Grenzcamp 2000

3. antirassistisches Grenzcamp
der Kampagne 'Kein Mensch ist illegal'
vom 29. Juli bis 6. August 2000
in Forst / Brandenburg
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Daniel
[03.08.2000]

Was heißt linksradikal?

Links impliziert einen Bezug auf die sozialistische Tradition (die politische Bedeutung des Wortes hat mit der Sitzordnung im französischen Parlament im 19. Jahrhundert zu tun), ´radikal´ spricht von der Differenzierung dieser Tradition und dem Anspruch bestimmter Strömungen, die radix (Wurzel) des Übels, der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse nämlich, zu erkennen (um sie "auszureißen"?)


Linksradikalismus sollte meines Erachtens in Abgrenzung nicht nur zur Sozialdemokratie sondern auch zum Leninismus definiert werden, denn es ist nicht einzusehen, was an einer autoritaeren Stroemung, die weder den Staat noch die Warenform abschaffen will, radikal sein soll. Einen positiven Bezug auf die anarchistische Tradition, aber auch auf die raetekommunistischen und andere libertaer-sozialistische Stroemungen finde ich wichtig.
Eine Ueberwindung des Antagonismus zwischen anarchistischer und marxistischer Theorie waere die Voraussetzung einer linksradikalen Theoriebildung auf der Hoehe der Zeit. Dies setzt meines Erachtens eine Interpretation der Marx´schen Kritik voraus, die eine radikale Kritik des Staates, der Produktionsweise, der Arbeit, der Zeit, der Verdinglichung der sozialen Beziehungen und nicht bloss eine Kritik der Verteilung und der formalen Eigentumsverhaeltnisse ermoeglicht.

Linksradikale Theorie und Praxis die den Namen verdient, sollte eine fundamentale Kritik des patriarchalen Geschlechterverhaeltnisses als nicht aus dem Kapitalverhaeltnis ableitbare Herrschaftsform beinhalten. Das setzt eine Auseinandersetzung mit feministischer Theorie und Praxis voraus, eine klare Abgrenzung von liberalen und reformistischen Feminismen und den Anschluss an nicht-biologistische radikalfeministische Ansaetze und solche sozialistisch-feministische Ansaetze, die das Geschlechterverhaeltnis nicht bloss wieder in einen traditionellen sozialistischen Entwurf einzugemeinden versuchen.

Linksradikalismus definiere ich als notwendigerweise antirassistisch, wobei Rassismus sowohl in seinen institutionellen wie in seinen psychischen und ideologischen Aspekten erfasst werden sollte.

Es kann meiner Ansicht nach inzwischen nicht mehr als besonders radikal gelten, ´Klasse, Rasse und Geschlecht´ ´gleichberechtigt´ nebeneinander zu stellen und dann in verschiedener Weise miteinander zu addieren. Es muesste inzwischen sehr klar geworden sein, dass rassistische und sexistische Stereotype, Fantasien von Krankheit und Degeneration, Bilder vom Juden und Traeume von der Suedsee nicht unabhaengig voneinander existieren; dass z.B. Rassismus und Sexismus nur als ´mutually constitutive´ zu begreifen sind.

Linksradikales Denken kann und darf keine westliche Folklore, keine eurozentrische Theorie bleiben, sondern muss sich unbedingt zusehends internationalisieren oder besser, transnationalisieren. Insofern ist der kritische Bezug auf den klassischen trikontinentalen Antiimperialismus wichtig, die Diskussionen um ´neue Internationalismen´ und die Beitraege postkolonialer TheoretikerInnen muessten aufgenommen und mit den hierzulande kursierenden antinationalen Diskursen in Bezug gesetzt werden.

Es bedarf auch theoretischer wie strategisch-politischer Anstrengungen, um die naturwissenschaftlich und reformistisch verengte Thematisierung des gesellschaftlichen Naturverhaeltnisses als ´Oekologie´ (wieder?) zu oeffnen in Richtung einer Thematisierung des herrschaftlichen und ausbeuterischen Verhaeltnisses zur aeusseren Natur und wie dieses mit gesellschaftlicher Herrschaft und herrschaftlicher Strukturierung der Subjekte zusammenhaengt.

Subjektivitaet war ein zentrales Motiv in den theoretischen Debatten der Neuen Linken der 60er und 70er Jahre, der Theorie und Praxis der ´zweiten Welle´ des Feminismus in den westlichen Staaten undsoweiter?: Linksradikalismus bedeutet meiner Ansicht nach auch und ganz entscheidend den Versuch, die Herrschaft im Subjekt zu destabilisieren. Es geht auf theoretischer Ebene um eine Verknuepfung von ´Makro´- und ´Mikro´-Analysen, auf praktischer Ebene um die Vermittlung von persoenlichen Veraenderungsprozessen mit ´makro´-politischer Organisierung und Aktion.

Die notwendige Vermittlung von individueller Veaenderung mit kollektiver politischer Praxis ist mit einem weiteren ´Vermittlungsproblem´ linksradikaler Praxis verknuepft, naemlich der ´Vermittlung´ zwischen Weg und Ziel - also: Methoden aktueller Praxis versus utopische Werte? Eine ´reife´ linksradikale Praxis muesste sich sowohl vom naiven Utopismus vornehmlich anarchistischer Provenienz abgrenzen, der Weg und Ziel umstandslos identisch setzt, als auch vom kritischen Zynismus vor allem marxistischer Intellektueller, der utopisches Denken desavouiert und jegliche ´Mikropolitik´/lifestyle politics als blosse systemimmanente Lebensreformerei denunziert.

Linksradikale Theorie auf der Hoehe der Zeit hat sich natuerlich an poststrukturalistischer Theorie abzuarbeiten, der altmarxistische Reflex ´alles Postmoderne´ als nicht ernstzunehmend oder affirmativ zu verdammen ist nur noch laecherlich.

Ein Verdienst poststrukturalistischer Tendenzen ist es zum Beispiel, den Essentialismus feministischer, antirassistischer und befreiungsnationalistischer Identitaetspolitiken kritisiert und den traditionslinken Universalismus als weissen westlichen Partikularismus enttarnt zu haben.

Die Konsequenz aus diesen Kritiken sollte meiner Meinung nach nicht sein, Identitaetspolitik aufzugeben, genausowenig wie jeder Versuch, programmatisch "vereinheitlichte" Buendnisse zu schaffen, was notwendigerweise eine ganz schlimme totalitaere Sache ist. Linksradikale Politik heute, behaupte ich stattdessen, sollte versuchen strategische Identitaetspolitiken zu entwerfen, die Einheiten ueber Differenzen hinweg konstruieren, ohne die Differenzen zu leugnen und ohne die Einheiten als natuerlich zu setzen; die sich der Gefahren der Essentialisierung, Naturalisierung, Homogenisierung bewusst bleiben. Daraus folgt ein pragmatischer und flexibler Umgang mit "identitaetsbestimmten Gruppen", eine unaufhoerliche Problematisierung von Homogenisierung nach innen und Abgrenzung nach aussen.

Was die Frage eines ´Universalismus in Diversitaet´ bzw. der Buendnispolitik betrifft, finde ich die Formulierungen von Yuval-Davis zu ´transversal politics´ und S. Stanford Friedman zu ´locational feminism´ sehr inspirierend:
In "Gender and Nation" (1997) schreibt N. Yuval-Davis:
"transversal politics aims to be an alternative to the universalism/relativism dichotomy which is at the heart of the modernist/postmodernist feminist debate. It aims at providing answers to the crucial theoretical/political questions of how and with whom we should work if/when we accept that we are all different as deconstructionist theories argue." (p125, Hervorhebung von mir).
In diesem Zusammenhang zitiert sie Spivak (1991):
"Deconstruction does not say anything against the usefulness of mobilizing unities. All it says is that because it is useful it ought not to be monumentalized as the way things really are."
und Stuart Hall (1987): "all identity is constructed across difference?" (in: Yuval-Davis, 1997, p126).
Weiter schreibt sie: "In ´transversal politics´, perceived unity and homogeneity are replaced by dialogues which give recognition to the specific positionings of those who participate in them as well as to the ´unfinished knowledge´ that each such situated positioning can offer." (p131)
In der Einleitung zu "Mappings - Feminism and the cultural geographies of encounter" (1998) beschreibt S. Stanford Friedman ihr Projekt so:
"The book insists on going ´beyond´ both fundamentalist identity politics and absolutist poststructuralist theories as they pose essentialist notions of identity on the one hand and refuse all traffic with identity on the other." (p4)
Sie nennt ihre Politik "locational feminism":
"A locational approach to feminism incorporates diverse formations because its positional analysis requires a kind of geopolitical literacy built out of a recognition of how different times and places produce different and changing gender systems as these intersect with other different and changing societal stratifications and movements for social justice." (p5, Hervorhebungen von mir).

Identitaetspolitik privilegierter Gruppen wirft natuerlich voellig andere Problematiken auf als die unterprivilegierter/unterdrueckter Gruppen. Identitaetspolitik Privilegierter kann nur als selbstaufhebende oder "negative" Identitaetspolitik progressive Praxis sein. Das bedeutet, dass das Ziel der Aufhebung der eigenen Identitaet nicht nur - wie in jeder nicht-reaktionaeren Identitaetspolitik - praesent sein muss, sondern ganz klar im Vordergrund stehen und den Propagandisten der Maennlichkeit, der Heimat, der Nation und sonstiger Widerwaertigkeiten kompromisslos entgegengesetzt werden sollte.

Linksradikalismus definiert sich meines Erachtens in Abgrenzung von reformistischen Ansaetzen. Anti-reformistisch zu sein bedeutet nicht gegen Reformen des Systems zu sein, sondern eine extrem kritische Abwaegung subversiver und affirmativer Aspekte jedes politischen Projekts vorzunehmen, sich dabei der Kraefteverhaeltnisse bewusst zu sein (und das heisst meistens, sich die eigene Ohnmacht schonungslos einzugestehen) und sich vor Augen zu halten, dass die Integration von Protest, die Kooptation politischer und aesthetischer Opposition einer der wichtigsten Funktionsmechanismen ´postmoderner´ patriarchaler Klassengesellschaften ist. Eine radikale Staatskritik bedeutet nicht, nicht in Institutionen zu arbeiten, bedeutet aber diese Arbeit immer wieder so ehrlich wie moeglich auf ihren emanzipatorischen Gehalt hin zu befragen.
Radikale Staatskritik bedeutet einzusehen, dass eine befreite Gesellschaft niemals ueber die Eroberung des Staates erreicht werden kann, auch wenn Kaempfe um Hegemonie auch innerhalb staatlicher Institutionen wichtig sind. Sie bedeutet zu verstehen, dass parteifoermige Organisierung und Integration in den parlamentarischen, institutionellen Apparat staatlicher Herrschaft keine gangbaren Wege zur notwendigen fundamentalen Transformation, also: Revolution, der gesellschaftlichen Verhaeltnisse sind.


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