Interview  
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St. Jürgen: Kette faschistischer Gewalt

Juni ‘96: Feuer im StudentInnen-Wohnheim der Fachhochschule Lübeck. Ein Student stirbt. Die Namen aller nicht deutschen StudentInnen an den Klingeln der Eingangstür sind durchgestrichen. Als Hakenkreuzschmierereien entdeckt wurden, versuchte die Polizei den Vorfall zu vertuschen. Die Öffentlichkeit wurde mit dem Hinweis auf einen technischen Defekts ruhig gestellt.

2. August ‘96: Ein junges Paar vereitelt einen Brandanschlag auf das türkische Lokal „Marmara“. Die Gaststätte liegt im Erdgeschoß eines StudentInnen-Wohnheimes, in dem 55 Menschen schlafen. Die Polizei findet auf dem Parkplatz zwei Molotov-Coctails; auf die Fenster des Lokals und mehrere Autos wurden mehrere schwarze Hakenkreuze gesprüht.

16. Januar ‘97: Unbekannte malen drei 20 Zentimeter große Hakenkreuze an das Haus von Bischof Karl Ludwig Kohlwage, außerdem erhält er einen Drohanruf: wer für Schwarze einstehe, dem stecke man das Haus über dem Kopf an, sagt eine Stimme.

17. Januar ‘97: Ein Jahr ist seit dem Anschlag auf das Flüchtlingswohnheim in der Hafenstraße vergangen. Am Abend ist ein Gedenkgottesdienst in der St. Jürgenkapelle an der Ratzeburger Allee vorgesehen. Am Morgen zuvor werden an der Kirchenwand fünf mit mattweiser Farbe aufgesprühte Hakenkreuze und faschistische Parolen entdeckt. Noch vor Beginn des Gottesdienstes werden sie entfernt.

26. Februar ‘97: Eine Gartenlaube auf dem Grundstück des Bischofs Kohlwage wird angezündet. Am Wintergarten hinterlassen die Täter Hakenkreuze, gesprüht mit weißer Lackfarbe. Wie schon im Januar sind die Kreuze spiegelverkehrt.

25. Mai ‘97: Brandanschlag auf die St. Vicelinkirche. Die Täter hinterlassen fünf mit weißer Farbe gesprühte Hakenkreuze und den Namen eines evangelischen Pastors an der Kirchenwand. Sie setzen einen angrenzenden Holzschuppen in Brand, von dem aus das Feuer später auf die Kirche übergreift.


Interview mit Pastor Harig

Welche Kriterien muß ein Asylbewerber erfüllen, damit ihm Kirchenasyl gewährt wird?

Kirchenasyl hat folgende Voraussetzungen,erstens müssen alle rechtsstaatlichen formalen Schritte, die überhaupt möglich sind, gelaufen sein. Solange es noch irgendeinen staatlichen Verfahrensweg gibt, solange besteht noch Hoffnung und solange gibt es kein Kirchenasyl. Erst wenn das Verfahren gelaufen ist, kann der Fall also überhaupt eintreten. Und er kann auch erst dann eintreten, wenn man beim Prüfen dieses Falles zu der Einschätzung kommt, daß anzunehmen ist, daß dem Asylbewerber, der abgeschoben werden soll, Gefahr an Leib und Leben droht, eine Foltersituation zu befürchten ist oder eine nach unserem Rechtsempfinden unverhältnismäßige Bestrafung zu erwarten ist. Auf diese drei Fälle grenzt es sich ein.

Können wirtschaftliche Gründe eine Rolle spielen?

Nein, es geht um ein politisches Asyl im strengen Sinn. Es geht nicht um einen Fall von Sozialhilfe - eindeutig nicht.

Pastor HarigWie stehen sie zur Parole: „Bleiberecht für alle!“ ?

Die halte ich für naiv. Beim Kirchenasyl geht es nicht um die Parole: „Bleiberecht für alle!“. Es geht um den Schutz von Leuten, die unmittelbar gefährdet sind, an Leib und Leben. Es geht um Situationen, in denen die Menschenrechte komplett und ganz und gar auf dem Spiel stehen.

Am 25.Mai wurde die katholische St.Vicelin - Kirche bei einem Brandanschlag vollständig zerstört. Ihr Name neben fünf Hakenkreuzen auf die Kirchenmauer gesprüht. Welches Ziel verfolgten die Brandstifter Ihrer Meinung nach mit dem Anschlag?

Ich nehme nach wie vor an, daß die Brandstiftung durch einen Zeitungsartikel ausgelöst worden ist, in dem auch mein Name genannt war. Ich habe das Kirchenasyl öffentlich für den Kirchenvorstand vertreten, da ich im Moment Vorsitzender dieses Gremiums bin. Was die Brandstifter bezweckt haben, das weiß ich natürlich auch nicht, weil ich nicht mit ihnen geredet habe. Ich nehme schon an, daß eine Menge an der Überschrift der „Lübecker Nachrichten“ dran ist: „Aus Frust!“. Es kommt darauf an, den Frust zu verstehen. Da sind Leute frustriert und haben etwas getan, was sie sicher so nicht überblickt haben.

Haben politische Motive Ihres Erachtens einen Rolle gespielt?

Ich kann und will das natürlich nicht ausschließen. Aber ich bin ja auch im Zustand der Vermutung. Die Polizei, hoffe ich, weiß das, und es wird dann hoffentlich auch öffentlich werden, warum sie es getan haben und ob Politik eine Rolle gespielt hat.

Wie gehen sie mit der Kritik aus konservativen Kreisen, insbesondere mit der des Lübecker CDU - Kreisvorsitzenden und schleswig - holsteinischen Landtagsabgeordneten Thorsten Geißler um, der im Bezug auf das Kirchenasyl von Rechtsbruch spricht?

Die Diskussion darüber hat angefangen. An unserer Entscheidung haben wir keinen Anlaß, etwas zu ändern. Da hat es auch keine Unsicherheit gegeben. Das Gespräch mit denen, die dagegen sind, hat angefangen. Es ist auch schon die Frage gestellt worden, ob nicht zum Beispiel die Äußerung von Herrn Geißler und Frau Pohl-Laukamp, daß wir nichts wüßten, daß es falsch sei und daß die Kirche kein rechtsfreier Raum sei, nicht auf diesen oder jenen in seiner Gegnerschaft bestätigend gewirkt hat. Aber darüber ist zu diskutieren.

Wie sieht die Diskussion innerhalb der Kirche nach dem Brandanschlag zu den Themen Kirchenasyl und Neofaschismus aus?

Es gibt einen sehr starken Zusammenhalt der Kirche in der Unterstützung unserer Entscheidung. Ich habe noch nie den Rücken so freigehabt, zur Kirche hin, wie bei dieser Aktion. Die ökumenische Verbindung hat noch einen Schub bekommen. Dadurch, daß wir was entschieden haben und die anderen eine sehr böse Folge davon getragen haben, ist so eine Art Verbundenheit hergestellt worden. Diese ist schon irgendwie neu und wir erleben sie auch sehr bewußt, das kann man eigentlich für beide Seiten sagen. Wir haben jetzt die Aufgabe, auf das zu reagieren, was da ausgelöst worden ist. Da sind wir in der Verantwortung und hoffen, daß wir mit vielen zusammenarbeiten können, die das genauso erleben wie wir.

Was fordern Sie von Stadt, Staat und Gesellschaft?

Ich wünsche mir schon und das kann ich auch für den ganzen Kirchenvorstand sagen, daß es so etwas wie einen Kurswechsel gibt in Sachen Umgang mit Fremdem und Fremden. Ich erwarte nicht, daß das in drei Tagen geschieht. Das ist ein komplizierter Prozeß, der sich über eine ganze Zeit hinstrecken wird. Einzelne Elemente dieses Kurswechsels sind ja auch bekannt, das sind Forderungen, die schon lange auf dem Tisch liegen, z.B. die Änderung des Staatsbürgergesetzes. Außerdem brauchen wir ein Einwanderungsgesetz. Das ist die einzig vernünftige Form mit denen umzugehen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen - was ja nicht übel zu nehmen ist, wie ich finde. Nur darüber kann geregelt werden, wieviel geht und wieviel nicht geht.

Am Montag nach dem Brandanschlag organisierte die Gruppe „Basta - Linke Jugend“ eine Demonstration, an der ca.350 SchülerInnen teilnahmen. Sie trug das Motto: „Kein Vergeben, kein Vergessen“ - Den Rechten Terror bekämpfen!“. Wie stehen Sie zu dem Motto?

Mir ist die Aktion erst kurz vorher bekannt geworden. Als ich dann rüberging, kam ich schon zu spät. Ich hätte die SchülerInnen gern alle in die Kirche eingeladen, um mit ihnen dann über das Motto zu reden. Ich halte das Motto nicht für der Weisheit letzter Schluß. Man kann sehr wohl vergeben und man muß sehr wohl vergeben können, was aber nicht heißt, daß man sich aus der Verantwortung stiehlt oder andere aus der Verantwortung entläßt.

Welche Probleme, glauben Sie, kommen noch auf die Gemeinde in Bezug auf das Kirchenasyl zu? Brauchen Sie noch Hilfe und Unterstützung?

Ja! Wir brauchen auf jeden Fall noch eine Menge Hilfe und Unterstützung. Wir werden sie brauchen. Im Moment haben wir alles, aber das wird nicht immer so bleiben. Wir werden ganz bestimmt noch - auch öffentlich - um Hilfe bitten bzw. auf die ganzen Hilfsangebote zurückkommen, welche wir bekommen haben. Wir brauchen immer Zeit von einzelnen Menschen zur Betreuung der Familie und Geld, um sie zu versorgen, daß liegt ja komplett bei uns. Das Entscheidende ist nicht, was in den ersten vier Wochen passiert, sondern was nach einem Jahr, nach anderthalb Jahren oder wenn es schlimm kommt nach zwei Jahren passiert - das ist der eigentliche Punkt. Ein Kirchenasyl dauert im Regelfall ja sehr lange.
SBW

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