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Keine Abschiebungen - Auch nicht nach Algerien

Seit dem 9.Mai 1997 befindet sich eine algerische Familie im Kirchenasyl der St. Marien-Gemeinde in Lübeck. Dies führte -wie nicht anders zu erwarten- zu massiven Reaktionen in konservativen und CDU-Kreisen. Der Kirche wurde Rechtsbruch vorgeworfen.

Zwei Wochen später brannte die St. Vicelin-Kirche, sie war mit Hakenkreuzen besprüht und die Schmierereien nahmen eindeutig Bezug auf das Kirchenasyl. Der faschistische Hintergrund der Brandstifter wird von Polizei und Staatsanwaltschaft als „unreflektierte politische Ideologie“ abgetan, „die die Jugendlichen aufgeschnappt hätten“.

In den Reaktionen der Öffentlichkeit auf diesen Anschlag trat die Situation der algerischen Familie und die Tatsache, daß er auch ihr galt, in den Hintergrund. Wir möchten daher an dieser Stelle einen Überblick über die politische Situation in Algerien geben und darstellen, wie in der BRD mit algerischen Flüchtlingen umgegangen wird.

Die politische Situation in Algerien
Algerien ist der zweitgrößte Staat Afrikas und fast siebenmal so groß wie die BRD. Mit etwas über 27 Millionen EinwohnerInnen ist es relativ dünn besiedelt. 1830 wurde Algerien französische Kolonie. Abschiebung vom Berliner Flughafen SchönefeldDie Unabhängigkeit wurde 1962 erst nach einem langen und blutigen Befreiungskrieg erreicht. Frankreich blieb bis heute der größte Handelspartner. In den letzten 15 Jahren hat sich das Land dem Westen stark angenähert. Nachdem es Ende der achtziger Jahre zahlungsunfähig war, akzeptierte es die Auflagen des IWF zur Privatisierung von Staatsunternehmen, die Abwertung der Währung und drastischen Einschränkungen von Sozialleistungen. Seit 1991 herrscht in Algerien ein Krieg, in dem bis jetzt ca. 70.000 Menschen ums Leben gekommen sind. In den Medien der BRD hat sich das Bild durchgesetzt, daß „Sicherheitskräfte“ einer demokratischen Regierung gegen „terroristische Fundamentalisten“ kämpfen. Eine wirklich kritische und differenzierte Berichterstattung erfolgt nicht. 1962 bildete die Befreiungsbewegung FLN die neue Regierung und erklärte sich zur Einheitspartei, andere Parteien wurden nicht zugelassen. Eine Opposition konnte sich daher nur im Umfeld der Moscheen bilden. Nach einem 1980 vom Militär niedergeschlagenen „Berber-Aufstand“ und der sich 1985 verschärfenden Finanzkrise verstärkten sich soziale Auseinandersetzungen. 1989 versprach der Staat umfassende Reformen einzuführen. Aus den 1990 durchgeführten Kommunalwahlen ging die FIS (Islamische Heilsfront) unerwartet als Sieger hervor. Ein von der FIS ausgerufener Streik wurde 1991 von Sonderkommandos der Armee blutig beendet. Tausende FIS-Anhänger und Mitglieder wurden verhaftet. 1992 sollten dann Parlamentswahlen durchgeführt werden. Sie wurden nach dem ersten Wahlgang, den die FIS gewonnen hatte, durch einen Militärputsch unterbrochen und abgesagt. Die Armee ergriff die Macht und ernannte Boudiaf, einen der FLN-Gründer, zum Präsidenten. Gleichzeitig begann eine Großoffensive gegen die FIS. Es wurden über 30.000 Menschen festgenommen, über 12.000 von ihnen verschwanden in vier großen Internierungslagern in der Wüste. Ein bis heute ungeklärtes Attentat auf Boudiaf verschärfte noch den Kurs der Regierung. Schon vorher gab es eine Welle von Bombenanschlägen und Attentaten, die alle den islamischen Parteien angelastet wurden. Dies sicherlich nicht unberechtigt: Tausende von Zivilisten sind von islamischen Gruppen getötet worden. Es wurden politische und religiöse Persönlichkeiten, Geschäftsleute, Lehrer, JournalistInnen - vor allem Frauen - ermordet. Es gab und gibt Entführungen, Vergewaltigungen und wahllose Bombenanschläge. Auf der einen Seite stützt sich die Militärregierung neben Armee und Polizei auf anonyme Sonderkommandos und Todesschwadrone. Auf der anderen Seite gibt es die GIA (Groupe Islamique Armé), die sich zu einer Terrorgruppe etabliert hat, die nicht nur kritische JournalistInnen umbringt, sondern auch FIS-Führer, die sich an Verhandlungen beteiligen. 1995 ging Zeroual nach massiven Wahlfälschungen als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervor. Die Parlamentswahlen im Juni diesen Jahres gewann die von ihm gegründete RND (Nationaldemokratische Partei). Auch diesmal beklagten die Oppositionsparteien massive Wahlmanipulationen. Das neugewählte Parlament hat praktisch keine Befugnisse, der Präsident mit der Armee im Hintergrund bleibt die entscheidende Instanz. Der Krieg geht seitdem unvermindert weiter. Bombenattentate treffen PassantInnen in „islamischen“ und „regierungstreuen“ Vierteln von Algier, „islamische“ Dörfer werden aus der Luft angegriffen und zerstört. Sondergerichte haben im ersten Jahr ihres Bestehens über 1100 Todesurteile verhängt, davon 964 in Abwesenheit. Politische Gegner der Regierung werden systematisch gefoltert. Die Presse wird streng zensiert. Opfer von Regierungsmaßnahmen werden als „Terroristen“ bezeichnet, im Kampf getötet oder auf der Flucht erschossen. Amnesty international, Berichte des amerikanischen Außenministeriums und selbst das Auswärtige Amt ziehen nicht in Zweifel, daß in Algerien gefoltert und hingerichtet wird, die Versammlungs-, Religions- und Pressefreiheit eingeschränkt ist, und Frauen diskriminiert werden.

Algerische Flüchtlinge in der BRD
Die Zahl der in die BRD geflohenen AlgerierInnen stieg von 22 Asylanträgen 1986 auf 11262 1993. Die faktische Abschaffung des Asylrechts in dem Jahr führte dazu, daß die Zahl drastisch sank, auf 1447 im Jahr 1995. 1996 betrug die Anerkennungsqoute 1,17 %. In Schleswig-Holstein leben zur Zeit 490 AlgerierInnen, 165 sind von Abschiebung bedroht. Die meisten Flüchtlinge kommen aus dem Umfeld der FIS und geben entsprechende politische Aktivitäten sowie Verfolgung durch staatliche Organisationen als Fluchtgrund an. Eine weitere Gruppe sind Kriegsflüchtlinge oder Deserteure. Die drittgrößte Gruppe kommt aus dem demokratischen Spektrum des Landes oder waren UnterstützerInnen des Militärregimes. Sie geben an, von Islamisten bedroht zu sein und nicht von der Regierung geschützt zu werden, oder wurden wegen ihres Engagements für Demokratie und Menschenrechte von der Regierung bedroht. Und viele Menschen fliehen einfach, weil sie sich durch die Kriegssituation bedroht fühlen. Die Begründung für die Ablehnung der Asylanträge ist in den meisten Fällen, daß die Flüchtlinge über ein sogenanntes „sicheres Drittland“ eingereist sind. Das Bundesamt interessiert nicht der Fluchtgrund, sondern der Fluchtweg. Asylanträge von FIS-Mitgliedern werden mit der Begründung abgelehnt, die Methoden ihrer Verfolgung seien zwar nicht rechtsstaatlich, aber so weit verbreitet, daß sie von der Bevölkerung hingenommen werden müßten, sie stellen in den Augen der Entscheider keine individuelle Verfolgung dar. Bei Flüchtlingen aus dem demokratischen Spektrum wird argumentiert, sie würden zwar verfolgt, nämlich von den Islamisten, dies sei aber keine staatliche Verfolgung und daher kein Asylgrund. In der BRD leben zur Zeit etwas 23.000 Flüchtlinge aus Algerien, 8000 sind zur Ausreise verpflichtet. Sie werden bei Abschiebungen häufig gefesselt und geknebelt und von Bundesgrenz-schutzbeamten begleitet. Diese müssen aber für den gleichen Tag einen Rückflug buchen können, denn eine Übernachtung in Algier ist zu gefährlich (!). Von der deutschen und der algerischen Regierung wurde daher jetzt ein „Rücknahmeprotokoll“ ausgehandelt. Danach sollen demnächst algerische Polizisten die „Schüblinge“ auf deutschen Flughäfen übernehmen und selbst nach Algerien begleiten. Die Kosten trägt die BRD. Diese Tatsachen sind in der Öffentlichkeit so gut wie nicht bekannt. Schon lange wird von Flüchtlingsinitiativen ein Abschiebestop nach Algerien verlangt. Aber Innenminister Wienholtz läßt auch aus Schleswig-Holstein weiter abschieben.

Gründe für das Kirchenasyl in Lübeck

Die algerischen Familie, die jetzt zunächst Schutz in der Mariengemeinde gefunden hat , sollte Mitte Mai abgeschoben werden. Das Ehepaar mit vier Kindern,darunter ein vier Monate alter Säugling, war vor knapp fünf Jahren in die BRD eingereist. Der Ehemann war in Abwesenheit zu einer zehn- und dann zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt worden, weil er angeblich an einem Diebstahl von Waffen durch eine algerische Freiheitsbewegung aus einer Militärkaserne beteiligt war. Der Asylantrag und auch ein Asylfolgeantrag wurden abgelehnt. Und zwar mit der Begründung, daß Kopien von Gerichtsurteilen grundsätzlich kein Beweiswert beizumessen ist. Die Kopie beweise nicht die inhaltliche Richtigkeit. Auch die Zerstörung des elterlichen Hauses des Familienvaters fand keine Beachtung. Ein Antrag bei der Härtefallkommission wurde „auf Grund der Rechtslage“ abgelehnt. In seiner Not wandte sich der Familienvater schließlich an die Kirchengemeinde. Diese ist jetzt bemüht, in Gesprächen mit Innenminster Wienholtz eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen, und über eine Härteklausel ein dauerhaftes Bleiberecht für die Familie zu erreichen. Alle Beteiligten sind darauf eingestellt, daß sich das Kirchenasyl noch eine ganze Zeit hinziehen wird. Der enorme Druck unter dem die Familie steht ist wohl kaum zu ermessen.
BR

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