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Autonomia
Unter dem Titel "Autonomia" entwickelte sich ab den späten 60er Jahren eine Praxis der StudentInnenrevolte und Betriebs- sowie Stadtteilarbeit, die auf den Erfahrungen der Klassenkämpfe ungelernter ArbeiterInnen aus dem Süden des Landes in den Industriestädten Norditaliens und paralleler Jugendrevolten aufbaute. Bereits 1962 war es zu tagelangen militanten Auseinandersetzungen in den Turiner FIAT-Werken gekommen, bei denen es nicht im Sinne der traditionellen ArbeiterInnenorganisationen um die bestmögliche Teilnahme an der kapitalistischen Entwicklung ging, sondern um deren Negation. Der orthodoxe Marxismus der italienischen KommunistInnen und SozialistInnen wurde von der neuen Strömung des "Operaismus" vom Sockel gestoßen. Innerbetriebliche Sabotage und Krankfeiern erfreuten sich so großer Beliebtheit wie sie die traditionellen GewerkschafterInnen vor den Kopf stießen. Unter federführender Beteiligung von (Basis-)Gruppen wie "Lotta Continua" und "Potere Operaio" kam es 1969 zu einem landesweiten Generalstreik und einer Demonstration von 600.000 MetallarbeiterInnen in Turin. Die italienische Industrie antwortete mit Dezentralisierung der Produktion und Umstrukturierungen. Zahlreiche Kleinstfabriken entstanden, und Heimarbeit erschwerte die Organisierung der Basis. Der Begriff des "marginalen Proletariats" versuchte die verarmenden Schichten auch der ArbeiterstudentInnen zu erfassen, der "Operaio sociale", der "gesellschaftliche Arbeiter" sollte den Kampf aus den Produktionsstätten in die Gesellschaft tragen.
1977 formte sich eine zweite Strömung der Bewegung. Sie verstand sich als antiinstitutionell bis antikommunistisch - was die Politik der KPI betraf. Diese vor allem von Jüngeren getragene "Autonomia creativa" focht ihre Kämpfe an den Plätzen ihres Lebens. Im Dezember 1976 stürmten mehrere tausend Jugendliche die Mailänder Scala und plünderten die Luxusgeschäfte der Innenstadt. All das war aber noch nichts gegen die Ereignisse des Jahres 1977. Von Universitäten ausgehend entbrannte ein Kampf, in dem Faschisten und Polizei bald mit Schusswaffen gegen die Bewegung vorgingen. Bei einer Demonstration in Rom machten dann erstmals auch DemonstrantInnen Gebrauch von Schusswaffen. Bei einem Polizeieinsatz auf dem Campus der Uni Bologna wurde am 11. März ein Autonomer erchossen. Tags darauf kam es in Rom zu einer Demonstration von 50.000 gegen die Verurteilung eines Anarchisten. Die Demonstration eskalierte in eine der größten Straßenschlachten, die die Stadt jemals erlebte. Auch dabei kam es zu Schusswaffeneinsatz auf beiden Seiten und einer Repression im Nachhinein, auf die die Bewegung nicht gefasst war. Zwei Monate später wurde im Rahmen einer Demonstration in Mailand ein Polizist erschossen. Entsolidarisierung setzte ein, massive staatliche Repression zerschlug die Bewegung. Bis zum Sommer 1977 wurden 300 Autonome verhaftet, Radios, Zeitschriften und Buchläden der Bewegung zerstört. Am 7. April 1979 erfolgte der finale Schlag gegen die ehemals radikale, bunte und widersprüchliche Bewegung.
aus TATblatt Nr. +175 vom 12. Oktober 2001
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