstunde wird den Schülern bewusst, dass Keating anders ist als alle anderen Lehrer: Er ist nicht der konservative, klassische Lehrertyp, den sie gewohnt sind. Verblüffend modern scheint er zu sein. Sein Ziel ist es, den Fortschritt, neue Gedanken und andere Ansichten in den Unterricht einfließen zu lassen, seine Schüler zu freiem Denken anzuregen und ihnen – als Hauptsache – die Schätze englischer Dichtkunst näher zu bringen. Dem Rest des Lehrerkollegiums stößt diese Art von Unterricht sauer auf, doch zunächst lassen sie ihn gewähren. Die Schüler sind absolut fasziniert von Keating, bald werden Nachforschungen über ihn und seine Zeit in Welton angestellt. In alten Jahrbüchern finden sie heraus, dass er während seiner Internatszeit Mitglied im Club der toten Dichter war. Schnell ist der Entschluss gefasst – dieser Club muss wieder ins Leben gerufen, aber vor dem despotischen Rektor Nolan geheim gehalten werden.

Nachts haben die Jungs zu schlafen, um für den nächsten Schultag ausgeruht und konzentriert bereitzustehen, unbeeinträchtigt von Müdigkeit und schweifenden Gedanken. Poesie soll nach strengen Regeln analysiert, mit Hilfe von Diagrammen eingeordnet, aber nicht geliebt werden. Die Jungs finden Gefallen an den nächtlichen Aktionen, haben Spaß an Keatings Unterricht und beginnen sich ihre eigenen Gedanken über ihr Leben zu machen. Ein Schüler entdeckt die Liebe und versucht sich per Gedicht an das Mädchen zu tasten. Ein Anderer entdeckt die Schauspielerei und übernimmt die Hauptrolle in Shakespeares Mittsommernachtstraum.

Aber bald bekommen sowohl der Direktor als auch die Eltern Wind davon. Verbote und Strafen ergehen, Maßnahmen, um den Söhnen begreiflich zu machen, dass sie sich um ihren guten Abschluss zu kümmern hätten, statt sinnlos ihre Zeit mit Poesie und Theater zu vergeuden.

Künstlerische Betätigung, die Förderung von schöpferischer Tätigkeit in der jüngsten Generation unserer Gesellschaft hat heute einen anderen und höheren Stellenwert als 1959 in Welton. Längst haben die Pädagogen Konsequenzen aus den negativen Auswirkungen der Lehrmethoden der letzten Jahrzehnte gezogen: Auswendiglernen, stillschweigend Wissen übernehmen und blinder Gehorsam schaden der Individualität, von Kreativität ganz zu schweigen. Heute ist es fast zwingend notwendig, Theatergruppen und Kunstzirkel in den Lehrplan einzubauen. Nicht alle Eltern erkennen diese Betätigungen als notwendig, legen größeres Gewicht darauf, dass ihre Kinder in den wissenschaftlichen Unterrichtsfächern exzellente Noten bringen. Schlechte Zensuren werden missbilligt: Die Schüler sollen sich doch mehr anstrengen, um bessere Leistungen zu bringen – aber keinem Lehrer liegt es am Herzen und keinem ist es möglich, sich um die einzelnen Schüler zu kümmern. Die Zeit von der Vermittlung bis zum Verstehen des Unterrichtsstoffs ist so knapp bemessenem, dass eine intensive Beschäftigung mit den zu behandelnden Themen den Zeitrahmen sprengen würde. Schließlich sollen doch bald die potentiellen Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt treten und hervorragend für den Kampf um die besten Arbeitsplätze gewappnet sein. In diesem Fall kommt es in der Regel auf die Funktionsfähigkeit der Arbeitskräfte an und nicht auf die Fähigkeit selbstständigen Denkens; während der Arbeit ist zum Beispiel kein Platz und keine Zeit für Poesie, da muss geschuftet werden, Freizeitbeschäftigungen gehören da nicht hin. Sollte sich doch ein Lehrer finden, der seinen Schülern eine andere Art des Lernens anbietet, so wird er es entweder nicht schaffen, seine Lehrmethode in der eignen Schule zu etablieren, oder seine Schüler haben am Ende einen unnützen Schulabschluss (z.B. Freie Schulen), der ihnen längst nicht alle Türen für eine weiterführende Bildung in der heutigen Wirtschaftsweise öffnet.

In Der Club der toten Dichter werden die kreativen Hobbys trotz Ermahnung weiter gepflegt – mit furchtbaren Folgen: Todd hat den Druck seiner Eltern nicht ertragen, seine Konsequenz ist der Suizid. Diese Verzweiflungstat ist in den letzten Jahren bei Schülern gehäuft zu beobachten. Keating wollte die Individualität, das Selbstbewusstsein und die Kreativität seiner Schüler fördern und stärken – ein wichtiger Faktor, um überhaupt eine Chance zu haben, sich ein differenziertes Bild über eingefahrene Gedanken- und Gesellschaftskonstrukte zu machen. Direktion, Eltern und Gesellschaft sehen dies anders, Tradition, Ehre, Disziplin und Leistung gelten als höchste Tugenden. Nach dem Tod dieses Schülers, der aus Sicht von Eltern und Direktion auf Keatings Lehrmethoden und -inhalte zurückzuführen war, hängt Mr. Keating seinen Job als Lehrer in Welton an den Nagel, er kapituliert, belehrt, dass neue Ideen und Gedankenkonstrukte nicht ohne große Probleme und Verluste in alte Strukturen einzubringen sind.

Erzkonservative und reaktionäre Eliteinternate wie Welton haben nicht umsonst versagt. Sicher hat sich am Schulsystem mit den Jahren etwas geändert; der Fortschritt konnte nicht aufgehalten werden, die gesellschaftliche Entwicklung ebenso wenig, aber die heutige Version der Wissensvermittlung ist auch keine erträgliche Lösung. Die Einrichtung Schule gibt uns heute Gelegenheit, einen gewissen Einblick in die Welt zu gewinnen, aber sie vermittelt gesellschaftliche Normen, die auswendig gelernt, angenommen und ausgelebt werden sollen, also nur eine verblendete oder eingeschränkte Sicht auf die Dinge zulassen. Nach wie vor ist ein bestimmter Lehrplan festgesetzt, bestimmte Lehrmethoden, das Ziel eines Schulabschlusses, gesellschaftliche Normen und Regeln, die innerhalb der Schule eingehalten werden müssen, und recht viele absurde Lerninhalte, die spätestens wenige Wochen nach der Vermittlung dem Gedächtnis entschwinden. Angesichts dieser Tatsachen ist es dringend notwendig, sich den bestehenden Verhältnissen bewusst zu werden und diese zu kritisieren.

Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass Bildung notwendig ist. Lesen, schreiben und rechnen zu können sind Grundvoraussetzungen, um sich Wissen aneignen, Bücher lesen und, daraus folgend, Kritik üben zu können. Deshalb ist Zurichtung, wie sie Schüler in den hiesigen Bildungsanstalten erfahren, manchmal sogar ein Segen, so zum Beispiel für die Kinder der Entwicklungsländer. Sie erhalten dadurch die Chance, ihr Wissen zu erweitern, können versuchen, bestehende Verhältnisse zu verstehen; grundsätzlich wird ihnen damit das Fundament für ein akzeptableres und freieres Leben als ihre Vorgängergenerationen gelegt. Leider folgt aus der Bildung auch eine gewisse Zurichtung; Kindern werden Zwänge auferlegt, sie haben mit diesem Wissen der Gesellschaft zu dienen und müssen eine Gegenleistung erbringen. Dass sich natürlich nicht allein durch die Bildung ungeahnte Möglichkeiten auftun, ist klar. Das Gute der Bildung wird durch die daraus folgenden Zwänge ins Negative verkehrt; zerstört ist die Illusion von einer freien Gesellschaft, wie sie sich dem Gebildeten auftut. Die heute vermittelten Lerninhalte führen immer wieder in Lebensformen, wie sie hier und jetzt etabliert sind. Egal, wie alternativ und modern Wissen an Schulen vermittelt wird: Schulen führen nicht zu einer besseren Gesellschaft.

Spirituelle Riten, Träumereien, Dichtkunst, antiautoritäre Schulbildung und kreative Betätigungen, die in die Schulausbildung eingeflochten werden, sind keine Lösung für die Probleme, mit denen wir uns quälen. Zwar können die Schüler Weltons kurzfristig in ihrem neu errungenen Hobby aufgehen und in schöneren Welten versinken, aber ihre Eltern schmettern diese Aktivitäten und blauäugigen Visionen mit ganz primitiven Erziehungsmitteln nieder. Diese zerstören knallhart Phantasiegespinste und die Illusion, darin angenehmer leben zu können.

Aus den vorangestellten Gedanken ist zu schlussfolgern, dass die schulische Form von Bildung abgeschafft gehört. Allerdings ist diese Abschaffung nur möglich im Zuge einer Änderung der gesamten Gesellschaft. Das Denken, die Einstellung und die Werte müssen sich von Grund auf ändern, damit alle Menschen frei und zufrieden leben können.

Diesen Film muss man nicht gesehen haben, ein Beispiel braucht man sich daran nicht zu nehmen, und weiter zu empfehlen wäre er nur unter dem Gesichtspunkt, mit welchen Mitteln man die Regeln und Sitten eines erzkonservativen Jungeneliteinternats nicht ändern kann.

Natze