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Safwan ist unschuldig! - Die Staatsanwälte nicht!


Am 30. Juni hat die Große Strafkammer des Landgerichts Lübeck Safwan Eid vom Vorwurf der Brandstiftung im Flüchtlingsheim Hafenstraße im Januar 96 freigesprochen. Damit sind die rassistischen Ermittlungen, die Täter-Opfer-Umkehrung, der Staatsanwälte Böckenhauer, Schultz und Bieler zumindest juristisch gescheitert.


Doch ob Safwans Freispruch auch dazu führt, daß die Vertuschung des folgenschwersten rassistischen Brandanschlages in der Geschichte der BRD aufgedeckt wird, ob die tatsächlichen Brandstifter zur Rechenschaft gezogen werden, ob die Machenschaften der ermittelnden Staatsanwälte und leitenden Polizeibeamten Konsequenzen nach sich ziehen, ist fraglich.

Aus der Geschichte des Brandanschlages, der Ermittlungen und des Prozesses resultiert ein dreister juristischer und journalistischer Umgang mit der gesellschaftlichen Realität: nicht nur Politik und Justiz, auch breite Teile der Medien haben bewußt an der Täter-Opfer-Umkehr und der Spurenverwischung zu den Faschisten mitgestrickt. Ein Blick zurück: in der Nacht zum 18. Januar 1996, irgendwann zwischen 3.00 und 3.40 Uhr bricht im Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße 52 Feuer aus. Obwohl die Feuerwehr nur wenige Minuten nach dem ersten Notruf am Brandhaus eintrifft, kommt für 10 Menschen jede Hilfe zu spät. Monique Bunga mit ihrer Tochter Nsusanna, Rabia El Omari, Sylvio Amoussou, Francoise Makodila mit ihren Kindern Legrand, Christelle, Christine, Miya und Jean-Daniel Kosi sterben in den Flammen. Kurz nach Beginn der Löscharbeiten werden drei junge Männer aus Grevesmühlen von der Polizei kontrolliert: Maik Wotenow (er gibt den Beamten einen falschen Namen an), René Burmeister und Heiko Patynowski. Sie waren der Polizei wegen ihres Skinhead-Outfits aufgefallen. Am nächsten Tag werden sie zusammen mit ihrem Kumpel Dirk Techentin (der die drei auf ihrer Tour nach Lübeck begleitete, später aber allein mit einem gestohlenen Golf GTI unterwegs war) erst als Zeugen vernommen, dann als Tatverdächtige festgenommen. Bei den Vernehmungen widersprechen sie sich (z.B. was Zeiten und Orte ihres Aufenthaltes in Lübeck angeht), bei einer Untersuchung stellt eine Gerichtsmedizinerin frische, d.h. höchstens 24 Stunden alte Sengspuren „wie sie typisch für Brandstifter sind” in den Gesichtern von Burmeister, Patynowski und Techentin fest. Am 19. Januar wurden alle vier jedoch wieder freigelassen - eine Polizeistreife hatte gemeldet, daß sie den beigen Wartburg mit drei Insassen um 3.19 Uhr an der Tankstelle Paddelügger Weg in Lübeck-Moisling gesehen habe, ein entsprechender Kassenbon, der u.a. den Kauf von 1,5 Liter Zweitaktergemisch auswies, wurde ebenfalls vorgewiesen. Am gleichen Tag meldete sich der Rettungsassistent Matthias Hamann bei der Polizei (es gibt allerdings darüber keinen Aktenvermerk) und meldete, sein Freund Jens Leonhardt habe eine wichtige Beobachtung gemacht. Als Leonhardt daraufhin vernommen wurde, gab er an, mit Safwan im Verletztensammelbus ein Gespräch geführt zu haben. Safwan habe ihm erzählt, „wir warn’s”, und weiter, es habe Streit mit einem Familienvater gegeben, deswegen habe man dem Benzin an die Haustür gekippt und angezündet, das Benzin sei dann brennend die Treppe heruntergelaufen, dann habe die ganze Treppe gebrannt. Safwan wurde noch am gleichen Tag von der Polizei abgeholt, einen Tag später, am 20. Januar erging Haftbefehl gegen ihn. Dieser Haftbefehl hatte es in sich: behauptete Staatsanwalt Dr. Böckenhauer doch glatt, es habe Streit zwischen Safwan Eid und dem Familienvater Gustave Sossou gegeben, aus Rache hätten Safwan und unbekannte Mittäter deswegen Benzin an Gustaves Tür gegossen und angezündet.

Erlogene Haftgründe
Einen Tag zuvor war das Gegenteil von Böckenhauers Behauptungen bereits Akteninhalt: aus der Vernehmung von Gustave Sossou war nicht zu entnehmen, daß er Streit mit Safwan gehabt habe, Familienvater war er auch nicht. Und die Polizei hatte noch keine gründlichen Untersuchungen am Tatort vornehmen können, so daß der behauptete Brandausbruchsort an Gustaves Tür, wie alles andere auch, bloße Erfindungen des Staatsanwaltes waren. Wie er begann, sollte Böckenhauer mit seinen Ermittlungen weitermachen: um den Verdacht gegen Safwan, vielmehr gegen die HausbewohnerInnen insgesamt zu schüren, waren dem Ankläger alle Mittel recht. Auf der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft zu Safwans Verhaftung machte sich Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz der Falschaussage schuldig: den Medien-vertreterInnen gegenüber behauptete Schultz, Safwan habe den Brandausbruchsort “...der uns zu diesem Zeitpunkt (...) nicht bekannt war, genau bezeichnet”. Tatsächlich hat Safwan die gesamte Zeit über den Beamten seine Unschuld beteuert. Mit der „genauen Bezeichnung” durch Safwan meinte Schultz die Aussage Leonhardts... Offensichtlich waren sich Staatsanwaltschaft und Polizei über die Rolle der Medien damals noch nicht im klaren, wollten durch ihre falschen Angaben die Vorverurteilung Safwans sicherstellen und allen kritischen Nachfragen vorbeugen. Warum soll ein vernünftiger junger Mann das Haus anzünden, in dem er selber, seine Familie und Freunde leben, warum soll er deren Tod riskieren? - eine so offensichtliche Lücke in den Behauptungen der Behörden, die aber bisher kaum eine Rolle spielte Erst später muß den Ermittlern klargeworden sein, daß sie gut durchdachte, logische, überzeugende Konstruktionen überhaupt nicht nötig hatten. Die Medien funktionierten auch so, sprachen mit den vier Grevesmühlenern gleich die gesamte Republik frei und von der Welt bis zur taz klang es mal offen höhnisch, mal intellektuell verbrämt: „man müsse Abschied nehmen vom Bild des guten Ausländers”, die „Betroffenheitsbürger” sollten Abstand davon nehmen, sofort an einen rassistischen Anschlag zu denken, wenn ein Flüchtlingsheim oder MigrantInnenhaus brennt. Entsprechendes Flehen von Seiten der etablierten Politik war schon Stunden nach Bekanntwerden des Feuers zu hören: Heide Simonis bedauerte die Lübeckerinnen und Lübecker „fast genauso”, wie die Flüchtlinge aus dem Heim. Der Ruf der Hansestadt ist „fast” genauso wichtig, wie das Leben und die Gesundheit von nicht-deutschen Menschen!? Auch der Präses der Lübecker Industrie- und Handelskammer machte sich Sorgen, „daß Lübeck nicht mehr mit Holstentor und Marzipan in Verbindung gebracht wird, sondern mit Brandanschlägen”. Rassismus schadet manchmal... dem Image des Landes! Wie passend kam da die Aussage des Sanitäters Leonhardt. Ärgerlich, daß die Flüchtlinge aus dem Heim sich an die Öffentlichkeit wandten: Gustave Sossou widerlegte das Märchen Böcken-hauers, daß sich der Anschlag gegen ihn gerichtet habe, im Fernsehen. Ein erster Widerstand gegen die Ermittlungen - und die Ermittler verhängten flugs eine Nachrichtensperre! Auch jetzt protestierten die Medien nicht, äußerten gar Verständnis, daß der öffentliche Druck die Ermittlungen natürlich belasten muß.

Motiv - und kein Alibi
Inzwischen war bewiesen worden, daß das Skinheadoutfit der Grevesmühlener kein Zufall war: Heiko Patynowski „kritsierte” Brandanschläge: sie würden deutsches Gut versauen...! René Burmeister sagte, er sei „neutral gegenüber Juden, Negern, Ausländern und Wessis” und hört die Böhsen Onkelz, Dirk Techentin war mit seiner Gruppe „in Rostock dabei”, rechts war er aber „nur bis Ende 1993”. Maik Wotenow will pünktlich kurz vor dem Brandanschlag seine rechte Gesinnung aufgegeben haben, trägt aber eine Jacke mit Deutschland- und Sieg Heil-Aufschrift, hat eine Reichskriegsflagge im Zimmer und schändete schon jüdische Friedhöfe. Das mögliche Motiv lag (und liegt!) offen auf der Hand: faschistische Ideologie, rassistischer Haß. Und ihr Alibi? Daß mindestens drei von den vier am Tatort waren, wird nicht nur durch die Polizeikontrolle belegt: es gibt Aussagen, daß sie eine Frau mit Kind aus dem Haus springen gesehen haben (dabei kann es sich nur um Monica Bunga mit ihrer Tochter gehandelt haben, die war aber schon tot, bevor die ersten Einsatzkräfte von BGS und Polizei am Haus eintrafen), außerdem wollen sie einen brennenden Menschen gesehen haben, als sie zum Feuer gegangen seien. Bei dieser Person kann es sich nur um Sylvio Prozessbesucher aus LübeckAmoussou gehandelt haben, dessen Tod im Feuer des Vorbaus immer noch Rätsel aufgibt. Diese Fakten sprechen dafür, daß die Behauptung der Staatsanwälte, erst nach dem Eintreffen der BGS-Beamten seien die Grevesmühlener in der Hafenstraße angelangt, definitiv falsch ist. Das andere Bein des Alibis ist ebenso brüchig: selbst wenn es sich bei dem Wartburg an der Tankstelle um den von Wotenow und Co. gehandelt haben sollte (vieles spricht für mindestens zwei Grevesmühlener Wartburg, die in der Tatnacht unterwegs waren - Burmeister hatte auch einen zweiten zur Verfügung), gäbe es nur ein Alibi für den Zeitraum um 3.19 Uhr herum. Wann aber das Feuer tatsächlich gelegt wurde, ist bisher absolut unbekannt. Den Weg von Moisling bis zum Brandhaus kann aber in weniger als zehn Minuten bewältigt werden. Die „Erklärungen”, die Techentin, Wotenow und Burmeister für die Sengspuren in ihren Gesichtern abgaben waren dann eher erheiternd: mit dem Feuerzeug in den Benzinkanister geleuchtet, am Ofen verbrannt, versucht, mittels Haarspray einen Hund anzuzünden. Dies fanden dann auch die Lübecker Staatsanwälte nicht besonders öffentlichkeitswirksam - und fabrizierten eine Erklärung, die sich aus den Vernehmungen überhaupt nicht ergab: vielleicht resultierten die Sengspuren ja vom In-Brand-Setzen gestohlener Autos, spekulierten sie. Die Strategie von Böckenhauer und Komplizen, auf Krampf die vier Nazis zu entlasten und jede noch so abenteuerliche Beschuldigung gegen Safwan zusammen zu klauben, hatte Folgen. Safwan blieb fast sechs Monate in Untersuchungshaft. Als Komplize Böckenhauers fungierte u.a. der Amtsrichter Pohlenz, der selber den Sanitäter Leonhardt vernahm, und dennoch verlautbaren ließ, daß Safwan den 1. Stock als Brandausbruchsort bezeichnet habe - in den Ermittlungsakten findet sich in keiner Vernehmung, nicht von Leonhardt, nicht von Safwan, jemals ein solcher Satz. Daß die Untersuchungshaft, die gesamten Ermittlungen gegen Safwan einen Akt vollständiger Willkür darstellten, interessierte nur wenige: aus den ansonsten treu den Behörden ergebenen Medien ragten anfangs nur das Fernsehmagazin Monitor und die Junge Welt heraus. Das blieb bis zu Safwans Entlassung so. Zwischen seiner Entlassung und der Hauptverhandlung, tat mit einmal der Großteil der manchmal liberalen Presse so, als hätten sie schon immer gewußt, daß Safwan unschuldig ist.

Reaktion der Linken
Es bedurfte der langen Hauptverhandlung nicht, um Safwans Unschuld und den rassistischen Charakter der Ermittlungen zu erkennen. Aus der antifaschistischen/antirassistischen Bewegung gab es prompte und unterschiedliche Reaktionen auf Safwans Verhaftung. Einige brauchten keine Fakten, sie stritten gleich ab, daß ein Flüchtling für den Brand verantwortlich sein könnte. Andere zeigten sich sehr durch die staatsanwaltschaftlichen Behauptungen sehr verunsichert. Noch Wochen, nachdem die Dreistigkeit der behördlichen Lügen nachgewiesen war, mußte teilweise auch auf Veranstaltungen der antifaschistischen Szene quasi den „eigenen Leuten” Safwans Unschuld nachgewiesen werden. Das Lübecker Bündnis gegen Rassismus, das noch am 18. Januar selber die politischen Konsequenzen (Dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen, Bleiberecht, Asylpraxis, Umgang mit faschistischen Organisationen, Rassismus von Staat und etablierten Parteien) angemahnt hatte, fand sich unter starken Druck gesetzt. Dem Zwang, schnell öffentlich zu reagieren, stand eine Situation gegenüber, die geprägt von Gerüchten, Spekulationen und sehr unterschiedlichen Interpretationen war. Eine Frage war, ob auch an den Tatverdacht gegen einen Flüchtling parteilich herangegangen werden muß. Das Bündnis wollte nicht per se ausschließen, das jemand unter den Bedingungen, die die Asylpraxis Flüchtlingen aufzwingt, zu Kurzschlußreaktionen getrieben werden kann. In den ersten Tagen nach Safwans Verhaftung hat sich das Bündnis folgerichtig darauf beschränkt, die Darstellungen der Flüchtlinge und die Zweifel an den staatsanwaltlichen Ermittlungen zu publizieren. Parallel dazu stand es für uns außer Frage, daß die dezentrale Unterbringung und das Bleiberecht für die Überlebenden unabhängig von Brandursache und Täter steht. Denn der staatliche Rassismus ist auf jeden Fall einer der Hauptfaktoren für die Brandkatastrophe. Die Situation machte es auch erforderlich, daß eine eigenständige Recherche begonnen wurde, deren Durchführung wir zuerst für unmöglich erachteten. Durch Zusammenarbeit mit anderen antirassistischen Gruppen und auch JournalistInnen ergab sie jedoch wichtige Erkenntnisse.

Anti-Konstruktiv
Noch bevor wir uns vollends von Safwans Unschuld überzeugt hatten, forderten wir schon seine Freilassung und prangerten die einseitigen Ermittlungen an. Der Tatverdacht gegen die Grevesmühlener war zu jedem Zeitpunkt stärker, als jemals gegen den jungen Libanesen. Wir haben später als andere Gruppen die Einstellung der Ermittlungen gegen ihn gefordert - hatten aber dann eindeutige Fakten als Grundlage. An der Politik des Bündnis haben sich vor allem „antinationale” Gruppen gerieben. Café Morgenland leistete sich wütende Polemiken, die das Bündnis sogar in die Nähe faschistischer Parteien rückte (die Bezeichnung „Lübecker Bündnis für Volk und Heimat”). Anlaß war eine geplante Demonstration in Grevesmühlen, zu der das Bündnis bewußt nicht aufrief - und dies öffentlich. Mit dem fanatischen Anspruch auf den alleinigen Besitz der Wahrheit und einer sektiererischen Suche nach der politischen Isolation kommentierten diese Gruppen die Ereignisse nach dem Brandanschlag. Doch der Eifer hielt noch nicht einmal bis zum Beginn des Prozesses gegen Safwan (im September 96) an. Die Beeinflussung der Verhandlung schmeckte wohl zu sehr nach Akzeptanz der bürgerlichen Justiz, und nach Druck auf eine Gesellschaft, deren Veränderung sie längst aufgegeben haben.

IUK nimmt Arbeit auf
Auch die Gründung der Internationalen Unabhängigen Kommission (IUK) aus namhaften europäischen Persönlichkeiten (darunter z.B. Beate Klarsfeld) lief an der antifaschistischen Bewegung fast vorbei. Um die Etablierung der IUK hatte sich besonders Gabriele Heinecke bemüht, noch bevor sie Safwans Verteidigerin wurde und den Lübecker Anwalt Hans-Jürgen Wolter ablöste, der allzu zahm mit den Konstruktionen gegen seinen Mandanten umgegangen und zur notwendigen Öffentlichkeitsarbeit gegen die Willkür der Staatsanwälte nicht der Lage war. Später wurde der IUK vorgeworfen, sie sei von Gabriele Heinecke instrumentalisiert worden. Der zeitliche Ablauf ihrer Gründung und Frau Heineckes Rolle dabei wurde bewußt übersehen - der Nichtbeachtung seiner Rechte als Beschuldigter mußte folgerichtig die Diffamierung seiner AnwältInnen folgen. Eine Strategie, die bis zum staatsanwaltschaftlichen Plädoyer beibehalten wurde. Die IUK traf sich zweimal in Lübeck, zum Prozeß schickte sie zudem BeobachterInnen. Nach der gründlichen Sichtung der Akten folgten mehrere Zwischenberichte und Empfehlungen (siehe Infokasten). Die Empfehlungen entsprachen im wesentlichen den Forderungen von antirassistischen Gruppen, allerdings waren sie wesentlich zahmer, moderater ausgedrückt. Die enge Zusammenarbeit mit der antifaschistischen Bewegung suchte die IUK bisher nicht. Und über längere Phasen hinweg ließ sie auch wenig bis nichts von sich hören, wobei wir allerdings auch die finanziellen (Reisekosten, Unterkunft) und organisatorischen (Übersetzungen in vier Sprachen) Hindernisse berücksichtigen müssen. Die von uns gewünschten Funktionen der IUK - ein verstärkter Druck durch internationale Beobachtung, die größere Öffentlichkeit durch das Urteil seriöser Persönlichkeiten und dadurch ein tatsächliches Wahrnehmen des bedeutsamen Lübecker Justizskandales - konnten nicht bewirkt werden.

Nicht nur einseitig, sondern rassistisch
Während sich die IUK konstituierte, und ein Großteil der Medien Safwan schon so gut wie verurteilt hatte, verlor die Lübecker Staatsanwaltschaft jegliche Souveränität und ging auf den verbliebenen Widerstand los. In Hamburg ließ man 1 (in Worten ein!) Flugblatt der Antinationalen beschlagnahmen, beim Lübecker Bündnis gegen Rassismus wurden dann gleich etliche Plakate und Flugblätter, besonders aber zwei Computer beschlagnahmt. Anlaß war ein Plakat, auf dem StA Böckenhauer vor das Brandhaus montiert war, Grund war der Vorwurf, rassistisch ermittelt zu haben. Nun ist es nichts neues, daß der Staat vorgibt, er sähe auf dem rechten Auge nicht, auch eine entsprechende Justiz (mensch denke nur an das Mannheimer Skandalurteil „gegen” NPD-Deckert) kann kaum mehr überraschen. Doch in diesem Buch haben Schultz, Böckenhauer, Bieler und die Beamten der Sonderkommission ein neues Kapitel geschrieben. Zusammen mit der öffentlichen Reaktion darauf, erreicht dieses Justizstück eine neue Qualität. Eine Auswahl aus der Liste der Maßnahmen und „Pannen”:

  • Mit dem Lauschangriff auf Safwans Zelle während der Untersuchungshaft wurde gegen das Grundgesetz verstoßen - dies bestätigte sogar die Große Strafkammer
  • Die Spanplatte aus dem 1.OG, auf der laut LKA das Feuer angeblich ausgebrochen sein soll -der Tatort also- wird auf dem Müll entsorgt, und natürlich will kein/e BeamtIn verantwortlich sein
  • Flüchtlinge (auch Minderjährige) wurden ohne DolmetscherIn und Rechtsbelehrung vernommen, dabei auch von Polizeibeamten mit Abschiebung bedroht, „wenn sie nicht die Wahrheit sagen”
  • die Aussagen der Flüchtlinge zum Verhältnis zwischen den BewohnerInnen werden pauschal als unglaubwürdig abgetan - glaubwürdig soll sein, was die Staatsanwaltschaft sich ausdenkt: tödliche Konflikte im Haus
  • Victor Attoey wird trotz seiner Verletzungen und seines Zeugenstatus nach Nigeria abgeschoben
  • Wichtige Brandspuren im Vorbau (z.B. Durchbrennungen des Fußbodens) werden „übersehen”, die Fundorte von Asservaten nicht festgehalten, Leichen vor der Dokumentation ihrer Lage abtransportiert, die Spuren am Leichenfundort von Sylvio (im Vorbau) weggeräumt
  • Der PKW Wartburg der Grevesmühlener wurde nicht kriminal-technisch untersucht, die von der Gerichtsmedizinerin Dr. Gerling asservierten und dann der Kripo übergebenen versengten Haare der Nazis verschwinden
  • ZeugInnenaussagen, daß Patynowski und Wotenow quasi den Brandanschlag gestanden haben, wurde nicht weiter nachgegangen, Wotenow und Burmeister können sogar einem Prozeß wegen Autodiebstahls fernbleiben, ohne daß dies unmittelbar Haftbefehle nach sich zieht
  • Die staatsanwaltschaftlichen Thesen zum Brandverlauf kommen nicht ohne eine eigenwillige Physik aus: Benzin muß die Fähigkeit haben, bergauf zu fließen, und Feuer soll nach unten brennen
  • Kronzeuge Leonhardt ist glaubwürdig, obwohl sich in seinen Aussagen diverse Widersprüche finden, sein „bester Freund” Hamann wehrsportähnliche Paintballspiele betreibt und sich bei der Durchsuchung seines Spindes (’89 wegen Diebstahls) Nazi-Propaganda fandt.
Das rassistische Vorgehen der Staatsanwälte zieht sich durch ihre gesamten Ermittlungen hindurch und bis in den Prozeß hinein: sie wollen unbedingt einen Hausbewohner als Brandstifter, zerren jede Absurdität herbei, verdrehen, erfinden, konstruieren. Den Grevesmühlener Nazis gegenüber gebärden sich die Staatsanwälte als Strafverteidiger, wollen selbst deren faschistische Gesinnung wegleugnen, unterlassen alles, was einen Beweis oder nur mehr Indizien hervorbringen kann. Dabei haben die Ermittler längst die Grenzen der Legalität überschritten, und müßten wegen Verdacht der Strafvereitelung und Beweisunterdrückung selbst zum Gegenstand von Ermittlungen werden. Der Umgang mit den unliebsamen HausbewohnerInnen ist entsprechend: auf der verzweifelten Suche nach einem Motiv wird im Intimleben herumgestochert, der Aufenthaltsstatus als Druckmittel benutzt. Die Lebensrealität von Flüchtlingen wird ausgeblendet, „jede Andersartigkeit zum Verdacht” (Nebenklagevertreterin Ursula Ehrhardt). Nützt auch das nichts, malen die Staatsanwälte ein Bild, daß die Flüchtlinge als zu dumm darstellt, um sich gegen die politische „Instrumentalisierung” ihrer Anwältinnen zu wehren. Am 4. Juni plädierte die Staatsanwaltschaft auf Freispruch - nachdem sie in der Plädoyersbegründung zuvor die gesamte Beweisaufnahme verdrehte und Safwan weiterhin beschuldigte, eine widerliche Verleumdung des Libanesen als prozessuales Abschiedsgeschenk von Böckenhauer. Das Plädoyer demonstrierte, um was es den Staatsanwälten seit dem 20. Januar ging. Nicht um das Urteil, sondern um die öffentliche Verarbeitung von Ermittlungen und Prozeß, die die Täter-Opfer-Umkehr mit sich brachten. Parallelen zur mittelalterlichen Inquisition sind unübersehbar. Und wie auch dabei, wollten schaulustiges (Medien-)Volk und Ankläger, daß Safwan gefälligst seine Unschuld beweise. Das Prinzip bürgerlich-demokraticher Justiz, ihm die Schuld nachweisen zu müssen, wurde bereitwillig auf dem Altar der deutschen Reinwaschung geopfert.

Das Urteil
Am 30. Juni kam dann der erwartete Freispruch. Auch dem Antrag der Verteidigung, Safwan Eid eine Haftentschädigung zu gewähren, da er nicht für die Anklage verantwortlich sei, wurde entsprochen. Die Begründung des Urteils war mit Spannung erwartet worden, nachdem Richter Rolf Wilcken bereits im April erklärte, daß er selbst unter dem Grundsatz „Im Zweifel gegen den Angeklagten“ „nichts belastendes sehe“. Doch den Mut, juristisch mit der Anklage abzurechnen, brachte das Gericht nicht auf: in einer scheinbaren Objektivität verteilte das Gericht Kritik an alle Beteiligten. Zwar gingen die schärfsten Worte an die Adresse der Staatsanwaltschaft, allerdings nicht in dem Maße, wie sie es verdient hätte. Die Formulierung, „die Ermittlungen haben das Maß erforderlicher Gründlichkeit nicht immer erreicht“ war wohl die harmloseste Erklärung, die das Gericht zum Verschwinden von Beweismitteln überhaupt finden konnte. Deutlicher bezog sich die Kammer auf die Abhörprotokolle und die öffentlichen Spekulationen Böckenhauers zu einer möglichen Revision: als „ungewöhnlich“ wurde die Medienpolitik des Staatsanwaltes bezeichnet, und: die Abhörprotokolle waren definitiv unzulässig, und belastendes gegen Safwan hätten sie zudem sowieso nicht hergegeben. Auch das Plädoyer der Ankläger erhielt Schelte, als Wilcken meinte, das es nicht angehe, nur einige Zeuginnen und Zeugen zu werten, andere aber, wie auch den Tod Sylvio Amoussous und den Brand im Vorbau vollkommen zu negieren.

Politisierung

Scharfe Kritik äußerte die Kammer an der "Politisierung des Verfahrens", die schon angesichts der Opfer überflüssig und unpassend gewesen sei. Wilcken ging dabei auch auf „Gruppen, die ohne die Beweisaufnahme abzuwarten, den Freispruch des Angeklagten durchsetzen wollten, Gruppen, die ihren selbstgewählten Namen nicht verdienen.“ Diese Sätze mußten den Staatsanwälten gut gefallen. Die Kammer ignoriert, daß in einem Land, in dem es täglich zu rassistischer Gewalt kommt, ein brennendes Flüchtlingsheim bereits einen politischen Charakter hat. Und erst recht war die Täter-Opfer-Umkehr ein politischer Akt - gerade wegen der Opfer war die politische Arbeit notwendig. Das Verhalten der Kammer selbst demonstriert, wie unzureichend eine rein juristische Ab-arbeitung des Brandanschlages ist. Im Übrigen sieht das Gericht zwei primäre Brandherde, sowohl an der vom LKA bezeichneten Stelle im 1.OG, als auch im Vorbau. Es nimmt eine Schwelbrandphase im 1.OG, sieht aber eine zeitliche Einordnung auch der Brandlegung für ungeklärt an. Den Zeugen Leonhardt erklärt auch das Gericht für glaubwürdig, sieht keine Verstrickungen in rechtsextreme Aktivitäten, erkennt aber wenigstens, daß seine Aussagen absolut nicht zum angenommenen Brandgeschehen passen. Daß die ehemaligen Bewohn-erInnen sich von Wilcken sagen lassen mußten, sie hätten ihre Aussagen „nachträglich zumindest gefärbt“, daß Safwans Verhalten nach der Rettung vom Dach als „auffällig“ bezeichnet wurde, hinterläßt einen schlechten Nachgeschmack. Safwan wirkliche Gerechtigkeit angedeihen zu lassen war die deutsche Justiz bislang nicht fähig. Eine Verfolgung der wirklichen Tatverdächtigen ist nicht abzusehen, auf den „Komplex Grevesmühlen“ ging Richter Wilcken nicht ein einziges Mal ein. Wenigstens fiel die Bemerkung, daß ein Freispruch aus Mangel an Beweisen ein normales Vorgehen ist, später ergänzte RAin Klawitter, daß bereits 1968 die Unterteilung von Freisprüchen abgeschafft wurde. Freispruch heißt unschuldig - das mag juristisch so sein, für die Öffentlichkeit ist es anders: entsprechend sah die Presse am Tag danach aus, ja, man konnte Safwan die Tat nicht nachweisen, aber... Für viele JournalistInnen wird der Brandanschlag Hafenstraße kein Thema mehr sein. So sind alle entscheidenden Fragen auch nach dem Freispruch ungeklärt: bleiben die Tatverdächtigen aus Grevesmühlen weiterhin unbehelligt? Ist die Vertuschung des rassistischen Brandanschlages für Böckenhauers politische und behördliche Vorgesetzte wichtiger, als die Malereine vom demokratischen Rechtsstaat? Oder ist vielmehr die Ignoranz der eigenen Gesetze zunehmend erwünscht? Die antifaschistische Bewegung wird jedenfalls dadurch erneut gezwungen, ihr Hauptaugenmerk auf die Verteidigung bürgerlich-demokratischer Grundsätze zu richten und hat nur beiläufig die Möglichkeit, mit eigenen, linken Positionen vorzutreten. Denn nur den Staat als rassistisch anzuprangern, reicht nicht, seine Entwicklung hin zur Willkür muß auch gestoppt werden. Den bisherigen politischen Erfolg der Staatsanwälte zu kippen, die tatsächlichen Täter und ihre juristischen Komplizen zur Verantwortung zu ziehen ist eine anspruchsvolle, aber notwendige Aufgabe.
HPW

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